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2.3 Diagnostischer Prozess

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Die einschlägige Fachliteratur beschreibt den diagnostischen Prozess übereinstimmend als eine Aufeinanderfolge verschiedener Denk- und Handlungsschritte, wobei lediglich die Anzahl dieser explizit formulierten Schritte variiert (Jäger 2006; Paradies, Linser & Greving 2007; Kubinger 2009; Pospeschill & Spinath 2009; Rentzsch & Schütz 2009).

Als Ausgangspunkt für den diagnostischen Prozess dient eine Fragestellung oder Zielbestimmung. Der Diagnostiker wird mit einem Problem, einer Frage konfrontiert, aus der er zunächst eine differenzierte psychologische Fragestellung oder eine fachliche Zielbestimmung ableiten muss, indem er den in der Frage angesprochenen Sachverhalt präzisiert und operationalisiert. Ungenauigkeiten oder gar Fehler bei der Formulierung der Fragstellung oder Zielbestimmung wirken sich zwangsläufig ungünstig auf die Validität der Aussagen am Ende des diagnostischen Prozesses aus.

Nach der Präzisierung ist die Fragestellung in eine oder mehrere Hypothesen zu übersetzen, d. h., in psychologisch begründete und theoretisch fundierte Annahmen über das Zustandekommen des Problems, zur Erklärung oder Prognose eines Phänomens und damit auch darüber, welche Zustände oder Merkmale erfasst werden sollen. Diese Hypothesen werden dann im Lauf des diagnostischen Prozesses durch die Untersuchungsergebnisse bestätigt oder entkräftet.

Sind die Hypothesen formuliert, gilt es konkrete diagnostische Daten zu gewinnen. Hilfreich für das Bestimmen der Vorgehensweise und für die Auswahl adäquater Verfahren und Methoden ist eine gut operationalisierte und präzisierte Fragestellung. An die Planung des diagnostischen Vorgehens (wer, wann, wo, bei wem welche Daten erhebt) schließt sich dann die Durchführung der Untersuchung mit der Auswertung der Daten an. Die fach- und sachgerechte Deutung der Daten macht aus ihnen diagnostische Ergebnisse und führt zur Prüfung der bisher generierten Hypothesen. Eine nicht zufriedenstellende Hypothesenabsicherung ist in der Regel der Ausgangspunkt für das Entwickeln neuer Fragestellungen und das Aufstellen weiterer, zusätzlicher Hypothesen.

In das diagnostische Urteil werden alle vorliegenden diagnostischen Informationen bezugnehmend auf die Ausgangsfrage integriert und diese Datenintegration mündet ein in eine Diagnose oder Prognose, die als geprüfte Hypothese anzusehen ist. Wird der diagnostische Prozess nicht durch eine Intervention fortgeführt, findet er in der Regel durch ein psychologisches Gutachten sein Ende. Andernfalls stehen Entscheidungen über Indikation sowie Interventionsplanung an und die Beratung, Förderung oder Therapie wird diagnostisch im Sinne einer Verlaufs- und Erfolgskontrolle weiter begleitet.

Als Randbedingungen des diagnostischen Prozesses diskutiert Jäger (2006) allgemein-ethische oder berufsethische, rechtliche, gesellschaftliche und methodische Fragen, die vom jeweiligen Diagnostiker mitbedacht und beantwortet werden müssen:

• Genügt der Diagnostiker in seinem Vorgehen wissenschaftlichen Kriterien? Wo wurde eine Fragestellung angegangen, die mit den derzeitigen diagnostischen Möglichkeiten nicht gelöst werden kann?


Abb. I.3: Ablaufmodell des diagnostischen Prozesses (eigene Darstellung)

• Darf der Diagnostiker unter den gegebenen rechtlichen Bedingungen die notwendige und gewünschte Diagnostik vornehmen und besitzt er vor allem die Kompetenzen, um den diagnostischen Prozess regelgerecht durchzuführen?

• Inwieweit betrifft die individuelle Diagnose andere Personen, Personengruppen oder Institutionen und wer zieht welchen Nutzen aus ihr?

• Wie wirkt sich die Auswahl und vor allem die Qualität des eingesetzten Instrumentariums auf die Qualität der Hypothesenprüfung aus?

Da die Psychodiagnostik als methodische Disziplin im Dienste der Anwendung betrachtet wird und damit häufig der Vorbereitung und Fundierung praxisbezogener Entscheidungen dient, folgt die Diagnostik, so Pospeschill und Spinath (2009), weniger einem kausalen als vielmehr einem finalen Denkmodell. Geht es vor allem um die Veränderung von Personen, Situationen oder unerwünschten Zuständen, werden die im Zuge des diagnostischen Prozesses erhobenen Informationen nicht als Ursachen, sondern als Indikatoren für die Auswahl aus Alternativen verwendet. Es wird somit eben nicht nur festgestellt, was gegenwärtig ist, sondern vor allem auch, was in der Zukunft geschehen soll.

Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik

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