Читать книгу Rolling Stones. 100 Seiten - Ernst Hofacker - Страница 7
Sündenfall
ОглавлениеDie Startphase der Rolling Stones verrät viel über die damalige Szene: Zunächst einmal schöpft Brian Jones das Personal für seine Band aus einem embryonal kleinen Netzwerk, das Korner behutsam, engagiert und mit großen kommunikativen Fähigkeiten aufpäppelt. Man trifft sich in den immer gleichen drei, vier Clubs, die als Anlaufstellen für die wachsende Zahl von Bluesfans wie auch für die vielleicht zwei, drei Dutzend junger Musiker dienen, die diese Klänge auf die Bühne bringen wollen.
All das geschieht vor popmusikalisch trostlosen Kulissen. Die Stones und mit ihnen die paar jungen Männer, die um die Jahreswende 1962/63 ernsthaft nach einer eigenen Lesart des amerikanischen Blues, Rock ’n’ Roll und Rhythm ’n’ Blues suchen und so die Grundlagen für die moderne Rockmusik legen werden, stehen allein auf weiter Flur. Auf den Bühnen der Stadt dominiert der alte New Orleans Jazz, der seine besten Zeiten ein halbes Jahrhundert zuvor erlebt hat. Pop, Rock ’n’ Roll, R ’n’ B und ähnlichen »Lärm« aber hält man in den Kreisen der etablierten Musiker für minderwertig.
Eine leise Ahnung davon, was zu jener Zeit im Radio zu hören ist, vermittelt ein Blick in die damaligen Singlecharts. In England tummeln sich dort zum Beispiel in der Woche des 21. Februar 1963 sentimentale Cowboyballaden, Teenpop aus der Massenfertigung des New Yorker Brill Buildings und zickiger Dixieland. Der einzige und in seiner Wirkung nicht zu überschätzende Lichtblick der Top Ten dieser Woche sind die blutjungen Beatles, die mit ihrer zweiten Single »Please Please Me« auf Platz zwei klettern und damit ihre bis dahin höchste Platzierung erreichen.
Die Stones indes interessieren sich weder für Pop noch für die Charts. Sie haben ihre eigene Mission, befinden sich gleichsam auf einem Kreuzzug und haben zunächst einmal genug damit zu tun, in Londons Clubszene überhaupt Gehör zu finden. Brian Jones berichtete einmal von den typischen Gesprächen, die er mit Jagger und Richards in jenem Winter führte: »Mick sagte, dass wir wirklich das durchziehen sollten, woran wir glaubten. Wir waren regelrecht besessen von dem Gedanken, R ’n’ B in die breite Öffentlichkeit zu bringen. Wir wollten, dass unsere Idole vom Rest der Welt ebenfalls verehrt werden. Wenn wir das Geld gehabt hätten, ein großes Banner zu kaufen und es durch die Straßen zu tragen, wir hätten es gemacht!« Und die Stones wissen, dass die Zeit für sie arbeiten wird. Noch einmal Brian Jones: »Wir begannen zu spüren, dass immer mehr Leute den Traditional Jazz nicht mehr hören konnten und nach irgendetwas Neuem suchten. Wir wussten, dass wir dieses Neue waren.« Die weiteren Ereignisse sollten ihm Recht geben.
Im Februar 1963 übernehmen die Rolling Stones im Crawdaddy Club in Richmond den Job als Hausband. Am ersten Sonntag noch kommen nur wenige Dutzend Zuhörer, innerhalb des folgenden Monats aber platzt der Laden aus allen Nähten. Die Stones werden erst zum Geheimtipp und dann zum Stadtgespräch. Die Sonntage im Crawdaddy enden mit wilden Tanzritualen des jugendlichen Publikums, und der Club entwickelt sich zum Wallfahrtsort, den im April sogar die Beatles persönlich aufsuchten. Plötzlich sind die Rolling Stones ein kaum noch zu überhörendes und höchst explosives Bühnenphänomen geworden.
Jagger & Co., allen voran Brian Jones, riechen Lunte. Und es kommt zum ersten Sündenfall. Angeheuert hat die Stones im Crawdaddy Giorgio Gomelsky, ein aus Georgien stammender Kosmopolit, Entrepreneur, Filmemacher und Nebenbei-Impresario, der sich für die junge R ’n’ B-Szene der Stadt interessiert und die Bühnenqualitäten der Stones wohl als Erster entdeckt hat. Bald schon fungiert er auch als inoffizieller Bandmanager. Bis zum 28. April. An diesem Abend taucht im Station Hotel ein blondes Großmaul auf, das sich den Stones nach dem Gig als Manager andient. Begleitet wird der 19-jährige Andrew Loog Oldham von einem älteren Herrn, der sich als Eric Easton und erfahrener Booking Agent der Londoner Showszene vorstellt. Oldham spuckt große Töne, prahlt damit, dass er in Brian Epsteins Beatles-Management gearbeitet hat, und verspricht das Blaue vom Himmel. Die Stones sind schwer beeindruckt und lassen Gomelsky, der an diesem Wochenende in der Schweiz weilt, um dort seinen Vater zu Grabe zu tragen, ohne weitere Bedenken fallen.
Und jetzt geht es rasend schnell: Kaum ist die Tinte auf dem wenige Tage später vereinbarten Managementvertrag mit Oldham und Easton getrocknet, findet die erste offizielle Fotosession statt, wird die Band vom Decca-A&R-Verantwortlichen Dick Rowe begutachtet und bekommt von dessen Firma einen Plattenvertrag unterbreitet. Rowe hat allen Grund, sich heftigst um die Stones zu bemühen, hat er doch ein Jahr zuvor die Beatles mit der legendären Begründung abgelehnt, dass »Gitarrengruppen keine Zukunft« haben.
Nebenbei kommt es in diesen Tagen zum zweiten, nun ungleich schwereren Sündenfall der Rolling Stones. Sie mustern ihren Pianisten Ian Stewart aus. Allerdings nicht ganz freiwillig: Oldham hat genaue Vorstellungen davon, wie er die junge Band ins öffentliche Poprennen schicken möchte. Auf jeden Fall teenagertauglich und nicht zu sechst, weil sich, wie er glaubt, kein Mensch so viele Bandmitglieder merken kann. Kurzerhand verfügt der neue Manager, dass Stewart, der mit seiner stämmigen Figur und seinem kantigen Fernfahrergesicht ohnehin nicht so recht in die Optik passt, ab sofort offiziell nicht mehr dazu gehört. Die Stones nehmen das Urteil hin, und auch Stewart fügt sich ohne Widerspruch – ein Vorgang, der einen tiefen Einblick in die Seele der Rolling Stones gewährt. Auch wenn sich Jagger und die Seinen zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht vorstellen können und wollen, ein Teil der Popszene zu werden, so haben sie dennoch weder Skrupel noch sonstige Bedenken, sich für ihren Erfolg den unerbittlichen Regeln des Showbusiness’ zu beugen.
Das gilt auch für Stewart: Tatsächlich wäre der Pianist nach eigenem Bekunden der Letzte gewesen, der sich selbst als Teil einer Popband gesehen hätte. Von Anfang an ist er ausschließlich darauf aus gewesen, den Blues und Boogie seiner Vorbilder Albert Ammons und Leroy Carr zu spielen, alles andere, auch eine Karriere im Showbiz, interessiert ihn nicht. Dass er trotzdem klaglos den Job des Tourmanagers übernimmt und bis zu seinem viel zu frühen Tod im Jahr 1985 als Aushilfspianist und musikalisches Bluesgewissen der Band fungiert, was diese ihm bis heute hoch anrechnet, sagt viel über das künstlerische und auch das menschliche Selbstverständnis der Rolling Stones aus: Immer wieder werden sie im Laufe der kommenden Jahrzehnte Entscheidungen treffen, die auf den ersten Blick als herzlos und undankbar erscheinen, sich letztlich aber im Sinne des großen Ganzen als richtig und unumgänglich erweisen werden. Gomelsky und Stewart sind dafür die ersten und Jahre später Brian Jones die prominentesten in einer langen Reihe von Beispielen.