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VII

Kurz vor acht waren sie auf der Dienststelle.

Lena zog sich sofort in Pauls Büro zurück und verbesserte am Bericht herum, womit sie lange gut beschäftigt war.

Als Paul seinen Ausdruck auf Karls Schreibtisch legte, fiel ihm der Ottl-Zettel ins Auge. Entsprechend der Anordnung darauf schaltete er den Computer ein, klickte die Datei an und las:

Bericht der Streife vom 1. Juni 2016 über einen nächtlichen Vorfall in der Böhmerwaldstraße Hochwiel. Streifenpolizisten Simbach Ottl und Wagner Luggi wurden um 22.42 angerufen wg. angeblicher Schusswechsel in der Straße oben Nummer 12. Bei Ankunft war Ehepaar Friedl und Alfons Schidmüller noch in Wohnung. Ehep. hatte Schuss gemeldet und gewartet und dann aufs Klingeln hin heruntergekommen. Befragung vom Ehep. ergab nichts, außer dass Ep. Schuss gehört will haben. Beide Teile von Ep. wirkten etwas verstört und älter und hören auch nicht mehr gut, vertreiben aber eine Stadtzeitung. Ein Bestechungsversuch mit dieser wurde unterbunden (Ottl und Luggi). Nachbarn Wagenknecht (von Nummer 14) waren auf Ep. nicht gut zu sprechen und leugnen Schusswechsel oder Schuss, es war ein Moped, sagen beide. Ep. Schiedsmüller wurde von Wagenknecht schwer beschimpft, weil sie dauernd in der Nachbarschaft stark stören und so gut wie nichts mehr hören. Auch weitere Nachbarn stoßen dazu. Es war ein Moped bzw. eine Fehlzündung bzw. zwei, sagen auch sie. Die Zeitschrift der Schidsmillers wird als Scheißblatt bezeichnet, daher rühren wohl die Quärehlen im Viertel, was sonst sehr friedlich ist. Deswegen auch kein Streit davor und danach nach dem Schuss bzw. Fehlzündung auf der Straße. Einsatz der Streife war überflüssig, da nichts passiert war außer Mopedfehlzündung. Ep. Schietzmüller eventl. zu belangen wg. falscher Alarm.

gez. Otto Simbach / Ludwig Wagner

Das kommt selten vor, dachte Paul, dass man schon mit Dienstbeginn ein paar fröhliche Minuten erlebt, indem man ’nen Kollegenbericht zu lesen bekommt!

Er ging auf den Flur hinaus und machte sich eben an der Kaffeemaschine zu schaffen, als Karl mit Sohn Gusti daherkam. Der setzte sich auf Papas wortlosen Wink hin brav an den kleinen runden Tisch zwischen den beiden Bürotüren.

Paul versuchte seine Verärgerung gar nicht erst zu verbergen, packte Karl grob am Arm und schob ihn in dessen Büro.

Offenbar hatte auch der Herr Kollege einen schweren Kopf, jedenfalls ließ er Pauls ausgedehnten Schimpf darüber, dass er nachts nicht erreichbar war, widerspruchslos über sich ergehen. Lena drehte sich kopfschüttelnd immer mal wieder Richtung Nachbarbüro um, weil sie durch die geöffnete Verbindungstür Wort für Wort mitbekam.

Karl, lädiert, verkatert und schuldbewusst, verlieh zwischendurch drei, vier Mal seinem Bedauern Ausdruck, dass er gestern beim Schafkopf im Tattenbach ziemlich zechte und entsprechend breit war, weshalb er später sein Handy einzuschalten vergaß, was er sonst im Zug automatisch tue. Aber wegen seines astronomischen Gewinns – achtundzwanzig Euro dreißig! –, den er gleich in ein paar SteinhägerFreirunden investiert hab’, sei er einfach total euphorisch gewesen.

»Dann können wir ja froh sein, dass du wenigstens heut’ Früh mal eingeschaltet und draufgeschaut hast: Mann!«, rief Paul, noch immer aufgebracht.

Dass er seinen herkulischen Auftritt am Tatort wortgewaltig und farbenreich ausführte, nahm Karl gleichfalls klaglos hin.

Das Telefon klingelte.

Karl riss es hoch. Mit flattrigen Fingern nahm er den Hörer ab: Alfred war’s, er solle ihm den Paul geben.

Der bekam einiges zu hören: Sie hätten doch vereinbart, dass der unvermeidliche Flocki so lange wie möglich aus der Sache rauszuhalten sei! »Und dann steht das Zeitungszwergerl vor zwanzig Minuten mitten im abgesperrten Bereich unter der Haustür und macht jede Menge Fotos!«

Tatsächlich besaß der Lokalredakteur des Pfaffenwinkler Boten die unselige Eigenschaft, stets dort aufzukreuzen, wo er nichts zu suchen hatte und am meisten im Weg war. Seine Artikel hinwieder hatten ihn längst zur stadtbekannten Lachnummer werden lassen.

Paul, der sich nichts vorzuwerfen hatte, wurde seinerseits laut und fragte, ob er, der Alfred, die drei jungen Leute, wie’s ermittlungstaktisch unerlässlich sei, einbehalten habe.

Jetzt wurde Alfred kleinlaut und murmelte, sie hätten die doch nicht aufhalten können, wie denn? Die Mädels seien um sieben zu ihren Eltern nach Hause gegangen, sagten sie zumindest, und den Fritz hätten eine halbe Stunde später die Mami und der Papi abgeholt oder besser: rausgetragen, und das hätten sie von der Spurensicherung erst bemerkt, als die Eltern die Halbleiche schon ins Auto verfrachteten, »die Affen scheren sich doch heutzutag’ um Absperrband und Siegel keinen Dreck mehr!«

»Also!« Paul wurde heftig. »Dann ist ja wohl klar, dass die zwei Lesbenmädls zunächst die Eltern vom besoffenen Fritz benachrichtigt haben. Und die Redaktion vom Boten wahrscheinlich gleich mit. Oder es war sonst jemand, der sich für den Tipp ein paar Euro ausgerechnet hat. Sakra!, ihr pennt vor euch hin, merkt nicht, was um euch rum vorgeht, und dann schiebt ihr andern den Dreck in die Schuh’! Geh leckt’s mich doch!«

Alfred murmelte noch, dass sie Georgs Computer mitnehmen würden, und schaltete grußlos aus.

Kaum hatte Paul aufgelegt, verspürte er einen ersten Schub bleischwerer Müdigkeit.

Wieder läutete es.

Er überließ Karl das Feld und ging nach nebenan zu Lena, die ihm durch die Glastür winkte: Sie schien fertig zu sein.

Am andern Ende der Leitung war Frau Binswanger, die Sekretärin. Sie hatte den allen nicht unbekannten zittrig-devoten Ton in der Stimme, dem anzuhören war, dass was Höherrangiges den hiesigen Dienststellenleiter zu sprechen wünsche: Rosenheim! Der Herr Kriminalrat Beyschlag! Wegen der Sache heut’ Nacht!

Schlagartig wich aus Karl alle Restmüdigkeit und Katerstimmung, und lebhaft bat er durchzustellen.

Beim Stichwort Rosenheim hatte sich vor seinem Auge sofort ein ganzer Fächer bunter bewegter Bilder aufgetan: In aller Schärfe der Einbildung sah er vor sich die Dienststelle der Rosenheim Cops und sich selbst schon in einer Reihe mit den dortigen Ermittlern. Und beinahe hätte er den Kriminalrat Beyschlag, als der sich meldete, mit »Herr Achtziger« angesprochen: Im ersten Moment war er vollkommen überzeugt, es sei dessen Stimme, die ihm vom dienstäglichen Vorabendprogramm her so vertraut war.

Was er zu hören bekam, verursachte ihm kurzzeitiges Herzrasen – ein Grund, warum er das folgende Gespräch nur mit einem gelegentlichen »Aha!« und »Jaja!« bereichern konnte.

Es war in zweifacher Hinsicht aber auch gar zu abenteuerlich, was er erfuhr: Kriminalrat Beyschlag überfiel ihn, nachdem er ausführlich geschnieft hatte, als Erstes mit dem Hinweis, dass er, Karl Harlander, die Leitung der Ermittlungen im Mordfall Schöderlein übernehmen müsse, wegen absoluten Personalnotstands. Die letzten verfügbaren Leute seien seit heut’ Früh im Einsatz, wegen einer Sache – der Kriminalrat konnte, bei aller Förmlichkeit seiner Rede, nicht anders, als krachend aufzulachen – »also wegen einer Sache, die glaubt man kaum! Hören S’ zu!«

Dem Befehl versuchte Karl dienstfertig zu gehorchen, glitt aber während der langen Erzählung, so sehr er sich auf sie zu konzentrieren versuchte, in Gedanken immer wieder ab: Da paradierte vor seinem geistigen Auge eine ganze Kompanie von Fernsehkommissaren, männlich wie weiblich, auf breiter Bühne vorbei, von Wallander über van Veeteren und Dupin bis zu Bella Block und der Chefin. Auch nach dem Telefonat konnte er lange nicht fassen, dass er sich von hier und heute an in dieser illustren Reihe befinden sollte, beschäftigt mit einem echten Mordfall, auch wenn er im Augenblick noch keinerlei Vorstellung vom Hergang der Tat hatte, ja im Gegensatz zu Paul nicht einmal vom Tatort.

Was Kriminalrat Beyschlag zur Begründung des Personalnotstands ausführte, war indes zu kurios:

»Man glaubt’s ja nicht, was es für Pappnasen gibt!« Wieder schniefte er hörbar und hüstelte.

»Müssen S’ sich vorstellen, Kollege Harlander: Fährt heut’ Früh um sechse beim Wiggerl in Pfuhl, bei Ihnen da um die Ecke, also beim Bayern-Spieler, dem Maier Wiggerl – da fährt einer mit ’nem alten Opel Kadett vor, Vollbremsung, dass es staubt, springt raus aus der Karre, Fußballerhose, blauweißes Dress und auf ’m Kopf ’ne Kaiser-Wilhelm-Sturmhaube. Springt raus vorm Stall, hat ja ’nen Pferdestall, der Wiggerl, wie S’ wahrscheinlich wissen, nicht. Schreit: ›Komm raus, du rote Sau!‹, dreimal. Der Wiggerl haut endlich die Stalltür auf und will den da draußen wegen seiner saublöden Schreierei zusammenscheißen, seine Lederhosen hat er ang’habt, die Heugabel in der Hand… Müssen S’ sich immer vorstellen, nicht, Kollege Harlander! Also…«

Der Kriminalrat schnäuzte sich ungeniert direkt am Hörer und redete weiter, als wär’ nichts gewesen.

»Als der Narr den Wiggerl sieht, mit der Heugabel, schreit er, so laut er kann: »Sechzig, Sechzig, Sechzig!« und ballert auch schon los, dreimal, viermal, der Wiggerl wirft sich geistesgegenwärtig auf den Boden, mitsamt der Mistgabel. Seine Frau…«

Wieder folgte gedehntes Schniefen. Entweder, dachte Paul, ist der Herr Kriminalrat vergrippt oder er zieht sich Schmalzler in die Nase, womöglich auch Koks. Von Kommissar Marthaler bis Mathias: Alle leitenden Ermittler waren grundsätzlich schwer im Stress und entsprechend anfällig für Suff, gar nicht so selten auch für sanftere Rauschgifte.

»…die Elli, die kommt also dazu, im Dressurreiteranzug, Stiefel über der Reithosen, verstehen S’, und kreischt auf, ›ja um Gottswillen, Wiggerl! Wiggerl! Mei Wiggerl!‹, und wirft sich auf den Wiggerl drauf, weil sie meint, es hätt’ ihn erwischt, den Wiggerl, während der ander’ den Rauch von der Mündung pustet wie in ’nem schlechten Western und abhaut und dabei recht saudumm lacht. Ab mit seinem Kadett, dass es quietscht. Hat die Elli aber schon ’s Handy rausgeholt aus der Dressurreiterhosen und ruft die Hundertzehn…«

Sofort sah sich Karl zusammen mit dem mächtig dicken Polizeihauptmeisters Krause aus dem Polizeiruf 110 den Bösewicht jagen, erinnerte sich an einen Fall aus dieser Serie vor zwei Jahren, wo ein Öko-Bauer tot in der Odelgrube des Nachbarhofs gefunden wurde, und stellte sich unter Schaudern vor, wie der Wiggerl in einer solchen versank, mit geballter Faust, die als Letztes von ihm sichtbar blieb, ehe auch sie von der Jauche geschluckt wurde. Schrecklich!, entsetzte er sich, furchtbar, was da im neuen Amt alles auf ihn zukommen konnte!

»Sanka, Streife, alle natürlich gleich da, Ringfahndung, dann erst stellt sich raus, dass so gut wie nix passiert war: Hatte mit ’ner Schreckschusspistole rumgeknallt, der Volldepp, und der Wiggerl und seine Elli sind Gott sei Dank mit dem Schrecken davon’kommen…«

»Gott sei Dank!«, wiederholte Karl beflissen und war erleichtert, hatte er den Wiggerl doch schon sich in seinem Herzblut wälzen und sich selbst an der Seite von Hauptkommissar Tauber zu spät kommen gesehen.

»So ein Granatenhirni, müssen S’ sich vorstellen, Herr Kollege Harlander! Geschnappt haben’s ihn kurz hinter Pfuhl, bei Raisting. ’nen Sechzgerwimpel hatte er an den Rückspiegel gebunden, innen ’nen blauweißen Jubiläumsschal quer über die Rückscheibe gespannt: So fährt der Vollpfosten durch die Gegend, müssen S’ Ihnen vorstellen, nicht, mit ’nem Tragerl Löwenbräu aufm Beifahrersitz, das hat er schon zur Hälfte ausgesoffen gehabt, am helllichten Morgen. War die Nacht über auch auf der Nichtabstiegsfeier in Raisting gewesen und hat sich da, wie sich rausgestellt hat, schon gebrüstet und gewettet, dass er heut’ noch ’nen Roten plattmacht, der Kasperl! Holen ihn die Kollegen ausm Auto raus, schreit er wieder und grölt: ›Siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig, sechzig! sechzig! sechzig!‹, und der eine von den beiden Kollegen, man glaubt’s ja nicht!, schreit auch noch mit, ›sechzig, sechzig, sechzig!‹, während der ander’ den besoffenen Blödmann in den Dienstwagen schiebt. Fußballschuhe hat er ang’habt, über denen die blauweißen Socken rausg’schaut haben. Und sobald ihn die Kollegen was fragen, singt er ihnen was aus der Sechzgerhymne vor, ›Mein Verein für alle Zeit‹ und lauter so ’n Zeug, und so geht das, bis sie aufm Revier sind in Dießen…«

Es schniefte und rotzte am andern Ende. War das nicht in einem Dortmunder Tatort, wo Kommissar Faber gleich am Anfang herzhaft kokste? Nein, das war ein Bösewicht gewesen, der folgerichtig auch gleich erschossen wurde.

»…da grölt er dann weiter und schreit nach seinem Löwenbräu, das hab’ er schließlich gekauft und das gehör’ deswegen ihm. Die Kollegen haben ihn erst mal in Gewahrsam genommen, Personalien notiert und so weiter. Ottakringer Gregor heißt er, vielleicht sagt ihnen der Name was. Girgl mussten’s ihn nennen, sonst hat er gleich gar nichts gesagt, der Spinner. Mann o Mann! Aber, verstehen S’, Harlander: Sind halt wieder zwei Mann nicht mehr verfügbar, wieder zwei fällig! Mussten ja zunächst von ’nem Tötungsdelikt ausgehen, wenigstens versuchtes Tötungsdelikt, verstehen S’, allermindestens von Bedrohung mit ’ner Schusswaffe, nicht! Ich kann, verstehen S’, Herr Kollege, ich kann Ihnen niemand schicken von der Kripo, momentan! Ich hoffe, ihr kommt in eurem Fall da bislang alleine klar.«

»Klar!«, machte Karl sich auch mal wieder bemerkbar und dachte sofort an Winterkartoffelknödel und Dampfnudelblues, wo der Dorfpolizist die Sache immer voll im Griff hatte. »Klar kommt der Karl klar, haha! Sind ja ’n eingespieltes Dreierteam hier und haben auch schon ein paar zielführende Spuren, die wir mit aller Konsequenz verfolgen. Und ein paar Verdächtige, müssen S’ wissen, Herr Kriminalrat! Wir ermitteln in alle Richtungen.«

»Wunderbar!«

Kriminalrat Beyschlag gab sich schwer begeistert über den Satz, obwohl Karl nur zitierte, was er am Montag zum x-ten Mal bei der Soko München gehört hatte.

»Einwandfrei, wunderbar! Und Sie rühren sich, Kollege Harlander, wenn S’ was Neues haben! Ich tu’ mein Bestes, wissen S’ ja!, um Ihnen doch noch jemand zu schicken.«

»Einwandfrei!«, hörte Karl sich sagen, bedankte sich artig und merkte, kaum hatte er aufgelegt, dass ihm schwindelig wurde. Er musste sich setzen.

Im noch immer leicht verkaterten Kopf ging es schwer durcheinander: Mächtiger Stolz auf den phänomenalen Kompetenzzuwachs mischte sich mit der Sorge, ob er diese gewaltige Verantwortungslast tragen konnte.

Andererseits, dachte er, warum denn nicht? Neulich, Urbino-Krimi, ein Mord im Olivenhain: Der Poliziotto, der einfache Stadtpolizist, wird mit den Ermittlungen betraut, weil alle andern, die infrage kommen, krank sind! Und der kriegte das hin!

Da war freilich die Sache mit seinem Gusti: Wenn es stimmte, was die Lena ihm heut’ Morgen auf die Mailbox gesprochen hatte, dass der Bub irgendwie da mit drinhing – war er selbst dann nicht in höchstem Maß befangen und musste den Fall umgehend wieder abgeben? Kinder und nahe Angehörige von Ermittlern! Es überlief ihn heiß, als er daran dachte, was mit Buben und Mädels der Kommissare und Kommissarinnen so alles los war, regelmäßig! Probierten permanent Drogen aus! Waren Zeugen schwerer Verbrechen, weshalb regelmäßig von bösen Buben gnadenlose Jagd auf sie gemacht wurde! Kommissarin Lucas! Was passierte nicht deren Schwester alles! Hakan-Nesser-Krimi: Da wird der Sohn vom Kommissar mal wegen einer Drogensache einfach erschossen! Polizeiruf 110, Der Sohn der Kommissarin, das war noch länger her: Da musste die Karin Sass gegen den eigenen Sohn ermitteln, Raubüberfall! Und ihr Bub schwieg und sagte nichts, wie der Gusti meistens ja auch nichts sagt! Fürchterlich! Von den zahllosen Kripound Sonderkommissionsmitgliedern hatte so gut wie keiner halbwegs normale Kinder, die Alleinerziehenden schon gleich gar nicht! Höchstens zickige Gören und muffig-maulende, dauergrantelnde Knaben in voll ausgeprägter Pubertät, die in alles Mögliche hineingerieten! Ein solcher Knabe war im Dortmunder Tatort sogar mal zum Vatermörder geworden! Schwerelos hatte die Folge geheißen, genau! Da hatte der Bub Papas Fallschirm beschädigt, absichtlich, und der Papa war vom Himmel in den Tod gestürzt. Grauenhaft!

Wenn nun sein Gusti tatsächlich ähnliche Dinge trieb, an die er als Vater nicht im Traum dachte? Von denen er keine Ahnung hatte? Bis vor fünf Jahren, als die Mama starb, hatte er über sie alles Wichtige erfahren, über Schule, Freundeskreis, Bekannte. Aber seither? Pharmazie studierte er, der Gusti – sagte er jedenfalls. Er hatte das nie überprüft, ganz entgegen seinem kriminalistischen Instinkt. Und wochen-, ja monatelang war er schon nicht mehr in Gustis Zimmer gewesen!

»Meinen Bericht haste auf deinem Computer.« Paul kam durch die Tür geschlichen und holte den Kollegen Karl aus seinen trüben Gedanken. »Kannst ihn mal durchlesen, damit du wenigstens jetzt auf den Stand kommst, wo ich heut’ Nacht schon war!«

Da aber stand er auf, der Karl! Er warf sich, tief durchschnaufend, gehörig in die Brust und teilte im Verkünderton seinen beiden Dienstlakaien mit, worüber und mit wem er gerade konferiert habe. Konferiert sagte er, als wär’ er im Lauf des Telefonats großartig zum Zug gekommen.

»Aha!«, sagte die Lena kurz und trocken, als er mit der sehr individuell gefärbten Wiedergabe des Gesprächs fertig war.

»Dann schaff ’ mal an!«

Dazu kam er nicht mehr: Wieder klingelte es, wieder die Binswanger Loni: Eine Stegmaier Elisabeth, die hab’ was Wichtiges mitzuteilen, zum Mordfall, wolle aber unbedingt mit einer Polizistin reden.

Karl und Paul zuckten mit der Schulter.

Lena nahm kurzerhand den Hörer an sich und erfuhr, dass zwei Mädchen sie dringend sprechen wollten, wegen der Sache vergangene Nacht. Sie könnten ihre Aussage aber nur einer Frau gegenüber machen.

Sissilissi!, dachte Lena. Das konnten nur die beiden Mädchen sein, die in Pauls Bericht nicht die unbedeutendste Rolle spielten!

Auch Paul, der wieder schwer mit seiner Restmüdigkeit kämpfte, war klar, wen die Lena an der Strippe hatte. Er fragte sich nur, was Sissilissi noch wollten, wo er sie doch so gnadenlos tiefschürfend verhört hatte.

»Ich les’ mal dein Geschreibsel, dann sehen wir, ob man’s so überhaupt nach Rosenheim schicken kann«, kündigte Karl in überlegenem Ton an. Paul und Lena kicherten auf, während er sich mit bedeutendem Schwung an den Bildschirm setzte.

Pauls Rache folgte prompt: »Und ich red’ mal mit deinem Gusti, dann sehen wir, ob man dich mit deiner Befangenheit in diesem Team überhaupt weiter beschäftigen kann.«

Mit Lena, die am Kaffeeautomaten tätig werden wollte, ging er auf den Flur und ließ Karl mit einem Schwall neuer Sorgen allein: In jedem zweiten Fernsehkrimi war es so gewesen, dass der Chefermittler irgendwann für befangen erklärt wurde und ihm der Rauswurf drohte, der oft genug von bitterbösen Vorgesetzten durchgesetzt wurde. Das aber – erleichtert atmete er auf – hinderte den Betroffenen nie, weiter zu ermitteln, und erst recht nicht, den Fall zu lösen: Wallander!, dachte er, Kommissar Beck! Sogar der Batic im Münchner Tatort: Alle waren die schon mal raus gewesen! Warum sollt’ es bei ihm nicht ebenso laufen können, wenn sich Rosenheim tatsächlich entscheiden musste, den Paul mit der Teamleitung zu betrauen?

Als er sich beruhigt hatte, machte er sich an die kritische Durchsicht des Berichts, den die Lena in sprachliche Glanzform gebracht hatte, und verbesserte nur hie und da ein das in ein dass und umgekehrt, sodass am Ende – Lena hatte alle Fehler bereinigt gehabt – wieder die Hälfte falsch war. Dann schrieb er eine etwas peinliche Einleitung und schickte die Datei, »gez. Harlander Karl, PHM«, nach Rosenheim.

Das Allererste, worauf es jetzt ankommt, dachte er, ist der unbeugsame Wille, Verantwortung zu übernehmen, und zwar gerade da, wo die Pflicht beginnt unangenehm zu werden!

Und so machte er sich auf, um Georgs Eltern die Schreckensnachricht zu überbringen.

Im Flur hob er eine Grußhand Richtung Paul, der seltsamerweise nicht neben Gusti, sondern einen Tisch weiter neben einem älteren Ehepaar saß, und machte sich davon.

Er hätte, dachte er, als er im Auto saß, seinen beiden Untergebenen glasklare Anweisungen geben müssen, was in der Zeit seiner Abwesenheit zu erledigen war.

Darauf musste er fortan mit großer Sorgfalt achten.

Schiedmüllers!

Als Paul, den immer heftiger nach einem Bett verlangte, auf den Flur getreten war, um Gusti in die Mangel zu nehmen, hatten ihm Friedl und Alfons den Weg verstellt, während Lena entwischte. Sie waren einfach hereingekommen und hatten gewartet, bis jemand auftauchte, dem sie ihr Anliegen aufdrängen konnten, und Paul hatte nun das Vergnügen mit den beiden: Sie im kurzen Jeansrock, darüber ’ne Jeansweste, darunter eine pinkfarbene Bluse, er im abgetragenen Sakko und in pinkfarbenen Turnschuhen, alles zusammen genommen ein höchst gewöhnungsbedürftiger Anblick.

»Wissen S’, Herr Hauptmeister«, fing die Friedl grußlos an, »wir kommen lieber gleich selber, bevor Sie uns abholen lassen, weil wir wollen einfach wissen, was auf uns noch alles zukommt nach dem Schuss von heut’ Nacht, wo wir gemeldet haben, und …«

Paul unterbrach mit markanter Handbewegung und leichter Erheiterung in der schläfrigen Miene. Er zog, was die beiden betraf, aus dem Ottl-Bericht die richtigen Schlüsse. Dennoch fragte er höflich, aber zu leise, in welcher Angelegenheit sie hier seien.

Alfons tat sich sofort mit einem trotzigen »Jawoll!« hervor, Friedl meinte: »Ja natürlich geht uns die Angelegenheit hier was an, so eine komische Frage von Ihnen, Herr Hauptpolizist, und jetzt sollten S’…«

Paul unterbrach sie, schon etwas gröber, nochmals mit eindeutiger Geste, weil er sich missverstanden sah, und wiederholte die Frage derart laut, dass auch noch der Gusti, der rund acht Meter entfernt saß, den verschlafenen Kopf ein klein wenig hob.

Immerhin schien die Friedl jetzt deren Kern begriffen zu haben: »Ja wegen dem Schuss heut’ Nacht, wo Ihr Kollege heut’ Nacht gesagt hat, dass da noch was auf uns zukommen wird, eine Angelegenheit, hat er gesagt, und wir wollen jetzt wissen, ob wir uns einen Anwalt nehmen müssen…«

»Jawoll!« Alfons fing sich einen scharf strafenden Blick ein, weil er die Gattin unterbrochen hatte, und gleich noch einen zweiten, weil er sie falsch verstanden und in seinem Kopf einen eigenen Zusammenhang zwischen zukommen, wissen wollen und Anwalt hergestellt hatte: »Jawoll! Wir wollen wissen, welche Anwaltskosten auf uns zukommen! Wir haben vorsichtshalber schon einen angerufen, heut’ Früh, und der…«

Pauls Verwirrung über das undurchschaubare Gerede hatte sich zum Ärger ausgewachsen, und er schrie: »Erzählen S’ mir halt einfach, was heut’ Nacht los war und was Sie hier wollen! Dann kann ich Ihnen vielleicht helfen!«

Womit er eine reichlich kuriose Erzählung in Gang setzte, die, gleich, ob die Friedl dem Alfons oder der Alfons der Friedl das Wort abschnitt, den armen Paul immer noch ratloser machte und in Alfons’ Schlusswort gipfelte: »Natürlich hab’ ich den auch gehört, den Schuss, aber wir, wir haben eben nicht geschossen!«

Paul dämmerte, als er den unverkennbaren Mangel an Hörvermögen der beiden in Rechnung zog, dass Ottl und Luggi vermutlich die gängige Formulierung Wir kommen auf Sie zu verwendet hatten, die durch die vier gebrechlichen Ohren hindurch in den Köpfen entstellt und verzerrt angekommen sein musste.

Jäh überkam ihn noch tiefere Müdigkeit. Er gähnte, die Hand vor dem Mund, großmäulig und gedehnt, schüttelte den Kopf und meinte, erneut in überzogener Lautstärke, im Augenblick sei niemand verfügbar, man habe gerade mit einem höchst komplizierten Fall zu tun, und die Herrschaften sollten bitte so freundlich sein und gehen, er müsse zu einer dringenden Zeugenbefragung.

Er konnte nicht sehen, wie dem Gusti, als er das mitbekam, ein paar verlorene Tränen in die Augen traten.

»Und ich…« Sicherheitshalber zeigte er mit dem Zeigefinger auf seinen Brustkorb. »…oder einer meiner Kollegen wird sich an Sie wenden, wenn Ihre Hilfe gebraucht wird.«

Noch einmal hatte er stimmlich so zugelegt, dass es sogar Frau Binswanger hinter verschlossener Bürotür hätte mitbekommen können.

Die Friedl schimpfte in heftiger Erregung: Sie hätten überhaupt keine Hilfe nicht nötig und würden auch nie mehr in der Ruf-Notzentrale anrufen, man hab’ ja gesehen, wohin das führe!

Paul konnt’s nicht glauben, aber offensichtlich hatte er noch immer zu leise geredet. Das neuerliche Missverständnis entnervte ihn endgültig, er gab’s auf.

Als er abdrehen wollte, zog Alfons zwei Hefte aus der Innentasche seines Jacketts und gab sie der Friedl weiter. Die legte los, ehe Paul weg war:

»Den Herrn Nachtpolizisten heut’ Nacht, den zweien, denen konnten wir sie ja nicht mehr geben, verstehen S’, unsere Zeitschrift! Die wollten jeder ein Exemplar, aber dann konnten sie die doch nicht nehmen, wegen den Bestechungsvorschriften! Da durften sie die natürlich nicht nehmen, unser Machmal!, die zwei Hefte da, die neuesten! Und jetzt geb’ ich sie halt Ihnen, damit Sie’s an die Kollegen von der Nacht weitergeben, oder legen Sie’s meinetwegen bloß hier aus, dann können sie’s ja auch lesen, die zwei Kollegen, wo sie’s doch nicht haben nehmen dürfen heut’ Nacht, nicht?«

Paul fühlte sich schlagartig restlos erschöpft und endgültig unfähig, weiteren Widerstand zu leisten. Wortlos nahm er die zwei Machmal!-Exemplare, rollte sie zusammen und zeigte mit dem so entstandenen Rohr, ein mattes »Wiedersehn!« murmelnd, Richtung Ausgang.

Offenbar war für Schiedmüllers jetzt, wo sie ihre Heftchen hatten an den Mann bringen können, alles andere unwichtig geworden. Sie schlichen den Flur entlang davon, während Paul sich Gusti zuwandte.

So entging ihm, dass draußen vor der Tür ein jüngerer, etwas aufgeregter Mann mit Handy, der seine Kleinwüchsigkeit mit der Baseballmütze nur unzulänglich kaschieren konnte, die beiden abfing und in ein längeres Gespräch verwickelte, an dessen Ende alle drei zusammen davongingen.

Gustis Befragung war denkbar kurz und verlief so gut wie ergebnislos. Paul war einfach zu müde. Wissen wollte er nur, wo er, der Gusti, gestern Abend gewesen sei, hörte nicht hin, als er sagte, allein daheim, verbat ihm, heut’ zum Studieren nach München zu fahren, er müsse sich zur Verfügung halten, und kassierte, schon im Halbschlaf sein Handy.

Dann schlief er von einer Sekunde auf die andere auf dem Stuhl ein und sank in so tiefen Schlaf, dass er nicht einmal Sissilissi wahrnahm, als sie tuschelnd an ihm vorbei zum Büro der Binswanger Loni am Flurende trippelten.

STECKSCHUSS

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