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VIII

Nachdem Lena eine Weile mit wachsender Wut vergeblich am Kaffeeautomaten herumhantiert hatte, holte sie die Frau Binswanger zu Hilfe, die aber auch nicht weiterwusste.

Sie zog sich verärgert wieder in Pauls Büro zurück und tat im Vorbeigehen, als gehe sie dessen Wortgefecht mit den gruseligen Alten nichts an.

Der Streit von vorhin fiel ihr ein, zwischen Paul und Karl. Da für sie momentan sonst nichts zu tun war, bis die zwei Mädels aufkreuzten, entschloss sie sich, ein Telefonat nach München zu führen. Es ging aber niemand an den Apparat, Mailbox gab’s auch keine. Sie wechselte nach nebenan, las auf Karls Computer den Ottl-Bericht und schüttelte den Kopf, aus mehr als nur einem Grund.

Vom Flur her hörte sie verwundert Paul weiterhin Unverständliches schreien, bis auf einmal wieder alles ruhig war.

Kurz darauf klopfte Frau Binswanger: Die beiden jungen Damen seien da.

Als sie sich im kleinen Nebenraum von Pauls Büro am Schreibtisch gegenübersaßen, hier die Lena mit fragendem Blick, dort die Sissi und die Lissi, sahen die sich zunächst schweigend und schüchtern an, als wüssten sie nicht recht, wer’s der Frau Polizistin sagen solle.

Lena leistete Hilfestellung, indem sie freundlich zu verstehen gab, dass sie über die Vorgänge letzte Nacht weitgehend im Bilde sei, und fragte noch ein Stückchen freundlicher, womit sie dienen könne.

»Wir haben…« Lissi gab sich einen Ruck. »Wir sind… also der Polizist heut’ Nacht, der hat uns wahrscheinlich im Verdacht und so, weil er hat uns gar nicht nach ’nem Alibi gefragt.«

Lena verstand diese Logik zwar nicht, nickte aber verständnisvoll und wunderte sich insgeheim, warum Paul, so lange er die beiden auch interviewt hatte, auf diese naheliegendste aller Fragen nicht gekommen war. Andererseits war es bedenklich bis verdächtig, wenn jemand sein Alibi unaufgefordert frei Haus lieferte.

»Und? Was habt ihr für eins?«

Wieder schauten sie sich scheu und zweifelnd an. Endlich holte Sissi zögerlich ihr Smartphone aus der Jackentasche und legte es ebenso zögerlich vor Lena auf den Tisch: »Ist da drauf.«

Sie versteckte ihre Händchen im Schoß und schaute nach unten in denselben, während Lissi der Lena, die sie neugierig fragend anschaute, einen hilfreichen Tipp gab: »Auf der WirDatei, links oben: Da ist’s drauf, unser Alibi.«

»Aha!« Lena war nicht wenig verwundert und nahm das Kästchen an sich. »Wie das?«

Beide schwiegen schüchtern und warfen sich ein paar verstohlene Blicke zu.

»Na, dann schauen wir mal!«

Was Lena schon in den ersten Sekunden sah, gab ihr deutlichen Aufschluss darüber, warum die zarten Dingerchen in dieser Sache unbedingt mit einer Frau hatten sprechen wollen.

»Oha!«, entfuhr es ihr halb belustigt, halb verblüfft, als sie das Filmchen hatte anspringen lassen: Die beiden lächelten und winkten lustig, fasernackt, kurz in Richtung filmendes Phone. Dann legten sie auf dem blanken Betttuch los: Erfrischende Wohllaute, heftiges Rascheln des Bettzeugs, gelegentliches Quietschen des Bettgestells. Lissis Kopf verschwand plötzlich zwischen Sissis zarten Schenkelchen, tauchte zur Hälfte wieder auf, verschwand wieder, kam erneut ein Stück zum Vorschein und machte Bewegungen, als müsse sie ständig was bejahen, während es der Sissi immer besser zu gehen schien, sie das eigene Köpfchen mit halb geöffnetem Rosenmund schön langsam in den Nacken bog und unter süßen Stöhnerchen das der Lissi mit beiden Händen forsch an den Haaren grapschte.

»Oioioi!« Es klang beinah anerkennend. »Und wie lang geht das so weiter da drauf?«

Sissi fing an zu schluchzen und weinte ein bisschen, in ihren Augenwinkeln erschienen zwei schimmernde Tröpfchen.

Als Lissi ihr ein Taschentuch gab, hatte sie selbst keins mehr, um sich zu schnäuzen.

Lena half aus.

»So zwei Stunden«, flüsterte Lissi ins weiße Tempo hinein.

»Ja sauber!« Lena gab sich erstaunt und verkniff sich einen Lacher, weil im Film die Lissi soeben das lächelnde Köpfchen ganz kurz aus der Sissi’schen Schenkelzange hob und listig in Richtung Handy zwinkerte. »Und das ist also euer Alibi?«

»Ja, klar!« Sissi riss sich zusammen. »Weil da läuft doch unten die ganze Zeit die Zeit mit und so, und da kann man uns dann auch drauf sehen, weiß nich, in der Zeit, da wo’s passiert ist mit dem Schorschi, wahrscheinlich.«

Ob sie denn bei ihren munteren Spielchen von gegenüber überhaupt nichts gehört hätten? Lena, sehr geneigt, den beiden Püppchen zu glauben und sie aus dem Kreis möglicher Verdächtiger auszuschließen, was sie natürlich ernsthaft erst konnte, wenn die Gerichtsmedizin den genauen Todeszeitpunkt festgestellt hatte.

»Nein, total gar nichts, nada, null! Echt!« Lissi, ein bisschen weinerlich, als müsse sie die Lena auf die Mitleidstour überzeugen. »Weil erstens sperren wir immer ganz fest zu dabei seit einiger Zeit, und dann sind wir manchmal auch echt mega laut, wenn wir’s machen, klaro, jetzt dann im Film auch gleich, wo die Sissi halt total laut wird, wo’s anfängt dinomäßig geil zu werden und so.«

Beide hoben kurz die Köpfchen und lächelten sich an.

»Und Musik haben wir klaro auch angehabt dazu, kannste hören da, den L-Word-Soundtrack, wenn du mal genauer hinlauschst.«

Lena nahm’s ihnen nicht übel, dass sie anfingen, sie zu duzen, sie waren schließlich ungefähr gleich alt.

»Hör’ ich, ja. Kenn ich aber nicht.«

»Echt mega coole Nummer, der Soundtrack. Also eingesperrt haben wir uns gestern Abend schon in unserm Zimmer, obwohl sonst haben wir den Jungs ja klar gemacht, dass das Haus und die Türen und so offen bleiben.«

»Schottland, ich weiß.«

Da waren sie schwer überrascht, die zwei Mädels, dass die Lena so top informiert war!

Sissi sah in ihr offenbar bereits die Vertrauensperson, der man alles flüstern konnte. Warum sollte sie also nicht auch dieses und jenes Detail der WG-reality wissen dürfen? Das eine oder andere würde womöglich zum nicht unwichtigen Entlastungsfaktor für sie.

Lena kam im Folgenden mehr als einmal der Gedanke, ob die zwei nicht einfach glänzend schauspielerten, einen derart überzeugenden Eindruck eines aufeinander eingespielten Teams machten sie, wie in der Nacht auf Paul. Sie hörte sich gleichwohl alles geduldig und ruhig an, jede Einzelheit konnte von Wichtigkeit sein.

»Aber seit Anfang Mai, weißte, sperren wir immer zu nach der Sache im April, weiß nich, nach dem mit dem Schorsch.«

»Das mit dem Schorsch? Lasst hören!«

»Naja, also, wir waren halt grad dabei und so und total gut in Stimmung, und da steht auf einmal der Schorsch im Türstock, grad wo die Lissi am Kommen war, und glotzt und glotzt total megakrass, echt, und stottert irgend ’nen Scheiß von wegen Dreier und so, und da ist dann die Lissi aufgestanden und steil auf den Arsch zugegangen und hat ihm so ganz ohne Ansatz in die Eier getreten und so, und wo er sich dann seinen blöden Schrumpelsack gehalten hat, und rumgeröhrt hat er dazu wie ’n Vollhirni, da hat sie ihm noch ’nen Tritt verpasst in seinen Blödarsch, dem…«

»Ihr erinnert euch schon gelegentlich daran, dass er umgebracht worden ist, der Schorsch, während ihr über ihn herzieht?«

Sissi lief rosafarben an, Lissi nickte einsichtig, fuhr aber in ähnlichem Ton fort:

»Und dann isser auf den Flur rausgefallen, der Arsch, und hat dagelegen, und dann haben wir ratzfatz die Tür abgeschlossen, Schlüssel rum, zwei Mal, und dann hatten wir gar keine rechte Lust mehr, wegen dem blöden Dollbohrer dem!«

Bevor der abgeschiedene Georg noch weiter beleidigt werden konnte, wechselte Lena das Thema:

»Euer Smartphone muss fürs erste mal hierbleiben.« Lena schob’s in die Hosentasche.

»Ich garantier’ euch aber, dass es nicht in falsche Hände gerät. Ist ’n Beweismittel, sorry. Und jetzt beichtet mal: Dem Kollegen habt ihr heut’ Nacht gesagt, dass es unter euch vieren öfter mal Megastress gegeben hat in letzter Zeit: War das mit dem Georg, weil der gemeint hat, dass er günstig zu ’ner Doppelnummer kommt – war das der Auslöser für euren Dauerzoff? Oder was sonst?«

Wieder schauten sie sich fragend an, unschlüssig, wer was sagen solle. Lissi versuchte eine für ihre Verhältnisse geradezu diplomatische Darstellung: Leider sei nach diesem Vorfall auch der Fritz immer giftiger geworden, wahrscheinlich hab’ ihm der Georg seine eigene Version von der Sache geflüstert, und er, der Fritz, hab’ im Stillen wohl auch gehofft, er könne mal in ’ner ruhigen Stunde bei ihnen ’nen Dreier landen.

»Die Jungs«, übernahm eine leicht erhitzte Sissi, »sind ja echt sowas von blöd, Wahnsinn! Wie die andern alle in der Schule auch schon, weil keiner checkt, dass es Mädels gibt, die von ihrem schrägen Krummschwanz nichts wollen.«

Wieder errötete sie leicht. Lissi tat ihr’s in treuer Verbundenheit nach und ergänzte: »Am meisten und krassesten zoffen sich aber eh immer die Jungs…«

»Denk mal dran, dass es nur noch einer ist!« Lena musste erneut den moralischen Finger heben.

»…und meistens halt immer wegen der Rosi«, sekundierte Sissi.

Das überraschte Lena nicht: Von dieser Rosi war heut’ schon mal die Rede gewesen. Und sie hatte doch recht gehabt, als sie dem Paul am Morgen ins verschlafene Gesicht hinein sagte, es sei bei diesem Mord mit Sicherheit um ein Mädchen oder eine Frau gegangen!

»Was für ’ne Rosi?«

Lenas gespielte Überraschung überraschte die beiden.

»Na, die Hurlach Rosi, die alte Bumsnuss, die auch mit uns Abi gemacht hat und der immer schon alle hinterhergestiegen sind. Die ist immer mal wieder hierhergekommen und hat’s mit dem Fritz gemacht, wenn der Schorsch nicht da war, und mit dem Schorsch, wenn der Fritz nicht da war. So alle zwei, drei Wochen, dass sie mal vorbeigeschaut hat, und danach haben die zwei sich dann wieder tagelang gedisst und waren dino stinkig aufeinander, und zu uns auch!«

»Und warum habt ihr davon dem Kollegen nichts erzählt?«

Sie zuckten zierlich mit den Achseln, als wären sie sich einer kleinen Schuld bewusst.

Lena senkte verschwörerisch die Stimme: »Eifersucht also?«

»Klaro«, bestätigte Lissi, »wollt’ sie halt jeder für sich haben, und wenn sie’s mit dem einen gemacht hatte, hat der vor dem andern wieder ’n giga Triumphgeheul losgelassen und so, dass sie jetzt endgültig ihm gehör’, die Rosi, und lauter so ’nen Scheiß, und die Woche drauf war’s dann wieder andersrum. Echt stressig!«

»Und einmal…«

Lissi verstummte gleich wieder. Es war ihr unverkennbar arg, dass sie angesetzt hatte zu erzählen, was sie lieber für sich behalten hätte.

»Einmal: Ja? Was?«

Lena ließ es nicht zu, dass da was so einfach unterschlagen wurde. Also berichteten sie auch das noch, die Sissi fing an:

»Naja, einmal… war die Rosi ’nen ganzen Abend bei uns, so vor ’n paar Monten ungefähr, da hatte sie sich mit dem Fritz gedatet gehabt und mit dem Termin vertan irgendwie, und da is se einfach reingekommen. Wir haben dann halt stundenlang gequatscht und so, bis die zwei Jungs gekommen sind, vom Fuchsbräustüberl wahrscheinlich oder vom Quattro, wo sie sich mal wieder total zugebirnt hatten, jedenfalls waren sie alle zwei mega breit und haben sich gleich in ihre Zimmer verzogen, und die Rosi hat echt ’ne Menge coole Sachen erzählt von den Jungs, aus der Schulzeit noch und so, und ’n paarmal haben wir uns echt schlappgelacht und sind, weiß nich, beinah ausm Bett gefallen vor Lachen.«

Die Tür ging auf: Frau Binswanger! Man möge bitte entschuldigen, dass sie störe, aber es sei ganz, ganz wichtig: Rosenheim, die Rechtsmedizin! Ob sie, die Frau Lena, nicht schnell in ihr Büro mitkommen könne, das sei jetzt der dritte Anruf binnen kürzester Zeit, und der Kollege draußen auf dem Flur, der sei nicht wachzukriegen, und der andere offenbar außer Haus!

Lena entschuldigte sich – »Einen Moment!« – bei den Mädchen und begleitete die Sekretärin. Nachfolgend erlebte sie ein Vergnügen, das Paul schon in der Nacht genossen hatte, nämlich ein Gespräch mit Frau Professor Sibylle Hallstein.

»›Hören Sie, Sie müssen endlich zu wichsen aufhören!‹«

So fing sie an. Die arme Lena wusste nicht, wo ihr der Kopf stand, und schrie empört in die Muschel: »Wie bitte?!«

»›Warum, Herr Doktor?‹«

»Ich bin nicht der Herr Doktor!« Lena begriff nicht, was gespielt wurde.

»›Damit ich Sie untersuchen kann.‹«

Unmittelbar danach brach eine Lachsalve los, krächzend und scheppernd, gefolgt von dem freundlichen, noch immer von heillosem Gegacker unterbrochenen Hinweis:

»Bei Mannsbildern, weißte, Mädel, wirkt der Witz immer noch viel doller: ’ne Frau, die ihnen was vom Wichsen erzählt, worüber die Herren der Schöpfung ja grundsätzlich meinen, viel eher Bescheid zu wissen!«

Wieder folgte schneidendes Gewieher.

»Ist gut, der Doktorwitz, was?«

Lena, sonst alles andere als auf den Mund gefallen, fehlten die Worte. Was Paul ihr an Absonderlichkeiten über diese Hallstein erzählt hatte, schien noch um gewaltige Grade untertrieben.

»Erzähl’ den mal dem Paul und dem Karl, die haben sonst auch nicht viel zu lachen, wie ich weiß. Und mit dir, der Neuen, sicher noch viel weniger!«

Es folgte atemloses Gepruste, das nur allmählich versandete, danach ein weiterer Lacher, der sich überschlug. Lena traute sich nicht dazwischenzufunken.

»Und jetzt hör mal zu, du Huhn!«

»Also ich verbitte mir…«

Die Hallstein tat, als hätte Lena rein gar nichts gesagt, und schnitt ihr das Wort ab: »Wie ich gesagt hatte! Aber dein Paul, der Narr, wollt’ mir ja nicht glauben heut’ Nacht!«

Der nun folgende Lacher war, verglichen mit den Vorgängern, geradezu verhalten.

»Und was …?« Es war das Einzige, was Lena einwerfen konnte: Auch dieser Versuch einer Frage lief ins Leere.

»Gift im Wein, jede Menge konzentriertes Coniin! Und merk’ dir gefälligst die Begriffe, dummes Huhn!«

»Jetzt hören Sie mal, ich lasse mich hier doch…«

»…von niemand vögeln, jaja! Solltest du aber schon zwischendurch mal, Mädel! Der Karl kann’s besser als der Paul.« Das neuerliche Gewieher, das sie dazu losließ, war schlichtweg viehisch.

Lena war total perplex und so verstört, dass sie, zu Frau Binswangers Schrecken, den Hörer auf die Gabel knallte und erst einmal wortund ratlos dastand.

Keine halbe Minute später läutete es wieder. Wie in Trance nahm sie ab.

»Kann aber sein, dass der Paul sich inzwischen verbessert hat. Coniin ist Todesursache, hörst du, rund das Zehnfache der letalen Dosis, ein feines, sorgfältig hergestelltes Extrakt aus Conium maculatum – nachsagen!!«

Mit solcher Schärfe in der drohenden Stimme herrschte sie Lena an, dass die tatsächlich ›Conium maculatum‹ nachsagte und danach, weil die Hallstein jetzt sturzbachartig auf sie einredete, entgeistert den Mund offen ließ.

»Schierling, merk’s dir! Schierling findet man überall auf Wald und Flur, jederzeit auf Abfallhalden: Pflücken, Früchte und Wurzeln auspressen, fertig ist die Mordwaffe – und quassel nicht dauernd quer!«

Wieder erschrak Lena über den aberwitzigen Befehl so, dass sie nicht über ein »Ich hab’ doch …!« hinauskam.

»Angriff auf alle Nervensysteme, Verlust des Sprechvermögens, der Knabe konnte ziemlich schnell nicht mal mehr um Hilfe schreien! Alles sehr unschön. Armes Ding, was du dir so alles anhören musst!«

Ihr »Hihihi« darauf klang fast zärtlich.

»Hat beim Trinken nichts gemerkt, weil der Sud, den ihm die raffinierte Killerin in die Weinpulle gekippt hat, mit Honig versetzt war.« Ihr Sprechtempo nahm noch einmal zu.

»Handelsübliches Zeug, nimmt dem guten Coniin die Bitterkeit, musste wissen, raffiniert, nicht, wie der Nero – kennste den?«

Lena, wie automatisch: »Ja, klar, den römischen …«

»Red’ doch keinen Stuss, du Gör! Der Nero mit seiner befreundeten Giftmischerin, die er dauernd genagelt hat: Der hat so, genau so!, seinen Halbbruder um die Ecke gebracht, die Athener genau so den Sokrates!« Der Sprechduktus hatte die Grenze zum Panisch-Hysterischen überschritten. »Unschön, unschön, sag ich dir: Das Opfer kann nicht mehr sprechen, dann nicht mehr schlucken, Muskelkrämpfe, Atemlähmung zuletzt, alles bei vollem Bewusstsein: Stell dir das mal vor, du Gans! Der junge Bursch! Erstickt und schaut sich dabei zu! Ein Vieh, wer so was macht!«

Lena wusste nicht, ob die Hallstein mit dem letzten Satz die Mörderin, von der sie gesprochen hatte, oder den armen Georg meinte, der sich beim Ersticken hatte zuschauen müssen.

Ihr drohte schwindlig zu werden, so setzten ihr Ton, Inhalt und Hektik dieser unsäglichen Hallstein-Tirade zu.

Frau Binswanger schaute sie besorgt an und nötigte sie auf einen Stuhl.

Wahrscheinlich wäre Lena endgültig ohnmächtig geworden, hätte sie erahnt, was sich derweil im Kabäuschen von Pauls Büro tat: Sissilissi warfen sich, ganz allein gelassen, nach drei Minuten einen kurz Blick zu, standen auf und verließen lautlos Büro und Gebäude, unbemerkt von Paul, der tief atmend schräg auf dem Stuhl saß und schnarchte.

»Oder nicht? Nun sag’ doch auch mal was!«

Ein »Jaja!« war alles, was Lena zustande brachte, und schon ratterte die Hallstein weiter: »Dreikommaeins Promille hatte der Schorsch, ein Wahnsinn! Und ein Wunder, dass er überhaupt noch den Weg vom Fuchsbräustüberl in die Schießstättstraße gefunden hat! Ich hab’ euern Bericht genau gelesen, wie du siehst, hihi!, und einen Rechtschreibkurs solltet ihr alle drei dringend machen, schließlich gibt’s ’nen Unterschied zwischen das und dass

Erneut kam Lena nicht weiter als bis zu einem protestierenden »Aber…!«

»Drei-eins Promille, monströs!« Die irrwitzig schnell dahergeschnatterten Sätze wurden inzwischen durch Gemecker gegliedert. »Ungefähr acht Halbe Bier! Zuvor schon massiv Fusel, danach noch zwei Schoppen Fusel, versetzt mit Coniin, geschüttelt, nicht gerührt.«

Das ist das maßlose Blöken einer komplett Wahnsinnigen!, war Lenas entsetzter Gedanke zu dem, was die Hallstein absonderte.

Atemlos ratterte die Frau Professor weiter: »Säuft noch ’nen halben Liter hinterher, als er wieder auf dem Zimmer war! Die Weinpulle so gut wie leer, als ich reinkam! War wohl einer von den begnadeten Säufern, die nicht aufhören können, solange noch was da ist! Und das wusste die Mörderin ziemlich sicher!«

»Warum eine…«

»…Frau? Ja, warum wohl, dummes Ding? Gift ist Frauensache! Haste doch hoffentlich gelernt in deiner sogenannten Ausbildung! Vollsuff und Schierling: Da hat’s weiß Gott nicht lang gedauert, bis er aktionsunfähig war, der arme Bub! Todeszeitpunkt Mitternacht bis null Uhr dreißig. Kennste den? Hat ein Pathologe…«

Lena warf den Hörer noch heftiger auf die Gabel als vorhin, sie konnte nicht mehr. Schweißnass starrte sie die Wand hinter Frau Binswanger an, zitternd, während in ihrem Kopf die wirrsten Gedanken durcheinanderstoben und sich heftig bekriegten.

»Ja, manchmal ist sie anstrengend, die Frau Professor!« Die als Trost gedachte Feststellung der Sekretärin half Lena auch nicht weiter. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich ein halbwegs klares Bild von dem zu machen, was da soeben alles auf sie eingeprasselt war. Ihre Gedanken rankten sich an ein paar Begriffen hoch, die gefallen waren: Tatzeit, Schierling, Suff und Sokrates, Schutthalde, Extrakt und Atemlähmung, Mörderin, Promille.

Nachdem sie alles einigermaßen auf die Reihe bekommen und sich über dieses seltsamste aller bisherigen Telefongespräche im Kopf einen Kurzbericht zurechtgelegt hatte, den sie an die Kollegen weitergeben wollte, ging sie zurück in Pauls Büro, wo sie die beiden Mädchen zurückgelassen hatte. Schon von der Tür aus sah sie, der nächste nicht minder heftige Schreck, dass die Vögelchen ausgeflogen waren.

Das Handy! Die zwei haben ihr Handy wieder mitgenommen, die Biester!, war ihr erster Gedanke.

Als sie sich erinnerte, dass sie’s eingesteckt hatte, und es an ihrem Schenkel fühlte, überkam sie mit der Erleichterung urplötzlich tiefe Müdigkeit. Sie warf sich in den Sessel vor Pauls Schreibtisch und versuchte einige lange Minuten, starren Blicks zur kahlen Wand, nichts zu denken.

STECKSCHUSS

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