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IX

Eine Viertelstunde später, Lena hatte sich ins Kabäuschen zurückgezogen und war geistesabwesend dabei, vor sich das Pornoselfie-Filmchen auf dem Sissi-Handy ein Stück weiter ablaufen zu lassen, kam Karl zurück, schlecht gelaunt, und fand, was seine Stimmung nicht hob, den Paul wie beschrieben im Flur vor: in bleiernem Schlaf und lautstark schnarchend.

Da Karl sich vorgenommen hatte, seiner Verantwortung als Chefermittler gerecht zu werden, war er mit Blaulicht zur Tulpenstraße gerast, um den Eltern Schöderlein die Nachricht vom Tod ihres Sohne zu überbringen.

Abermals blitzten während der Fahrt zahlreiche Bilder aus vorabendlichen Soko-Episoden, Tatort-Sendungen und sonstigen Dutzendkrimireihen in seinem Kopf auf, und er hoffte, bei dieser Bilderschau auf eine Einstiegsformulierung zu stoßen, die es ihm ermöglichte, dieses seines schweren Amtes pflichtgemäß und halbwegs schonend für alle Beteiligten zu walten. Aber es fand sich nichts Überzeugendes, alles war ihm zu floskelhaft und abgedroschen. Selbst das, was Kommissar Hofer am Dienstag bei den Rosenheim Cops von sich gegeben hatte, erschien ihm in seiner gestelzten Unbeholfenheit geradezu abgeschmackt.

Die zweite Hälfte der Strecke verbrachte er damit, dem Titel dieser letzten Episode nachzuspüren, der ihm entfallen war und sich im Kopf partout nicht mehr finden ließ.

Als er vor dem Schöderlein-Haus ausstieg, fiel er ihm ein:

»Zu hoch zu Ross«, murmelte er vor sich hin, gab sich einen Ruck und merkte mit Unbehagen, dass er vor diesem ersten Mal fürchterlich nervös war.

Er gab sich einen Ruck, die Nervosität freilich blieb. Wahrlich, besser wär’s gewesen, er hätte die Binswanger Loni gebeten, im Namen der Revierbelegschaft der Familie telefonisch tief empfundenes Mitleid auszusprechen! Was folgte, war für keinen der Beteiligten ein Gewinn: Als ihm Horst Schöderlein öffnete, stellte Karl sich als »vermittelnden kommissarischen Kommissar« vor, und als Elfi Schöderlein das im Hintergrund des Flurs hörte, wurde ihr Weinkrampf, der ihr schon seit einer Stunde zusetzte, um hörbare Grade heftiger.

Karl schloss daraus und aus Horsts verdüsterter Miene nicht das, was nahegelegen hätte, nämlich dass die beiden längst Bescheid wussten, sondern stolperte weiter hinein in den dicksten Peinlichkeitssumpf: Er bedauere ganz persönlich, dass die junge Lebensbahn ihres geliebten Sohnes Georg so abrupt gestoppt worden sei und er habe selber einen Buben beziehungsweise Sohn in dem Alter und wolle sich gar nicht vorstellen, was ihm…

Horst Schöderlein unterbrach ebenso leise wie deutlich:

»Hör bittschön auf, Harlander Karl! Schaut’s g’scheiter, dass ihr die Sau erwischt!«

Siedend heiß fiel Karl ein, dass er vor drei Jahren nach der Abiturfeier in der Stadthalle beim abschließenden Umtrunk an einem Tisch mit Schöderleins gesessen war und man sich nach dem dritten Schoppen das Du angeboten hatte.

Mit einem lauten, schmerzlichen Seufzer zog sich Elfi zurück, während Horst dem Karl ein paar Hinweise gab, wiederum sehr leise, sehr verbittert:

»Ich hab’ immer gesagt, dass das nicht guttut, mit dem Mädl nicht und mit der WG nicht. Aber dass es so kommt…«

Er hob den verhangenen Blick: Er und seine Frau müssten jetzt nach Rosenheim, in die Gerichtsmedizin, ihren Sohn identifizieren, und ob er entfernt eine Ahnung habe, was das bedeute? »Du geh mal lieber heim, Harlander, und komm erst wieder, wenn ihr die Drecksau geschnappt habt. Viele kommen ja nicht infrage. Wiedersehn!«

Horst Schöderlein drehte sich mit den letzten Worten um und warf mit der Hacke die Tür zu.

Um was für ein Mädl es sich handle, konnte Karl ebenso wenig erfragen wie die Quelle, von der die Eltern über das tragische Schicksal ihres Georg bereits informiert worden waren.

Karl stand einige Augenblicke blödsinnig vor der Tür herum, ehe er zum Auto zurückging, kopfschüttelnd, weil ihm bewusst wurde, was für einen Schamott er soeben verzapft hatte.

Auf der Rückfahrt schaute er im Fuchsbräustüberl vorbei, um den Wirt über Georg und Fritz zu befragen, die sich dort, wie Pauls Bericht zu entnehmen war, gestern Abend zwischen halb zehn und halb zwölf besoffen haben mussten. Da konnte er quasi unterwegs und nebenbei ermittlungstechnisch wesentliche Erkenntnisse sammeln.

Aber Sepp, der Wirt, war noch nicht da. Der komme, erfuhr er von der Putzfrau, frühestens um zwölf.

Karl ließ sich die Handynummer geben und wählte: Mailbox, mit denkbar grantiger Einladung, was draufzusprechen, wenn’s unbedingt sein müsse. Also sagte Karl nichts, dem Burschen würde er persönlich zu Leibe rücken, denn: Wirte in Verbindung mit Kriminalfällen, da biss die Maus keinen Faden ab, waren grundsätzlich als zwielichtig einzuschätzen und hatten oft genug ihre schmierigen Finger in krummen Geschäften: geschlossene Hinterzimmer für mafiöse Gruppierungen oder Diebesgut, im Keller nicht selten Leichen! Schon im Gasthaus an der Themse war das Mekka ein schwer verruchter Ort! Und erst die Disco-Schuppen in den neueren Formaten: Drogen, Drogen, Drogen! Overbeck bei Wilsberg! Den hatten sie – und der war Polizist, wenn auch ein total vetrottelter! – in einer solchen Kaschemme mit Tropfen schachmatt gesetzt und ihm mit perfiden Machenschaften einen Mord anhängen wollen! Die einzig logische Konsequenz daraus war: Auf kurz oder lang würde bei diesem Fuchsbräustüberl, das er bisher nur flüchtig kannte, eine Observierung rund um die Uhr unumgänglich sein!

Wieder zermarterte er sich den Kopf, welchen Titel diese Wilsberg-Episode gehabt hatte. Er kam ums Verrecken nicht drauf.

Weil er heut’ Früh den Gusti auf die Dienststelle mitbringen musste, der aber nicht so schnell aus den Federn kam, war das Frühstück ausgefallen. Entsprechend verspürte er allmählich Hunger und überlegte, ob er nicht beim Tengelmann vorbeifahren und sich drei Leberkässemmeln mitnehmen solle, entschloss sich dann aber zum direkten Weg aufs Revier. Er würde ganz einfach kraft seiner neuen Funktion als Kommissionsleiter eine Brotzeitpause anordnen und die Lena oder den Paul dienstlich beauftragen, was zu besorgen.

Als er vor dem Revier aus dem Dienstwagen stieg, fiel ihm der Wilsberg-Titel wieder ein: 48 Stunden.

Wie hatte er den nur vergessen können?

»Das glaub’ ich jetzt nicht!!«

Aus Leibeskräften brüllte Karl den Flur entlang, kaum hatte er am hinteren Tisch, vor dem Eingang zum Binswanger-Büro, Paul entdeckt, der noch immer in solchem Tiefschlaf verharrte, dass nicht einmal dieses brutale Geschrei in sein Hirn drang. Im Eilschritt ging der kommissarische Ermittler Karl Harlander auf den Schläfer los, rüttelte ihn rücksichtslos an der Schulter und bellte zornig auf den Armen herunter: »Paul, sag’ mal!!«

Der fuhr, rüde aus dem Schlummer gerissen, verwirrt auf und maulte ein verstörtes »Hä?!«

»Sag mal, wo sind wir denn?!« Karls olympischer Zorn blieb ungebremst. »Ich fahr’ mir die Reifen platt und lauf ’ mir die Hacken ab, und du pennst hier den tiefsten Beamtenschlaf, du Nachwächter!«

Auf diese dummdreiste Beleidigung hin sah Paul schlagartig klar und reagierte geistesgegenwärtig: »Hätt’ ich nicht den Nachtwächter gegeben, wo du in München versumpft bist, du Staatsdiener, könnt’st du jetzt keine großen Töne spucken! Die ganze Nacht über ’s Diensthandy ausgeschaltet: Verdienst längst ’n Diszi, du Armleuchter! Schon mal nachgedacht?«

Mit einem abschließenden »Leck mich doch am Arsch!« stand er mühsam auf und wandte sich von Karl weg seiner Bürotür zu, hinter der er verschwinden wollte, ohne Karl. Der allerdings war, wie auch Paul sehr wohl wusste, vor einer Stunde zum Kommissionsleiter aufgestiegen und folgte ihm, seinen Pflichten als Vorgesetzter entsprechend, auf dem Fuß in der Absicht, seinem Untergebenen jetzt aber mal so richtig die Meinung zu geigen und einige Dinge klarzustellen. Ehe Sitten einrissen wie auf der Dortmunder Tatort-Dienststelle, wo sich irgendwann jeder mit jedem in den Haaren hatte, musste hier in Hochwiel der kommissarische Kommissionspräsident für klare Verhältnisse sorgen!

Es kam aber anders.

»Thema: Gusti!« Paul fasste Karl scharf ins Auge, sobald der die Tür hinter sich zugezogen hatte. »Vorhin, Herr Scheinkommissar, bevor ich kurz eingenickt bin: Gespräch mit deinem Gusti: Haste eigentlich ’ne Ahnung, wie tief der Trottel, und damit du!, in der Sache drinsteckt?«

Das nahm Karl sofort sehr viel von seiner amtsautoritären Sicherheit. Paul setzte nach: »Guter Bekannter des Mordopfers, anscheinend oft genug mit ihm zerstritten, sonst wär’ er ja gestern mit den andern zweien saufen gegangen! Ohne Alibi, weil der Vater aushäusig gesoffen hat…«

Karl begann blasser zu werden und schnappende Mundbewegungen zu vollführen, brachte aber nichts Verständliches heraus.

»…und ist angeblich daheim gehockt, Filme glotzen! Wer’s glauben will: Ich nicht! Pharmaziestudent, also Giftkundler! Könnt’ auch sagen: Giftmischer! Spechtet schon seit zwei Jahren aufs dritte WG-Zimmer, damals war der Herr Vater ja zu geizig, es ihm zu finanzieren! Brauchst noch mehr an Motiven, um ihn zum Hauptverdächtigen zu machen, du Mordshirsch?«

Die Keulenschläge trafen Karl unvorbereitet und mit schmerzlichster Heftigkeit. So verdattert stand er da, dass Lena, die nebenan alles mit angehört hatte und jetzt, vom Hallstein-Telefonat halbwegs erholt, durch die Tür kam, den stillen Wunsch verspürte, ihm aus purer Menschenliebe zu Hilfe zu kommen und Paul zu beschwichtigen.

Wie schon in der Früh, nach dem Schlüsseltelefonat mit Kriminalrat Beyschlag, liefen in Karls Kopf, als Paul den Namen seines Buben fallen ließ, ein paar Dutzend Bildsequenzen in rasend schneller Folge ab, die das meist hochprekäre Verhältnis der Fernsehkommissare zu ihren Kindern zum Inhalt hatten: Diese Kollegen waren auch, wie er selbst, größtenteils alleinerziehend! Und zu jedem der Punkte, die Paul ihm an den Kopf warf, fielen ihm einschlägige Beispiele ein: Wallander und Kommissar Beck! Jedes Mal, wenn der Sprössling wieder auf Abwege geraten war, mussten sie sich und anderen gegenüber eingestehen, was für miserable Väter sie bis dato gewesen waren! Keine Soko-Reihe, in der sich nicht ein vernachlässigtes Polizistenkind mit falschen Freunden umgab und auf die schiefe Bahn geriet! Nichts als zerworfene Kinder-Eltern-Verhältnisse! Schon vor zwanzig Jahren, Die Kommissarin: Mama kümmert sich zu wenig um den Buben, und der scheitert sogar als Barkeeper!

Nach und nach versank Karl, trotz Lenas Willen zum Beistand, nicht nur unter den Schimpftiraden Pauls, sondern auch in den Sümpfen der Schwermut, die ihm das schlechte Gewissen verursachte.

Paul war noch immer nicht fertig:

»Was willst du eigentlich in einem Ermittlerteam zu diesem Fall, wenn du so hochgradig mit drinhängst und befangen bist, wie man befangener gar nicht sein kann?«

Das geriet abermals sehr zornig und laut, worauf ihn Lena endlich am Arm nahm und mit ein paar charmanten Worten zu beschwichtigen versuchte: »Ich hab’ dich schon vorhin, noch bevor der Karl abgehauen ist, darauf hinweisen wollen, dass diese Ernennung zum kommissarischen Ermittlungsleiter nur hat passieren können, weil dort, in Rosenheim, keiner was von der persönlichen Nähe Karls zu einem der Verdächtigen hat wissen können! Und somit, Herrschaften, stehen wir alle drei vor der Alternative, den Karl ganz einfach auszuklinken, indem wir, was wir letztlich müssen!, entsprechende Meldung nach Rosenheim schicken. Dann ist der Kollege Karl von einem Augenblick auf den andern weg vom Fenster. Oder wir vereinbaren hier und jetzt untereinander…«

Sie setzte eine ganz und gar durchtriebene, beiden Kollegen bislang unbekannte Miene auf.

»…dass ab sofort der Paul die Sache als Chef beziehungsweise als vorläufiger diensthabender Vorgesetzter…«

Hier musste sie kurz kichern.

»…übernimmt, und dass wir zwei, du, Karl, und ich, ihm zuarbeiten. Ist dann nur so, dass der Karl, wenn ein Anruf aus Rosenheim kommt oder so, vorm hohen Haus weiter die offizielle Führungsrolle übernehmen muss. Andere Möglichkeiten seh’ ich grad nicht.«

Die beiden Herrn waren baff, Lena lächelte sie holdselig an. Paul legte ihr den Arm um die Schulter und wollte ihr einen Schmatz auf die Wange drücken, dem sie sich geschmeidig entzog.

Karl war ratlos. Er machte eine wegwerfende Handbewegung, die »Von mir aus!« meinte, und ging Richtung Verbindungstür der beiden Büros, um sich schmollend zurückzuziehen.

Das Ärgerlichste war, dass er nach dieser brutalen, aber unumgänglichen Degradierung nicht mal mehr einen der beiden zum Brotzeitholen schicken konnte.

Paul hielt ihn auf:

»Übrigens, vorhin… Da war noch was: Zwei Alte, die wirres Zeug schwätzten, von wegen ’nem Schuss heut’ Nacht, und…«

»Hab’s gelesen, auf dem Bericht vom Ottl. Ist wohl alles nicht ernst zu nehmen.«

Lena mischte sich ein, mit frischem Selbstbewusstsein: Damit man heut’ überhaupt noch weiterkomme, geb’ sie der Frau Binswanger jetzt mal die Telefonnummern von denen, die man zur Befragung herzitieren müsse, vor allem diese Rosi Hurlach und den Jakob Bausemann. Den Fritz, falls vernehmungsfähig, müsse man auch nochmal herbitten, »und leider auch deinen Gusti, fürcht’ ich. Es sei denn, du hast vorhin schon alles geklärt, was ihn betrifft, Paul.«

»Ging nicht, der war viel zu mitgenommen. Und sah aus, als müsst’ er jeden Augenblick losheulen. Hab’ ihn deshalb nach ein paar Minuten heimgeschickt.«

Lena nickte. Mit einem Zettelchen ging sie zu Frau Binswanger, danach eine Weile aufs Klo.

Karl hatte inzwischen die erste Schockstarre überwunden und sich demütig in die neue Rolle gefügt. Jedenfalls legte er versöhnungswillig eine sanfte Hand auf Pauls Schulter und flüsterte im Grabeston:

»Paul, weißt, mir wär’s ganz recht, wenn du das mit meinem Gusti allein übernehmen könnt’st. Mit Frauen, weißte, also so ’ner jungen Frau wie der Lena gegenüber, da isser immer ein bissl unfrei und aufgeregt und so. Nicht, dass er sich bei all dem Schlamassel auch noch verplappert und selber belastet. ’s reicht schon so!«

Paul nickte bedeutend:

»Geht in Ordnung, Karl. Klar.«

Mit gönnerhaftem Blick und jovialem Klaps auf die Schulter entließ er den Kollegen als gleichberechtigten Untertan in dessen Büro.

Da saß Karl nun, Ottls Bericht über den nächtlichen Einsatz vor sich auf dem Bildschirm, lange in schweren Gedanken: Sein Bub! Hatte er noch eine väterliche Beziehung zu ihm? Erreichte er ihn noch, seinen Gusti, oder war er ihm längst entglitten, hinein in bedenkliche Bereiche und Kreise? Die ersten Jahre, nachdem die Helga, seine Mama, an Krebs gestorben war, ging’s ja noch ganz gut mit Vater und Sohn.

Aber spätestens seit dem Abitur: Wusste er denn, wo er sich in München herumtrieb? Was er in seinem Zimmer anstellte, mit wem er chattete oder per Mail und Whatsapp verkehrte? Wie weit mochte die Rolle des Vaters als Polizist belastend, ja seelisch deformierend auf ihn gewirkt haben, den armen Kerl, und noch immer wirken? Hatte er einen Mord begangen, um endlich wieder die Aufmerksamkeit des Vaters zu erregen? Gusti, der Mörder aus Liebesbedürfnis! Seine Tat als verzweifelter Schrei nach Zuwendung! Himmel, ja! Wie oft war das nicht, von der Soko Wien über den Spreewaldkrimi bis zu Morden im Norden, Motiv für grässlichste Untaten!

Fürchterliche Möglichkeiten taten sich auf: Wenn sich in Gusti über die Jahre hin eine Form der Schizophrenie entwickelt hatte? Hier der brave, noch immer ein bisschen pubertäre, weinerliche Bub mit merkwürdiger Scheu vor dem anderen Geschlecht, jedenfalls brachte er nie ’n Mädl nach Haus. Und dort der rachelüsterne, von grausamen Machtphantasien beherrschte Unmensch. In Gusti – ein Doktor Jekyll und Mister Hyde? Entsetzlich, entsetzlich! Schnellstens musste er sich Zugang zu Gustis Zimmer verschaffen, in dem er seit ewigen Zeiten nicht mehr gewesen war, weil’s dem Buben nicht recht war und er verständlicherweise auf Wahrung seines kleinen Privatbereichs bestanden hatte. Nur die Frau Huber durfte einmal die Woche zum Putzen rein. Junge Junge! Ein verkapptes Sado-Maso-Kabinett, wie beim Schuldirektor Höpfl im Dampfnudelblues? Oder eine Materialiensammlung zu den bestialischsten Frauenmorden der Kriminalgeschichte? Gusti, Gusti! Wohin hat dich dein Weg geführt, wohin das Schicksal fehlgeleitet? Er durfte gar nicht dran denken, welch furchtbare Eindrücke schon die Jüngsten ein für allemal unwiderruflich prägen, ja bestimmen konnten: Vor kurzem, der neugeborene Sohn von Jana Winter:

Schon als Säugling im Kinderwagen begegnet er, vom Aupair-Mädchen spazieren gefahren, einem Mordopfer! Grauenhaft, wie dieser elementare Schock das arme Kind ein Leben lang verfolgen musste! War das – Stralsund? Die Toten vom Bodensee? Nein, zu Unter anderen Umständen gehörte die Jana Winter, genau!

Oder doch nicht?

Manchmal geriet ihm das Selbstverständlichste durcheinander.

Es war jedenfalls alles andere als ausgeschlossen: Gusti in den Klauen des Bösen! Und das Pharmaziestudium! Nie hatte er, der Vater, sich mit dessen Inhalten beschäftigt, nie! Ging’s da, wie Paul vorhin rücksichtslos angedeutet hatte, wirklich um nichts anderes als Gift und nochmals Gift?

Es gab keine Alternative: Heute, sofort nach Dienstschluss, musste er sich den Gusti zur Brust nehmen und knallhart…

Nein, das ging auch nicht! Nicht knallhart! Sonst weinte er gleich wieder. Aber hart! Väterlich streng und ernst: das schon!

Schenk–Ballauf! Wieder überkam ’s ihn mit mächtigem Schauder. Tatort Köln! Ein Obdachloser – vergiftet mit Frostschutzmittel im Wein! Und in irgendeinem Polizeiruf 110: Ein junges Mädl, beim Casting vergiftet! Andernorts, er wusste nicht mehr, wo: Giftiges Lösungsmittel in einer Infusion! Mein Gott, mein Gott, in Ein starkes Team verendete mal jemand an vergiftetem Joghurt! Vergiftete Schokopralinen in einem frühen Derrick, vergiftete Kirschen bei der Soko Köln, ein vergifteter Konditor bei der Soko Wien! Sogar bei den Rentnercops waren in einer eindrucksvollen Szene mal Schwiegervater und Schwiegersohn vergiftet miteinander ins Grillfleisch gefallen! Gift, Gift, Gift, so weit die Krimilandschaft sich erstreckte, Gift an allen Horizonten, Gift, so weit das Auge des Krimibetrachters reichte! Und… Himmel! Gift in einer Trinkflasche! Überdosiertes Schmerzmittel! Rivalinnenzoff bei einem Meerjungfrauen-Wettbewerb, eine vergiftet die andere, die stirbt beim Schwimmen – an Krämpfen! Das musste irgendwann bei der Soko Wismar gewesen sein, letztes Jahr… Welche Parallelen zum Mordfall Schöderlein!

Es nahm kein Ende. Je weiter er nachdachte, je genauer er sich die Gift-Episoden vor Augen führte, desto näher und überzeugender rückte ihm sein Gusti als Täter vor Augen: Gusti, der Student der Pharmazie, Gusti, gewaschen mit allen giftigen Wassern! Ja, an den Vorwürfen Pauls, es war Einiges dran. Vielleicht sogar viel – oder alles? Dass gar alles stimmte?

Es gab keinen anderen Weg: Heute noch musste er, falls nötig mit Gewalt, ins Zimmer seines Sohnes eindringen, um sich endlich, endlich Klarheit zu verschaffen!

Die Tür ging auf. Paul winkte ihn aufgeregt mit geradezu teuflischem Grinsen zu sich und ging ihm voraus ins Kabäuschen, wortlos, aber mit allen Anzeichen, dass der Kollege gleich was ganz Exotisches erleben werde.

Als sie vom Klo zurückkam, fiel Lena ein, dass sie die zwei noch gar nicht über das Telefonat mit der Hallstein informiert hatte. Irgendwann würde sie das vielleicht tun, noch war sie wegen der Streitereien vorhin ziemlich verärgert, viel mehr aber wegen dem, was sie soeben bei ihrem heimlichen Telefonat auf dem Klo erfahren hatte.

Ihr Ärger wurde zur blanken Wut, als sie in der Flurtür zu Pauls Büro sah, was sich im kleinen Nebenraum abspielte: Die Rücken ihr zugekehrt, standen die beiden da, die Köpfe dicht beieinander, leicht vornübergebeugt, als wären sie die innigsten Busenfreunde, und schienen wie die Schulbuben zu feixen. So vertieft waren sie in ihre Beschäftigung, dass sie Lena nicht gleich bemerkten.

Gerade, als sie mal wieder kumpelhaft die Schultern aneinanderstießen und sich verschwörerisch zugrinsten, schoss es der Lena durch den Kopf: Das Handy! Sie hatte, als sie vorhin herausging, um die Schreihälse voneinander zu trennen, Sissis Handy auf dem Schreibtisch liegen lassen! Und den Mädels hatte sie doch versprochen…

»Ich fass’ es nicht, ihr Lustgaffer!« Außer sich keifte sie los.

Paul fuhr vor Schreck derart zusammen, dass ihm das Smartphone aus der Hand glitt und auf den Tisch fiel. Sissilissis Stöhnen hörte sich jetzt an, als käm’ es aus einiger Ferne, während es zuvor geklungen hatte, als würden sich’s Paul und Karl gerade gegenseitig machen.

»Sagt mal, geht ’s noch, ihr notgeilen Alpha-Kevins!? Spinnt ihr jetzt komplett? Das haben mir die zwei Mädels vorhin im Vertrauen dagelassen, und jetzt… Schämt ihr euch denn für gar nichts, ihr… ihr… enthirnten Rammelböcke!«

Einer Furie gleich stürzte sie zum Schreibtisch, dass ihr Pony nur so flog, stieß die beiden mit den Ellbogen rüde zur Seite, riss das Handy an sich, schaltete es aus und ließ es in der Jackentasche verschwinden. Sie machte auf dem Absatz kehrt und wollte davon.

Paul stellte sich, während Karl, puterrot angelaufen, nicht mehr wusste, wohin mit sich, vor den Türstock und ihr in den Weg: »Reg dich mal ab! Kannst doch hier nicht einfach ’n Beweismittel rumliegen lassen! Und uns verheimlichen und auch noch entwenden wollen! Her damit!«

Den herrischen Ton glaubte Paul seiner soeben bezogenen Führungsposition schuldig zu sein. Stramm hielt er die Hand auf und winkte mit den Fingern.

Lena schaute ihm voller Verachtung geradewegs in die Augen und sagte, ohne den Blick von dem seinen zu wenden:

»Kennste den? Urologe zu Paul: ›Du musst endlich mit dem Wichsen aufhören, Bubi!‹ Paulchen: ›Warum?‹ Der Uro: ›Damit ich dich untersuchen kann.‹«

Nun wusste auch Paul vor abgrundtiefer Verlegenheit nicht mehr, was tun, und war beinah froh, dass Lena ihn mit der Hüfte beiseite rempelte und sich davonmachte.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um: »Ist von der Hallstein, ihr Untersuchungsergebnis. Könnt gerne bei ihr rückfragen.«

Damit eilte sie auf den Flur und dem Ausgang zu.

Schwer bedröppelt standen sie da, die zwei, keiner wusste, wie er der Verlegenheit Herr werden könnte. Karl tröstete es kaum, dass er den Witz in leicht variierter Form letztes Jahr schon mal in ’ner Wilsberg-Episode gehört hatte: Bittere Pillen, erinnerte er sich.

Endlich brach Paul das peinliche Schweigen: »Rechts unten ist die Zeit mitgelaufen. Wenn die mit der Tatzeit übereinstimmt, sind die Gören aus dem Schneider.«

Karl nickte, wusste aber nicht recht, was er damit bestätigte. Zu groß war das Durcheinander in seinem Kopf. Was ein Alpha-Kevin sein sollte, konnte er sich auch nicht vorstellen.

Es war gut, dass in diesem Augenblick Frau Binswanger kam, um das Ergebnis ihrer Anrufe mitzuteilen: Bei der Familie Bernhuber hab’ sie den Herrn Vater erreicht, die Familie werde mit Sohn Fritz am Nachmittag auf die Dienststelle kommen, mit Anwalt. Und dieses »mit Anwalt« hab’ sehr bedrohlich geklungen. Der Hurlach Rosemarie hab’ sie, wie dem Bausemann Jakob auch, auf die Mailbox gesprochen, dass sie unverzüglich mit den Herrn Kommissaren Kontakt aufnehmen und zu einer Befragung kommen müssten, sonst würden sie zur Fahndung ausgeschrieben. »Und die beiden Mädchen, die ich auf Wunsch von Fräulein Lena angerufen hab’, die konnt’ ich nicht erreichen, in der Schießstättstraße sieben gibt’s keinen Festnetzanschluss, und beide Handys sind ja schon hier in Gewahrsam, wie ich vorhin mitbekommen hab’.« Aber die Eltern von der einen Elisabeth, von Fräulein Stegmaier, die hab’ sie ausfindig gemacht, und deren Mutter hab’ versprochen, die beiden aufzuspüren und ihnen zu sagen, dass sie sich dringend nochmals melden müssten, »weil, so einfach abhauen, hat das Fräulein Lena gesagt, das geht ja auch nicht.«

Paul und Karl erröteten kurz, als die Smartphones der Mädchen erwähnt wurden, und dankten Frau Binswanger übertrieben herzlich. Dann standen sie schon wieder ratund hilflos herum, weil sie nicht wussten, wie sie ohne Lena weitermachen und, vor allem, wo sie ansetzen sollten: Die war einfach abgehauen, sie wussten nicht, ob und wann sie wiederkam. Das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung kannte auch nur sie.

Die Hallstein nochmals anrufen?

So viel Schneid hatten sie beide nicht.

Zwei Minuten später kam die Lösung in Gestalt von Lena selbst, begleitet von einem etwas skurrilen Gast.

Den hatten Karl und Paul schon längst erwartet.

»Der hat ’nen Presseausweis gezückt und behauptet, er sei euch vom Erkennungsdienst angekündigt.«

Lena, die mit dem Häberle Flocki noch nicht das Vergnügen hatte, war wieder halbwegs guter Dinge, vermutlich hatten ihr Flockis gnomenhafte Erscheinung oder sein unwiderstehlicher Charme den Gram von der Seele geblasen.

Karl und Paul lachten, als sie ihn sahen, gleichzeitig geradezu unverschämt auf: »Ja dass du auch schon daherkommst!«

Eins sechsundfünfzig maß er, und weil er ständig den Kopf in die Schultern zog, als erwarte er von jedermann Prügel, und beim Gehen tief in die Knie ging, hinterließ er, gleich, wo er auftauchte, einen stark koboldhaften Eindruck, den der ständig unstete, flackernde Blick und die fahrige, eckige Gestik markant verstärkten.

»Presse, Pfaffawinklr Bote«, platzte er frech und nassforsch heraus, als würden ihn die zwei nicht seit Jahren kennen, und hielt ihnen seinen Ausweis stramm über Kopfhöhe entgegen.

»Schon recht, Flocki!« Karl nahm ihm das Plastikkärtchen einfach weg und schob’s in Pauls Brusttasche. »Was willst denn, was brauchst denn?«

Flocki schnappte mit dem Mund, griff sich kurz an den Schild seiner Mütze, auf der ein Dutzend Sechzger-Sticker prangten, und meinte knapp und nebenher: »Griag i nochr fei widdr, Kamerad, gäll!«

Er zückte sein Handy, drückte auf Audio-Aufnahme und ging Karl unvermittelt an: »Herr Kommissar, was gedenkn S’ zum undrnemma, dass …«

Weiter kam er nicht, weil ihm jetzt Paul das Handy wegnahm und gelassen in Karls Sakkotasche steckte: »Sammeln wir gerade, die Handys von Tatverdächtigen. Die Kollegin hat auch schon eins kassiert: Wichtige Beweisstücke!«

Die beiden letzten Worte flüsterte Paul geheimnisvoll, schließlich wusste er, dass der Flocki, auch wenn man ihm nur die dunkelste Ahnung vermittelte, er könnt’ was Außerordentliches erfahren, auf jeden Schmarrn reinfiel. Er stellte den Kopf schräg, um Paul das rechte Ohr hinzuhalten. Der griff aber nur den Mützenschild, wobei ein Sechzger-Sticker abfiel, und zog ihn nach unten vor Flockis Gesicht.

Das war aber nun doch zu viel. Flocki begehrte auf: »Des geht so nedd, meine Herrn! I bin…«

»… von der Presse, Flocki, wissen wir doch! Und wir machen’s jetzt wie immer: Du setzt dich ein bisserl zu uns ins Büro, erzählst, was du schon so alles weißt, und dann schauen wir, ob wir dir dazu noch was Neues sagen können. Und wenn de ganz lieb bist, macht dir die junge Kollegin hier vielleicht sogar ’nen Kaffee, Espresso, hast doch immer gern ’trunken, gell! Fast so gern wie a Schnäpsle!«

Damit schob Paul das Männchen durch die Tür zum Kabäuschen und darin Richtung Schreibtisch. Er drückte den Besucher auf einen der Stühle, auf denen vorhin Sissilissi gesessen waren, nur dass der Flocki, anders als die Mädchen, kaum über die Tischkante schauen konnte. So beherrschte die Baseballmütze, die Paul ihm vorhin tief ins Gesicht gezogenen hatte, das ganze Erscheinungsbild des Investigationsjournalisten Häberle.

Lena, erbost darüber, dass Paul schon wieder meinte, über sie bestimmen zu können, empfand richtiggehend Mitleid mit diesem erstaunlichen Phänomen, das so unüberhörbar aus dem Schwäbischen stammte. Sie nickte Flocki lächelnd zu und ging nach draußen, obwohl sie schon vorhin mit der Kaffeemaschine nicht zurechtgekommen war.

Karl machte gleich mal auf Einschüchterung, sehr hart im Ton, und Flocki sank hinter der Tischkante tatsächlich ein weiteres Stückchen nach unten.

»Wie kommst denn dazu, du Kasperl, in aller Herrgottsfrüh am Tatort rumzugeistern? Und woher hast du überhaupt gewusst von der Sache, du Sauhund?«

Flocki begriff schnell, dass hier ohne eigene Vorleistung nichts zu machen war, und beichtete: Er hab’ da jemand vom Erkennungsdienst an der Hand, quasi als V-I, als verdeckten Informanten, der ihm gelegentlich Tipps geb’, gerade bei solch zentralen Ereignissen in und um seinen ausgedehnten Wirkungsbereich im Pfaffenwinkel.

»Sag bloß, du hast ’nen Beamten bestochen, du kleiner Drecksack?«

Karl war beinah belustigt über so viel Kaltschnäuzigkeit und Offenheit, die das Kerlchen an den Tag legte.

»Dees nedd!« Flocki hob Kopf und Mützenschild und grinste den beiden unverfroren ins Gesicht. »I hab’ dem bloß vor am halba Johr mol g’sagt, dass ’r mir sofort Imfos geba muaß bei solche Sacha, wenn ’r nedd am nägschda Daag sei’ eigane Todesa’zeig in dr Zeitung lesa will.«

Paul und Karl schauten sich entgeistert an: Ein solches Übermaß an brutalem Erpresserpotential hätten sie diesem weißblauen Gartenzwerg nie und nimmer zugetraut!

»Und där macht des seitdem ganz brav sowait.«

Er sei mitten in der Nacht gleich mal hin, als der Anruf kam, ein paar Aufnahmen machen, interviewen hab’ er im Haus wegen des bornierten ED-Packs sowieso niemand dürfen, geschweige denn, dass er noch rechtzeitig gekommen wär’, um wenigstens von der Leiche ein schönes Bild zu schießen, ein verwertbares.

Karl schaute, während Flocki frisch von der Leber weg erzählte, unter der Tischkante auf dem konfiszierten Handy nach: Ja, tatsächlich, da waren einige Bilder vom Tatort drauf: Bis in den Hausflur hinein hatte er’s offenbar geschafft, der lästige Schnüffelgnom!

Karl drückte auf Alles löschen. Damit war die Sache erst mal bereinigt.

»Also, Flocki: Raus mit der Sprache! Du warst doch seither wegen nichts anderem unterwegs: Was haste denn so alles gehört und recherchiert? Weißt schon, dass de verpflichtet bist, uns in einem Fall wie diesem zu helfen, oder?«

Paul, die verschränkten Arme auf dem Tisch, hatte sich weit nach vorne gebeugt, um dem durchtriebenen Flocki tief in die Augen zu schauen. Der drehte sich locker nach rechts, den Kopf nach links, verschränkte die Finger ineinander und meinte kess:

»Wenn ihr’s unbedingt wissa wollt’s: Herr und Frau Schiedmüller, dees habt’s ihr no gar nedd g’merkt, dass dees ganz wichdige Zeug’n sin! Dia, mei Liabrle, dia hamm mir vielleicht was v’rzählt: mein lieber Herr Vereinsvorschdand!«

Damit begann er eine ausführliche Darstellung, überzeugt, dass er ohne Not und aus purer Freundlichkeit astreines Herrschaftswissen weitergebe, sozusagen als wohlwollende Vorleistung für die ohne ihn verratzten Ermittler: Wie er vorhin schon mal hab’ hereinkommen wollen, dann aber auf dieses interessante Ehepaar gestoßen sei, direkt vor der Tür vorne. Und die hätten beide – beide!, wiederholte er bedeutend und hob einen Zeigefinger – mindestens einen Schuss gehört, wahrscheinlich sogar mehrere, die Schiedmüllers, und würden seither in Verbindung mit ’nem Giftmord gebracht. Das könnten sie nicht auf sich sitzen lassen, schon aus geschäftlichen Gründen. Schließlich wirke sich ein solcher Verdacht, auch wenn er haltlos sei, immer auf die Auflagenhöhe ihrer wissenschaftlichen Zeitschrift aus! Gottlob hätten sie in dieser Sache inzwischen den Hochwieler Staranwalt für sich gewinnen können. »Und int’ressant isch des fr mi natierlich scho, was dia Schiaßerai in dr Behmrwaldschtross mit dem Mord zum dua hodd, nedd!«

Paul nickte beifällig, während Karl damit beschäftigt war, Flockis Handy nach weiteren polizeirelevanten Dateien zu durchforsten. Was ihm irgendwie verdächtig vorkam, wurde kurzerhand Opfer der Löschen-Taste. Abschließend leerte er vorsorglich auch den Papierkorb.

Flocki erzählte unterdessen munter und selbstbewusst weiter: Die Eltern von Fritz Bernhuber hätten ihn sehr unprofessionell behandelt, eigentlich rausgeworfen, und der Vater des Mordopfers sei auch nicht gesprächig oder kooperativ gewesen.

Jetzt erst sah Paul das blaue Auge, das Flocki bisher mit dem Schild der Mütze vorzüglich zu verbergen gewusst hatte.

»Misshandlung und Diskriminierung von Mitgliedern der freien Presse musst uns aber schon anzeigen, Flocki! Sind schließlich schwere Straftatbestände!«

Paul gab sich sehr ernst, obwohl er hätte losbrüllen können, während Flocki resigniert abwinkte und erzählte, dass er die schlimmsten Erfahrungen in dieser Hinsicht einmal an einem Tatort mit einer gewissen Frau Professor Hallstein gemacht hab’. Er hab’ nur was ganz Harmloses wissen wollen, und da hab’ sie ihm vorgeschlagen, er solle sich doch von ihr vivisezieren lassen, ihre Studenten seien darin geschult, Zwergenhaut zu präparieren. Und nebenher hab’ sie ihm auch noch ’nen frühen Tod geweissagt, weshalb er seither nicht selten schlecht schlafe und Angstzustände habe.

»Das gibt sich, Flocki!« Paul versuchte, ganz besorgter Freund und Helfer, ihm ein bisschen Mut zu machen, stand auf und gab Karl einen Wink, mit den Handy-Spielereien aufzuhören.

Gleichzeitig bedeutete er dem Flocki, dass es für ihn Zeit sei, abzuhauen.

»Und was isch? Mei Händi, mei Auswais?«

Beides bekam er zurück, »vorbehaltlich der Lieferung weiterer ermittlungsrelevanter Informationen und Daten«, wie Paul anfügte, ohne zu wissen, wie er auf diese geniale Formulierung gekommen war.

Kleinlaut und sanft buckelnd nahm Flocki seine Besitztümer entgegen, wobei ihm, gerade noch rechtzeitig, der zweite Teil der Abmachung einfiel: Info gegen Info! Also zog er den Kopf aus den Schultern, hob Kinn und Mützenschild, stemmte die Fäuste in die tiefliegenden Hüften und fragte mutig:

»Und? Was isch? Von mir habt’s ihr jedst alles, jedst griag i was von aich!«

Er erntete nur bedauerndes Kopfschütteln: »Diesmal nicht, Flocki!«

Karl musste sich schwer zusammennehmen, um nicht loszulachen.

»War viel zu dürftig und rein gar nicht verwertbar, was du uns da alles verklickern wolltest. Aber was wir noch anbieten können, Flocki: Mach ’n Selfie im Polizeibüro, da hast doch noch keins und kriegst wahrscheinlich auch so schnell keins mehr wieder!«

Flocki winkte vielsagend ab und war froh, dass sie ihn nicht mit einem gehörigen Tritt ins Kreuz Richtung Tür beförderten, rückte unter dieser seine weißblaue Baseballmütze zurecht und zog ab, mit für seine Verhältnisse langen Schritten, bei denen er noch mehr als sonst in die Knie ging.

Dass Lena es eben geschafft hatte, dem Automaten einen Kaffee zu entlocken, der für ihn gedacht gewesen war, bekam Flocki nicht mehr mit, denn in Gedanken war er längst unaufhaltsam vorausgeeilt: Dann mal die zwei Mädchen suchen, die da heut’ Früh noch am Tatort herumgegeistert waren, wenn er sich nicht getäuscht hatte! Würden ihn schon noch kennenlernen, alle!, ihn und seine gnadenlose Recherchearbeit!, dachte er racheselig und schob den Mützenschild, von dem dabei ein zweiter Sticker herunterfiel, noch ein wenig weiter nach oben.

»Wo hast’n den jetzt hergezaubert?« Paul deutete mit langem Finger auf den kleinen Plastikbecher und wollte ihn sich greifen.

Lena kam ihm zuvor und trank ihn mit einem Schwapp aus.

»Wenn ihr kleine Presseganoven laufen lasst, geht deren Habe an mich.«

Sie grinste und schimpfte anschließend ein Weilchen auf den Automaten, was Karl die Möglichkeit gab, im Kopf ein paar Krimiserien durchzublättern und darin nach verhängnisvollen Kaffeeautomaten auf Polizeidienststellen zu suchen. Es fiel ihm aber außer der Soko Kitzbühel und München Mord nichts ein, und auch da war er sich nicht sicher. Die in Rosenheim drüben, die Cops, die hatten ja keinen Automaten, die hatten eine Maschine, bei der Stockl im Büro.

»Das kennen wir doch aus Fernsehkrimis auch«, setzte er Lenas kleine Wutrede fort, »dass die Kaffeeautomaten nie funktionieren. Einfach mit der Faust dagegen hauen hilft meistens. Oder einer hat vergessen, ’ne Münze einzuwerfen, und ’n andrer hilft ihm drauf, irgendwo mal bei Kommissar Beck, glaub’ ich.«

Paul und Lena schauten ihn leicht verstört an, weil sie nicht wussten, was sie mit dieser sonderbaren Parallele anfangen sollten.

»Bringst du jetzt schon unsere Arbeit hier mit dem grotesken Dutzendkrimi-Schwachsinn durcheinander, den du dir Abend für Abend reinziehst, du Narr? Junge Junge! ’s ist echt an der Zeit, dass du mal auf Entzug gehst! Am besten gleich für vier Wochen ohne Fernseher ins Kloster! Frag doch mal die Hallstein, vielleicht bietet die in der Gerichtsmedizin so was an!« Paul konnte nur den Kopf schütteln.

Das Festnetztelefon klingelte mal wieder.

Lena machte sich mit dem ersten Ton davon, um den Becher zu entsorgen. Die beiden Herren hatten mindestens ebenso großen Bammel, es könne erneut die Frau Professor sein, und schauten einander fragend an. Wieder einmal ärgerten die sich, dass man auf diesen displaylosen Uraltgeräten nicht mal den Namen des Anrufers oder wenigstens dessen Nummer ablesen konnte.

»Du bist neuerdings der Chef!«, meinte Karl nicht ohne bissigen Unterton.

»Und wenn’s der Kriminalrat ist? Dann musst ja doch du übernehmen!«

Der Einwand ließ Karl kalt, er verdrückte sich in sein Büro.

Es war nur der Alfred vom KTI: Bevor er jetzt endlich ins Bett gehe und sich über seine Susi hermache, die sich’s im Halbschlaf immer so gern besorgen lasse, wolle er ihm nur kurz mitteilen, dass sie bislang rein gar nichts gefunden hätten, nichts und nochmal nichts, keine Faser, Fingerabdrücke Fehlanzeige. Und obwohl natürlich noch längst nicht alle Untersuchungen abgeschlossen seien, seh’ es bislang so aus, als hätt’ der Täter oder die Täterin ’nen Ganzkörperanzug angehabt, »irgendwo kurz vor der Haustür angezogen, verstehst, kurz rein ins Haus, Gift in die Flasche und gleich wieder raus. Übrigens, was ich euch von der Hallstein mitteilen soll, mit ’nem hässlichen Gruß, wie sie meinte…«

Paul fiel eine Zentnerlast von der Seele.

»…Bei euch, sagt sie, kann sie gar nicht mehr anrufen, weil sie ständig Angst haben muss, wieder an das dumme Huhn zu geraten, das nichts begreift: Wen habt ihr denn da im Haus?«

»Halb so schlimm«, beruhigte ihn Paul, »wir kommen schon zurecht! Und wenn die Hallstein nicht mehr anruft, fehlt uns auch nichts.«

»Kann ich verstehen, ciao!« Und weg war der Alfred.

Augenblicklich sah Paul die große Chance, sich an Karl für dessen Feigheit zu rächen, und ging zu ihm hinüber: »Hör mal, du Superhero! Wenn du’s mir schon aus purer Feigheit überlässt, nochmals mit der Hallstein reden zu müssen…«

»War sie doch gar nicht! Was regst dich denn…«

»Ich reg’ mich nicht auf, leg’ dir aber mit Blick auf deine dienstliche Beurteilung und Karriere nahe, dass du uns umgehend ’ne Brotzeit holst, und zwar ’ne g’scheite! Hast ja grad eben ganz richtig festgestellt, dass ich der Chef bin, und das is’ jetzt ’n dienstlicher Auftrag!«

»Aber klaro, gern und sofort!« Karl, mit scheinheiliger Unterwürfigkeit und einem Ton in der Stimme, der verriet, dass er Schlimmes plane, obwohl er endlich was zu essen bekam.

Tatsächlich wusste er bereits, als er zum Jackett griff, wie er das dem Kollegen heimzahlen werde.

Kaum war er draußen, fand Paul, er und Lena könnten sich mal ’nen Superquickie gönnen, und griff ihr von hinten in den Ausschnitt. Er kam aber nicht mal bis zum BH, weil sie aufsprang und sich mit einem empörten »Spinnst jetzt?!« seinem Arm entzog.

»Hätt’ Lust auf ’nen kurzen Quickie, was meinst?«

Lena tippte sich an die Stirn: »Erstens sind Quickies immer kurz, und zweitens würd’ ich an deiner Stelle nicht mich, sondern die Binswanger fragen, die kann ihr Büro wenigstens von innen zusperren!«

»Mit ihr eher nicht«, meinte Paul kleinlaut, setzte sich der Lena gegenüber und holte Gustis Smartphone aus der Tasche. In seiner bleiernen Müdigkeit hatte er vorhin gar nicht bewusst wahrgenommen, dass er ihm zum Abschluss der Kurzbefragung das Spielzeug abgenommen hatte. Er warf den Computer an, um die letzten Daten, die auf dem Handy zu finden waren, mit seiner Liste im Bericht für Rosenheim abzugleichen.

Dann aber kam ihm eine weit bessere Idee: »Kannst du mir mal helfen, die beiden Handys miteinander abzugleichen? Du hast doch das von der Sissi noch!«

»Bild’ dir ja nicht ein, dass ich das einem von euch nochmal in die Hand geb’, ihr Mega-Spanner!«

»’s geht doch nur um den Datenverlauf am Tag, ob da vielleicht auch schon… Dasselbe Modell, wenn ich’s richtig seh’. Haben alle dasselbe Sony, der Fritz und die Lissi auch, guck nur!«

Lena kam gnädigerweise zu ihm herüber und schaute, ob sich was finden lasse. Dann drückten und scrollten, wischten und lasen sie mal hier, mal dort und stellten nach einiger Zeit fest, dass zwischen Gusti und Sissi gestern Vormittag nichts hin und her gegangen war.

»Hilfst du grad mal dem Karl?«

Der bekam, drei Kaffeebecher in den Händen, zwei Tüten unterm Arm, die Tür nicht auf. Lena ging, um ihn hereinzulassen.

STECKSCHUSS

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