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V

Hastig zog er sich an.

Auf der Treppe fluchte er in sich hinein und wählte Karls Nummer. Der sollte es, wenn schon ihm Liebesfreud und Nachtruhe geraubt waren, auch nicht besser haben, sondern mit ihm zusammen den Tatort begehen.

Nur die Mailbox war zu sprechen: »Polizeirevier Hochwiel, Polizeihauptmeister Harlander. Leider…«

Das kannte er, den restlichen Sermon auch. Er wollte es später nochmal probieren.

Immerhin war auf seinen Notruf-Spezi Kurt Verlass, der leitete alles Notwendige in die Wege: Der Erkennungsdienst würde so schnell wie möglich vor Ort sein, der Alfred vom Münchner EDI wohnte gottlob in Hochwiel. Und aus dem Krankenhaus war die Hallstein zu erwarten, die Rechtsmedizinerin. Die kannte er, wenn auch bisher nur flüchtig.

Kurz vor halb zwei betrat er das Haus Schießstättstraße sieben und wunderte sich über die unverschlossene Haustür. Vom Erkennungsdient war noch nichts zu sehen. Er entschied sich, die Sache fürs Erste allein in die Hand zu nehmen.

Am Ende des Flurs saß Fritz auf dem Boden, neben Georgs Zimmertür, wohin ihn Sissilissi verfrachtet hatten, lallte, die Beine gespreizt, vor sich hin und stierte auf das leere Display seines Smartphones, als erwarte er daraus erlösende Nachricht. Paul hatte er nicht bemerkt. Vor Suff und Müdigkeit fielen ihm ein ums andere Mal die Augen zu.

Auf Pauls »Hallo!« rührte er sich nicht, einzig ein täppischer Lacher entfuhr ihm. Dafür drang es von links aus dem Mädchenzimmer zaghaft und weinerlich: »Ja, hier!«

Als Paul in den Türstock trat, saßen ihm auf eng nebeneinander postierten Stühlchen die beiden gegenüber, in regenbogenfarbenen Bademäntelchen aus Seide, die Fersen auf der Sitzkante, die Arme um die Knie geschlungen, darauf das Kinn. Herzrührend schluchzten sie im Gleichklang und sahen, als sie Paul bemerkten, mit Unschuldsaugen zu ihm hin.

Sissi raffte sich zu einem halb geflüsterten »Da!« auf und zeigte mit den Augen nach gegenüber.

Paul drehte sich um und sah den Toten.

»Habt ihr was angefasst?«

Er versuchte, freundlich und rücksichtsvoll zu klingen.

Beide schüttelten synchron die Köpfchen mit den gleich langen, gleich braunen Haaren und schluchzten weiter. Sein mit unangemessener Strenge vorgetragener Befehl, sie sollten sich nicht rühren und weiterhin die Finger von allem lassen, wirkte nicht nur auf die armen Mädels befremdlich, sondern auch auf Frau Professor Hallstein: Die saß längst in Georgs Zimmer, in der Sitzecke rechts von der Tür, machte sich Notizen und krächzte rau:

»Schrei nicht rum wie ein Waldaff ’, Tölpel!«

Paul konnte sie bisher nicht bemerken, sie dagegen hatte ihn sofort gehört und rief ihm zu seinem jähen Schrecken, unsichtbar, wie sie für ihn war, mit ihrer Altweiberstimme aus dem Zimmer heraus zu:

»Herein, junger Mann, herein! Und frisch ’nen kühnen Blick gewagt ins Leichenschauhaus! Der Totenschein wartet auf dich!«

Ein unheimliches Kichern folgte.

Paul wechselte, blass und bleich, von Türstock zu Türstock und blieb stehen: Ohne Isolationskleidung konnte er den Tatort nicht betreten, ohne die hätte er vorhin vermutlich nicht mal den Gang entlang gehen dürfen.

Er schob den Kopf nach vorne und sah die Frau Professor rechterhand in ihrem weißen Ganzkörperanzug mit Kapuze, unter der, nebst ein paar rostroten Haaren, ein geradezu satanisch grinsendes Runzelgesicht hervorschaute.

Pauls zaghaftes »Guten Abend, Frau Professor!« konterte sie mit harschem Befehl:

»Bleib, wo du bist, du Frischling! Und von wegen »guter Abend«, mit ’ner Leiche zur schönsten Nachtstunde! Kennste den? ›Mami, darf ich mit Opi spielen?‹ ›Nein, mein Kind, der Sarg bleibt heute zu!‹«

Dazu lachte sie, während Paul sprachlos mit offenem Mund dastand, schrill auf, schüttelte den Kopf, als müsse sie sich über das Witzchen totlachen, und sank, so klein sie war, noch weiter in sich zusammen und ins Polster zurück.

Das Schluchzen aus dem Sissilissi-Zimmer wurde lauter, offenbar empörten sich die beiden Mädels genauso wie Paul, der freilich auch keine Silbe herausbrachte, um von der da im Eck die angemessene Pietät einzufordern.

Wieder zuckte er, als sie ihn plötzlich aus ihren kleinen Augen anblitzte und anherrschte:

»Befragen, los! Frag, wer’s von den dreien war, wer ihm das Gift reingemischt hat in den Fusel!«

Jetzt erst bemerkte Paul, dass Georgs tote Augen geradewegs auf ihn gerichtet waren, und erblickte die Zweiliterpulle billigen Soaves auf dem Tisch, daneben das umgekippte Glas in der ausladenden Weinlache über die halbe Glastischfläche.

»Gift, meinen S’, Frau Professor?«, fragte er wie betäubt. Wieder verstörte sie ihn mit ihrer Reaktion: »Arzt zur Frau: ›Zweifellos sind Sie vergiftet worden, Gnädigste.‹ Sie: ›Teufel! Womit denn?‹ Er: ›Das sehen wir demnächst bei der Obduktion.‹ Passt prima, nicht?«

Und schon ließ sie den nächsten gewaltigen Schwall hässlichen Gekichers los, das sie nur unterbrach, um erneut auf Paul einzuschimpfen:

»Befragen sollste, junger Mann! Was stehste denn sinnund tatenlos hier rum?«

Womit sie wieselflink ihr Schreibzeug verstaute, aufstand – sie war noch kleiner, als Paul vermutet hatte –, ihr Köfferchen packte und an ihm vorbeihuschen wollte.

»Wie lang ist er denn schon…«

»Nicht verwest, nicht mal in Teilen, kein Tierfraß…« Wieder schepperte kurz ihr abscheuliches Gelächter auf. »…keine witterungsbedingten Veränderungen: also ein bis drei Stunden.«

Das folgende Gekicher galt Paul, den sie damit ein letztes Mal auf den Arm nahm, ohne dass er es ihr hätte heimzahlen können.

Als sie sich an ihm vorbeidrückte, schaute sie ihm von schräg unten scharf und verstörend in die Augen, ganz kurz, und drückte ihm mit ihrem Einweghandschuh eine Schachtel Tabletten in die Hand:

»Für die zwei Hühner da drüben auf der Stange! Erleichtert das Reden. Der alkoholvergiftete Jüngling da kriegt nichts, sonst stirbt er dir weg wie sein Freund! Adieu, Püschl Paul!«

Als er verdutzt von der bunten Schachtel aufsah, war die Hallstein fort, im Zwielicht des Flurs jedenfalls nicht mehr zu erkennen: Lautlos musste sie auf ihren Plastiküberzügen davongehuscht sein.

Von draußen glaubte er ein geradezu unmäßiges Gelächter zu hören.

Hat wohl gleich noch ’nen Termin auf dem Blocksberg!, dachte er und stellte sich vor, wie sie dort unter lauten Verwünschungen und diabolischen Flüchen im weißen Ganzkörperanzug auftaucht, ihn wütend vom schrumpeligen Leib reißt und sich zu ihren schauerlichen, schlabberbusigen Mitschwestern gesellt, die dabei sind, über offenem Feuer in einem riesigen, rotglühenden Bronzetopf ein Hexenelixier zu brauen, während andere, Häme in den schwarzen Gesichtern, Hexensalben panschen und der Teufel es allen, die da vor sich hin werkeln, von hinten besorgt, einer nach der andern.

Noch immer stand Paul wie traumverloren zwischen Georgs Leiche, dem unzurechnungsfähigen Fritz und den schluchzenden Mädchen. Die Vorstellung vom sexualaktiven Beelzebub führte seine Gedanken für einen Augenblick zurück zu Lena: Ob er sie aus dem Bett läuten und herbestellen sollte, damit sie auch mal mitbekommt, wie ein echter Tatort aussieht?

Er freilich hatte bisher auch noch keinen gesehen.

Der Erkennungsdienst kam, Alfred vorneweg. Die Hand konnten sie sich wegen der Handschuhe nicht geben.

Alfred putzte Paul durch den Mundschutz hindurch erst mal kräftig herunter: Warum er hier in seiner Alltagskluft rumstehe? Hinterher sei wieder irgendwas kontaminiert, weil er gehustet oder gerotzt hab’! Und ob das der Täter sei?

Mit der Fußspitze zeigte er auf Fritz, der nach wie vor seine anhaltend zähe Apathie pflegte, aber immerhin schon wieder, wenn auch im Zeitlupentempo, auf dem Smartphone rumdrückte, blindlings. Vermutlich suchte er gar nichts Bestimmtes.

Alfred setzte den Alukoffer ab, nahm den FingerabdruckScanner heraus und machte sich damit über Fritz’ Hände her, er stellte sie willenlos zur Verfügung. Auch Sissilissi folgten brav und weinten danach noch ein klein wenig lauter. Um sich das Gejammer nicht weiter anhören zu müssen, vor allem aber, um den Mädchen den Anblick der nackten Leiche zu ersparen, zog Paul ihre Zimmertür zu. Inzwischen hatten nämlich drei aus der ED-Truppe Georgs sterbliche Hülle fasernackt ausgezogen.

Als Paul den Alfred etwas betreten anguckte, klärte der ihn auf:

»Solltest noch wissen aus deiner Ausbildung, du Dödel, dass man das mit jeder Mordoder Selbstmordleich’ macht!«

»Die Hallstein war doch schon da und hat gemeint, dass er vergiftet worden ist«, erklärte Paul seine Verwunderung.

»Was?!«

Alfred zürnte erneut und noch heftiger, der sichtbare Teil seines Kopfs begann sich dunkel zu verfärben. Dumpf klang’s aus dem Mundschutz, er schnaufte hörbar.

»Was wollte die denn vor dir, obwohl sie hier rein gar nichts verloren hat? Die hättste doch erst rufen sollen, wenn unklar ist, ob er sich selber kalt gemacht hat oder ’n anderer!«

»Ja, und? Isses dir vielleicht klar? Mir nicht!«

»Und was hat die schräge Vettel gemeint?«

»Wenn ich ihren verqueren Witz richtig verstanden hab’: Vergiftet, kein Selbstmord.«

»Und woraus hat sie das geschlossen, die Frau Professor?«

»Frag mich nicht! War eh ganz komisch drauf, die Alte!« Alfred schüttelte den Kopf und ging in Georgs Zimmer, wo einer gerade die Leiche fotografierte. Zwei untersuchten den Tisch, die Flasche und das Glas, zwei weitere nahmen alle möglichen Kleinigkeiten in Augenschein und hantierten mit einem 3D-Laserscanner. Von draußen kamen, lautlos auf ihren Überschuhen, zwei weitere, die sich in der Küche zu schaffen machten, und direkt nach ihnen drei stämmige Kerle, ebenfalls ganz in Weiß, mit dem Aluminiumsarg.

»Wer hat denn euch schon bestellt, sagt mal?!« In Alfred keimte noch heftigere Wut. »Womöglich die Hallstein?«

Alle drei nickten wortlos und machten sich daran, den toten Georg in die längliche Alu-Kiste zu legen.

Als sie verschlossen war, sah Paul dem Abtransport hinterher und stierte noch ins Leere, als Sarg und Träger schon im Freien waren.

Dann verzog er sich ins Sissilissi-Zimmer: Die beiden wollte er nun doch mal befragen. Vielleicht war hinterher sogar mit dem Fritz was anzufangen.

Mittlerweile saßen die Mädchen auf der Kante des breiten Betts gegenüber der Tür, in derselben Stellung wie zuvor auf den Stühlen. Von denen drehte Paul einen um und setzte sich, worauf Lissi so losheulte, dass Sissi sie in den Arm nahm, mit zwei Fingerchen hinterm Ohr streichelte und in dasselbe offenbar was ganz, ganz Schönes flüsterte. Jedenfalls beruhigte sich die liebe Freundin nach und nach und nahm widerspruchslos wie Sissi eine der Hallstein’schen Tabletten, die ihnen Paul weisungsgemäß hinhielt:

»Die Frau Doktor sagt, das bekommen Angehörige und Freunde von Mordopfern immer, wenn…«

Wieder bekam Paul einen heftigen Schreck, denn böse und laut fuhr ihm Sissi ins Wort:

»Sind wir total gar nicht, Angehörige und Freunde und so, wir heulen bloß, weil der so eklig ausgeschaut hat, weiß nich, und nicht, weil der irgendwie ’n Freund war!«

»Sachte, sachte, Mädels, macht mal halblang!« Paul wechselte in polizeilichen Amtston: »Freunde oder nicht, neben dem Umnachteten da draußen seid ihr diejenigen, die dabei oder in der Nähe waren, als der junge Mann im Zimmer gegenüber verstorben ist: also!«

Er war aufgestanden, hatte jeder ein Glas aus dem Wandregal in die Hand gedrückt und aus der Wasserflasche auf dem Tischchen eingeschenkt.

»Und jetzt runter mit dem kleinen Ding! Hab’ keine Lust, mir euer Geflenne bis zum Morgengrauen anzutun!«

Folgsam taten sie, was der strenge Polizist verordnete, und schluchzten tonlos weiter, während Paul in längerer Rede darlegte, was er von ihnen alles wissen müsse.

Dann fiel ihm wieder ein, dass er den Karl an den Tatort hatte bestellen wollen. Der war schließlich, wenn Rosenheim schon kein Kripopersonal hierher beordern konnte, sein Dienstvorgesetzter, jedenfalls formal.

Wieder nichts, nur die Mailbox. Und an den Festnetzapparat bei ihm daheim ging keiner, auch nicht sein Bub, der Gusti.

Das Schluchzen und Schniefen ließ während der anschließenden Befragung bald nach, offenbar handelte es sich bei diesem Sedativum der Hallsteinhexe um eine kräftige chemische Keule, die ihm dabei half, einiges über die Verhältnisse im Hause zu erfahren:

Zugesperrt hätten sie die Haustür seit einem Jahr nicht mehr, das sei megaspießig und Totalkack! Letzten Sommer seien sie durch Schottland getrampt, durch die Highlands, und da hätten sie überall total coole Leute getroffen, die überhaupt nie die Türen versperren. Das hätten sie dinogeil gefunden und dann hier durchgesetzt.

Auf Pauls Fragen nach dem Verlauf des Abends ergab sich folgendes Bild:

Die vier jungen Leute wohnen hier als WG, seit rund zwei Jahren. Alle gehören demselben Abiturjahrgang zwodreizehn an, alle studieren sie in München: Sie beide Kunstgeschichte, der Schorschi war Altsprachler, der Fritz will Arzt werden. In letzter Zeit hatten sie nicht selten, manchmal lang und laut, krassen Stress, vor allem der Fritz mit dem Schorschi. Diesen Abend gab’s, wieder mal, ’nen Schlichtungsversuch, mit ’ner Art Versöhnungsessen: Spaghetti Aioli, eine Zweiliterpulle Weißwein tranken sie dazu. Zwei davon hatte Schorschi noch kurz vor acht besorgt, die zweite nahm er nach dem Essen mit auf sein Zimmer, nachdem sie alle vier schon wieder wegen ’ner Nichtigkeit zu streiten begonnen hatten. Sie, Sissilissi, zogen sich gegen neun zurück, zum Studieren, die Jungs soffen in Schorschis Zimmer weiter und wurden gegen zehn so massiv laut, dass es durch beide Türen zu hören war. Schließlich machten sich die Jungs ins Fuchsbräustüberl davon, wo sie schon x-mal versuchten hatten, mit sich ins Reine zu kommen. Wenn sie’s früher gelegentlich hinbekamen, hielt’s nie lange vor.

Vorhin tat’s an der Tür einen dumpfen Schlag. Als sie öffneten, fiel ihnen der Fitz vor die Füße, gegenüber entdeckten sie den verkrümmten Schorschi mit seinen toten Augen. Sissi rief sofort die Notrufnummer. Seltsamerweise war dann als Erste die Frau Doktor da, die gar nicht nett zu ihnen war und sie hier in ihr Zimmer daeinscheuchte. Sie sahen aber, wie sie an dem Toten und am Tisch herumschnupperte und sich in die Ecke verzog. Den Fritz setzten sie neben die Tür, seither sitzt er da und ist weggetreten.

Wieder kam Paul sein abgängiger Kollege in den Sinn. Wieder rief er an, wieder nichts. Immerhin fiel ihm dabei ein, dass er unbedingt die Handys dieser schwer verdächtigen WG-Mitglieder einsammeln müsse. Lissi gab das ihre widerstandslos her. Auf die Idee, dass die Sissi ein eigenes haben müsse, kam er nicht, weil ihm die beiden die ganze dreiviertel Stunde über, die er sie befragte, wie eineiige Zwillinge vorgekommen waren.

Anschließend nahm er Fritz das Smartphone aus der Hand, wobei der tatsächlich eine Art Widerstand erkennen ließ, indem er es nicht nur für ein, zwei Sekunden festzuhalten versuchte, sondern auch gegen die Maßnahme anmurrte. Dann zog er sich wieder in seine alkoholische Apathie zurück. Seine Stellung mit den zwei Armen neben den Beinen und den nach oben gekehrten Handflächen hätte der eines Yogakünstlers in vollgültiger Trance gleichen können, der in rechter Versenkung seinen Hosenlatz betrachtet, hätte er nicht damit begonnen, sich von einem enormen Schluckauf tyrannisieren zu lassen, der den Burschen ein ums andere Mal ganzkörperlich erschütterte und hob, so dass er nach und nach Gefahr lief, die bislang halbwegs stabile Haltung einzubüßen, an der Wand abzurutschen und, zuletzt flachliegend, die ganze Breite des Flurs einzunehmen.

Als Paul sich wieder den Mädchen zuwenden wollte, winkte aus Georgs Zimmer, in dem noch immer rege Betriebsamkeit der Erkennungsdienstler herrschte, Alfred mit einem Asservatentütchen: Georgs Smartphone war darin.

»Fingerabdrücke von anderen sind nicht drauf. Könnt ihr euch schon mal vornehmen, das Ding.«

Warum er von »ihr« redete, verstand Paul rein gar nicht, schließlich stand er hier noch immer allein herum. Dieser Arsch von Karl war ja nicht zu erreichen.

Er probierte es ein viertes Mal, nachdem er dem Alfred knapp gedankt hatte: Ergebnis wie gehabt.

Der ist doch jeden Mittwochabend beim Karteln in München!, sagte er sich, da kommt er doch immer mit dem letzten Zug zurück und ist spätestens um halb zwei daheim! Sein Bub, der Gustav, schlief sicher längst und hörte das Festnetztelefon nicht, oder sie hatten es ganz abgeschaltet. Aber der Karl muss doch wenigstens sein Diensthandy eingeschaltet haben!

Wie blöd von ihm, dass er das seine vorschriftsmäßig angelassen hatte, als er sich an der Lena fleischeslüstern zu schaffen machte! Und grad, als das Präludium so gut wie vorbei war…

Er wollte gar nicht mehr daran denken. Und sich auch nicht vorstellen, wie das ausgehen würde, wenn er demnächst mit einem halben Notizblock voller Einträge in seine Wohnung zurückkommt und sie aufweckt, um das Liebesscharmützel von vorn anzufangen.

Wahrscheinlich schlief sie längst tiefer als tief. Oder sie war gar nicht mehr da.

Georgs Handy mitgerechnet, hatte er jetzt drei in den Jackentaschen und wusste nicht, wie und wo er mit seinen Ermittlerpflichten am Tatort weitermachen sollte.

War es ein Anflug menschenliebenden Mitleids oder das Ergebnis praxisbezogener Überlegung?

Er griff den Fritz unvermittelt unter den Achseln, versuchte vergeblich, ihn zum Aufstehen zu bewegen, und schleifte ihn ein Stück den Flur entlang ins Zimmer gegenüber der Küche, in der nach wie vor die umtriebigen EDLeute wurstelten. Mit geradezu rührender Sorgfalt legte er seine Fracht auf das Sofa, sorgte für stabile Seitenlage und deckte Fritz zu, ehe er den aberwitzigen Versuch unternahm, Antwort auf eine Frage zu bekommen:

»Wo warst denn heut’ Abend?«

Das konnte er noch so herrisch-fordernd vortragen – Fritz tat zwischen zwei Schluckaufattacken einen kurzen Lacher und würgte auf den hin so bedenklich, dass Paul sich auf den Laminatboden setzte, um ihn zu bewachen: Der war Zeuge, wenn nicht gar Verdächtiger, und es galt, alles zu tun, um ihn vor dem wahrlich nicht unwahrscheinlichen Erstickungstod zu bewahren. Wäre nicht der erste Besoffene, der an der eigenen Kotze draufgeht!

Paul wurde ein wenig bange.

Wahrscheinlich hätte er all das gar nicht gedurft: den Leuten die Handys wegnehmen, den besoffenen Fritz am Mordzimmer vorbei in das seine schleifen, und vermutlich schüttelte Alfred, obwohl er ihn gewähren ließ, ein ums andere Mal den Kopf, wenn er mitbekam, was er so alles trieb.

Nachdem er eine Weile wie eine Kindsmagd Wache gehalten hatte, sah es endlich so aus, als wär’ der Patient eingeschlafen: Er atmete gleichmäßig und tief, würgte nicht und schnarchte barbarisch, mit kurzen Unterbrechungen.

Wieder überkam Paul ein finsterer Gedanke: Was, wenn er soeben den Mörder notversorgt hatte? Der hier kam genauso infrage wie die Unschuldslämmlein nebenan, die womöglich großartig schauspielerten und in Wirklichkeit…

Er stand auf und ging nochmals zurück zum SissilissiZimmer. Es war ihm noch was eingefallen, was es abzuklären galt: Auch Karls Sohnemann Gusti gehörte doch dem Abiturjahrgang zwodreizehn an, wenn er sich nicht schwer täuschte!

»Kennt ihr den Harlander Gusti?«

Die Frage stellte er überfallartig vom Türstock aus, setzte sich wieder auf den Stuhl vor dem Bett und sah die zwei zierlichen jungen Damen scharf an.

»Den Gusti?« Sissi klang längst nicht mehr so weinerlich wie vorhin.

»Klar!« Lissi nahm ihr die Antwort aus dem Mund. »Hat mit uns Abi gemacht und ist jetzt Pharma-Studi. Manchmal sehen wir ihn halt auf der Fahrt nach München…«

»… und am Anfang wollt’ er, weiß nich, auch mal hier einziehen und so…«

»…isser aber zu spät gekommen, weil der Schorschi war schneller…«

»…und sein Dad, der andere Bulle wie du, fand’s, glaub’ ich, auch nicht so cool…«

»…wegen dem Geld und so und weil der doch eh das Haus daheim, weiß nich, das hat er für sich ja solo meistens…«

»…weil sein Dad ist ja meistens im Dienst irgendwie.«

Bemerkenswert, dachte Paul, wie sie einander ablösen: Das perfekt eingespielte Pärchen! Denen ist zuzutrauen, dass, wenn alles auf sie als Mörderinnen hinausläuft und sie quasi schon überführt sind, jede behauptet, sie sei’s gewesen, um die Verurteilung unmöglich zu machen! Dann kämen sie höchstens wegen Beihilfe in den Knast, alle zwei. Aber da würden diese Zierpflänzchen ganz sicher binnen kürzester Zeit eingehen wie die Primeln.

Er sann vor sich hin und stellte sie sich in Einzelzellen vor, wo sie herzergreifend und pausenlos nach der andern jammerten. Und großes, großes Mitleid, ja tiefes menschliches Rühren überkam ihn.

Dass ihm der Mund offen stehen blieb, hatte einen anderen Grund: Die zwei hielten die Befragung offenbar für beendet, standen ohne Vorwarnung auf, ließen gleichzeitig die Regenbogen-Mäntelchen zu Boden gleiten und huschten, nackt, wie sie waren, in ihr Doppelbettchen, Sissi von links, Lissi von rechts, und ehe Paul begriff, was und wie ihm geschah, schauten ihm über den Saum der einteiligen roten Plüschdecke zwei traurige Gesichtchen entgegen, die er so deutete, dass er doch ratzfatz mit hineinkriechen und sie beide recht nach Männerart trösten solle.

Das traute er sich dann doch nicht, einmal, weil er nicht zu Unrecht eine ebenso schmerzhafte wie schmachvolle Abreibung befürchtete, zweitens wegen der Schnüffler und Fingerwuzler gegenüber, die einen noch so flotten Dreier am Tatort mit zwei der Hauptverdächtigen in den Protokollen wahrscheinlich übel vermerkt hätten. Und drittens wär’s als Folge davon mit der Lena aus: Nicht recht vorstellbar, dass sie für derart außerplanmäßige Formen der Ermittlungsarbeit großes Verständnis aufbrächte, auch wenn auf diese Weise den zwei Süßen – er musste ja nur zu einer gewissen Höchstform auflaufen – sicher einiges mehr zu entlocken wäre als die paar dürren Daten, die sie ihm bislang in den Notizblock diktiert hatten.

Dass sich sein Meister Iste, der von der Aktion mit Lena her noch in bester Stimmung war, ausgerechnet jetzt, im unpassendsten Moment, massiv bemerkbar machte, war auch nicht erbeten, aber angesichts des soeben Gebotenen unvermeidlich. Als wirksame Gegenmaßnahme fiel ihm auf die Schnelle nur ein, zum Handy zu greifen und es wieder bei Karl zu versuchen.

Achtmal ließ er’s klingeln und schüttelte dazu doppelt so oft mit dem Kopf.

Sissi und Lissi guckten sich ängstlich fragend an, als würden sie befürchten, er rufe einen Kollegen zum Doppelzweier.

Gusti!, fiel Paul ein, während er den Hörer am Ohr hatte und hinter vorgehaltener Hand endlich zwei Sätze auf die Mailbox murmelte. Dieser Gusti! Ein paarmal hatte er ihn gesehen: ein Bub, der über all die Jahre einer geblieben war. Stark pickelig hatte er ihn in Erinnerung, mit tränenverhangenem Blick, als müsse er jeden Augenblick losheulen, und ständig vermittelte er den Eindruck, als wolle er tröstend in den Arm genommen werden. Der also war…

Nein, es war überhaupt nicht auszuschließen, dass das Bübchen irgendwie mit drinsteckte, bei seiner persönlichen Nähe zu den Mitstudenten hier und somit zum Toten: Junge, Junge, das wär ’n Ding!

Schon taten sich in seiner Vorstellung komplizierteste Verwicklungen auf: Was ergab sich aus der Befangenheit Karls, der, wenn aus Rosenheim weiterhin keiner von der Kripo kommen konnte, nach Lage der Dinge Chefermittler geworden wäre? Aber so? Dass Gusti zu den Hauptverdächtigen zählte, bedeutete nichts anderes, als dass letztlich er, Paul selbst, unmittelbar mit der Leitung der Ermittlungen betraut werden musste – ein Gedanke, der ihn kurz erschauern ließ.

Aufstehen konnte er noch immer nicht, zu nachhaltig machte ihm die Aufmüpfigkeit seines Triebkopfs da unten zu schaffen, dessen Aufstand zu bekämpfen er momentan kein Mittel fand. Und dauernd in die zwei netten Gesichtchen zu starren, die süß-traurig nebeneinander unter der Bettdecke hervorguckten und fragend zu ihm herschauten, brachte nicht einmal Linderung, geschweige denn eine Lösung.

Ein Themenfeld fiel ihm doch noch ein, das sich notfalls ausdehnen ließ, bis seine Natur sich zur Mäßigung entschloss:

»Der Gusti: Wie oft, wie regemäßig war der hier?«

»Total selten, weiß nich, und nur ganz manchmal, nicht so regelmäßig.«

Lissi klang dumpf, den Saum der Decke hatten beide unter die Näschen gezogen.

»Andere Besucher, gleich ob einmalig, selten oder oft: Namen?«

Sie schoben die Köpfe heraus und drehten die Gesichtchen einander gleichzeitig zu, Sissi das ihre nach links, Lissi das ihre nach rechts, als würden sie synchron überlegen.

»Alle paar Monate mal die Alten vom einen oder andern und so.«

Lautes Geschepper von draußen unterbrach die Unterhaltung und ließ die Mädchen zusammenfahren: Wie sich’s anhörte, war in der Küche ein großer Geschirrstapel zusammengebrochen. Mehrere Töpfe mussten dröhnend auf den Fliesenboden gefallen und ein paar Teller zu Bruch gegangen sein. Es folgte harsches Gefluche: Die Erkennungsdienstler hatten unüberhörbar Mist gebaut.

»Und sonst?«

Paul tat, als hätte der Murks, den die Kollegen draußen veranstalteten, keinerlei Bewandtnis für sie hier drinnen. Ebenso überrascht wie erfreut aber stellte er fest, dass der plötzliche Schreck, der auch ihm in die Glieder gefahren war, die beschriebene Not schlagartig beseitigt hatte.

Er nutzte die Gelegenheit sofort, um aufzustehen und im Zimmer herumzugehen, in der Hoffnung, durch diese Maßnahme einem neuerlichen Malheur vorzubeugen.

Wieder sahen sich die zwei an, wobei in ihrem Fall der kurze Schreck nichts kleiner, aber die Augen größer gemacht hatte, und antworteten in geregelter Abwechslung:

»Mal ’ne Freundin von uns…«

»…mal ’n Freund von denen, weiß nich…«

»…mal der Gusti…«

»Hatten wir schon!« Paul wurde unwirsch. »Weiter!«

»…manchmal der Jackie…«

»Heißt wie?«

»Jakob Bausemann. Den haben sie manchmal geholt, wenn…«

»…der Fritz und der Schorschi ihren Megabeef miteinander hatten und so.«

»Jetzt ist’s ja wohl vorbei mit dem Stress!«

Kaum hatte Paul den Satz gesagt, fand er ihn denkbar unpassend.

»Ja«, flüsterten beide und fingen, was er sich hätte denken können, wieder zu weinen an.

Tatsächlich schnäuzen die sich auch noch synchron!

Er konnte es nicht recht glauben, als jede wie auf Kommando ein Tempotaschentuch unter dem Kopfkissen hervorholte und hineinschniefte.

Urplötzlich fühlte er heftige Müdigkeit über sich kommen. Das war ihm deutliches Zeichen, dass es für heute Nacht genug sein musste.

Er schwenkte um: »Hört zu, ihr zwei! Sperrt euch ein, ausschlafen! Heut’ den ganzen Tag nix Uni, nix München und so: Ihr haltet euch zu unserer Verfügung. Klaro? Nix weiß nich und dergleichen! Essen in der Küche erst, wenn die Männer da draußen fertig sind.«

Schluchzend nickten sie im Takt und dem Paul noch hinterher, als er schon die Tür hinter sich zugezogen hatte.

»Wenn der nebendran wider Erwarten aufwachen sollte, lasst ihr ihn bittschön nicht gehen! Den brauchen wir morgen Früh.«

»Geht klar«, versprach Alfred, »haben hier eh noch die ganze Nacht zu tun.«

»Und dass mir keiner die Presse rebellisch macht!«

Das machte Alfred gleich wieder ungehalten: »Wir doch nicht! Wie kommste denn da drauf, du Spinner?!«

Paul zuckte mit der Schulter, hob die Rechte zum Gruß und machte sich mit drei fremden Handys in den Taschen davon.

Zum sechsten Mal versuchte er’s bei Karl: Nichts!

Lena schien tief zu schlafen und ihn nicht zu hören, als er so leise wie möglich das Schlafzimmer betrat.

Seine Müdigkeit war auf einmal wie weggeblasen.

Er verspürte eine geradezu perverse Lust, jetzt noch, kurz vor drei, einen ausführlichen Bericht über die Tatortbegehung in den Computer zu tippen, setzte sich hin, legte die Handys nebeneinander und den Notizblock dazu, schob die Pulloverärmel hoch und begann die Tastatur ungestüm zu bearbeiten.

Die ganze Zeit über, in der er hemmungslos seine Schreibwut austobte, guckte aus dem linken Mundwinkel die feuchte Zungenspitze.

STECKSCHUSS

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