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Einführung

von Erwin Breitenbach

Theorien, Modelle und Konzepte aus der Psychologie werden in der Sonder- und Heilpädagogik mit einer großen Selbstverständlichkeit und mit langer Tradition zur Kenntnis genommen und für die eigene Theoriebildung ebenso genutzt wie für die Gestaltung der Praxis. Watzlawicks Theorie zur Kommunikation, Piagets Stufenmodell zur Denkentwicklung, Wygotskis Zone der proximalen Entwicklung, Lerntheorien, Ergebnisse der Einstellungsforschung, Bindungstheorie und Beobachtungen über die frühe Eltern-Kind-Interaktion, Beratungsmodelle, Intelligenzkonzepte, Erkenntnisse aus der Sprachentwicklungsforschung usw. haben in Theorie und Praxis der Heil- und Sonderpädagogik Einzug gehalten. Vor allem aber das weite Feld der Diagnostik mit den unterschiedlichsten Instrumenten und Methoden wie Verhaltensbeobachtung, Anamnese, Screeningverfahren und zu guter Letzt natürlich auch den zahlreichen je nach pädagogischer »Philosophie« oder »Ideologie« überschätzten oder verabscheuten psychologischen Tests wird von Heil- und Sonderpädagogen gar als wesentlicher Kompetenzbereich ihrer Profession betrachtet.

Paul Moor (1960) verfasste eine zweibändige »Heilpädagogische Psychologie«, in deren ersten Band er »psychologische Tatsachen« oder die verschiedenen psychologischen Hauptrichtungen aus pädagogischer Sicht auf ihre Brauchbarkeit für die heilpädagogische Praxis hin prüft und zur Entwicklung seiner Theorie vom inneren und äußeren Halt fruchtbar macht.

Viele Jahre später erscheinen Hand- und Lehrbücher zur heilpädagogischen oder sonderpädagogischen Psychologie, in denen eine solch kritische Prüfung psychologischen Wissens und vor allem seine Integration in pädagogisches Denken nicht mehr geleistet werden. Vielmehr werden in ihnen psychologische Erkenntnisse und Befunde zusammengestellt, die, nach Meinung der Autoren, ein hilfreiches Wissen für Heil- und Sonderpädagogen darstellen könnten.

Borchert (2000) stellt neben grundlegende psychologische Theorien und Perspektiven vor allem Wissen aus der pädagogischen Psychologie zu Diagnostik, Prävention und Intervention in sonderpädagogischen Handlungsfeldern zur Verfügung. Bundschuh (2008) wählt für seine »Heilpädagogische Psychologie« entwicklungspsychologische, allgemeinpsychologische, sozialpsychologische und diagnostische Erkenntnisse aus, von denen er annimmt, dass sie bei der Beantwortung heil- und sonderpädagogischer Fragestellungen hilfreich sind, zur Bewältigung der Aufgaben im heil- oder sonderpädagogischen Arbeitsfeld einen brauchbaren Beitrag leisten oder in den Rahmen einer heilpädagogischen Psychologie passen.

Davon abweichend konzentrieren sich die Herausgeber des »Handbuchs der heilpädagogischen Psychologie« Fengler und Jansen (1987) auf psychologische Besonderheiten im Zusammenhang mit unterschiedlichen Arten der Behinderung und greifen des Weiteren spezielle Problembereiche der heilpädagogischen Psychologie wie Diagnostik, Intervention, Supervision oder Burnout auf. Die behinderungsspezifischen psychologischen Aspekte sind jedoch meist eher vereinzelte Befunde aus entwicklungs- oder sozialpsychologischer oder diagnostischer Perspektive, aber sie stellen zumindest den ernsthaften Versuch dar, eine Art spezifisch heilpädagogische Psychologie zu etablieren.

Die Begriffe »heilpädagogische Psychologie« oder »sonderpädagogische Psychologie« legen nahe, dass es entsprechend der pädagogischen Psychologie eine eigenständige anwendungsorientierte psychologische Disziplin im sonderpädagogischen Handlungsfeld gäbe. In keinem in die Psychologie einführenden Werk tritt jedoch neben den traditionellen Teildisziplinen wie etwa Entwicklungs-, Sozial-, differentieller oder pädagogischer Psychologie die heil- oder sonderpädagogische Psychologie in Erscheinung. Während Paul Moors »Heilpädagogische Psychologie« vielleicht eher als psychologische Heilpädagogik zu bezeichnen wäre, werden von allen anderen Autoren unter der Überschrift »heilpädagogische oder sonderpädagogische Psychologie« vielmehr all diejenigen Erkenntnisse aus den Teildisziplinen der Psychologie zusammengetragen, die bereits Einzug in den breiten Wissenskanon der Heil- oder Sonderpädagogen gehalten haben oder es künftig tun sollten, weil sie eben als in heil- und sonderpädagogischen Handlungs- und Begründungszusammenhängen bedeutsam erachtet werden.

Die sonderpädagogische Diagnostik kann noch am ehesten als ein spezifisch heilpädagogisch-psychologisches Themenfeld betrachtet werden. Selbstverständlich ist auch sie aus der psychologischen Diagnostik heraus entstanden, beruft sich in weiten Teilen auf deren theoretische Grundlagen und erhält ständig neue Impulse von ihr. Mit dem Begriff und Konzept der Förderdiagnostik haben jedoch zahlreiche Sonderpädagogen und Psychologen immer wieder versucht, trotz heftigster Kritik, eine sonderpädagogisch-eigenständige diagnostische Theorie zu formulieren. Darüber hinaus wurden innerhalb der sonderpädagogischen Diagnostik Instrumente und Verfahren wie z. B. Fehleranalyse, schulisches Standortgespräch, Konsulentenarbeit oder das curriculumbasierte Messen mit seinen informellen Aufgabensammlungen und Kompetenzinventaren entwickelt, die speziell auf die Besonderheiten im heil- und sonderpädagogischen Arbeitsfeld ausgerichtet sind und die im Rahmen der psychologischen Diagnostik keine Anwendung finden. Die besondere Bedeutung der Diagnostik innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik wird auch deutlich, wenn diagnostische Kompetenzen von Moser (2005) zu den zentralen Professionsmerkmalen von Sonderpädagogen gezählt werden, oder sie zeigt sich auch in den Ergebnissen einer Analyse gängiger sonderpädagogischer Fachzeitschriften von Buchner und Koenig (2008): Nach dem Themenbereich Schule nimmt Diagnostik und Therapie den zweiten Platz bei der Häufigkeit der in den analysierten Fachzeitschriften aufgegriffenen und bearbeiteten Fragestellungen ein.

Um den oben beschriebenen Missverständnissen auszuweichen, wurde für das hier vorliegende Buch der Titel »Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik« gewählt. Inhaltlich steht an prominenter erster Stelle die sonderpädagogische Diagnostik mit ihren Ursprüngen in der psychologischen Diagnostik und den charakteristischen Besonderheiten der Förderdiagnostik sowie den vielfältigen unterschiedlichen diagnostischen Instrumenten und Methoden. Daran schließen sich neuropsychologische Erkenntnisse zu Gedächtnis, Handlungsplanung, Aufmerksamkeitssteuerung und Motivation an, die als bedeutsam und grundlegend für das Verstehen von Lernprozessen zu sehen sind. Das Feststellen von Entwicklungsverzögerungen oder das Verringern und Aufholen derselben durch entwicklungsorientierte Förderung und Therapie erfordern zwangsläufig ein Wissen über Entwicklung und entsprechende Entwicklungsverläufe. Teil 3 bringt dem geneigten Leser dieses Wissen näher. Bei der Zusammenstellung der neuropsychologischen und entwicklungspsychologischen Wissensbestände wurden zwar die wenigen aktuellen behinderungsspezifischen Befunde aufgenommen, aber grundsätzlich lag der Fokus auf der Vermittlung eines für alle sonderpädagogischen Fachrichtungen relevanten Wissens.

Literatur

Borchert, J. (Hrsg.) (2000): Handbuch der sonderpädagogischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe.

Bundschuh, K. (2008): Heilpädagogische Psychologie. München: Reinhardt.

Buchner, T. & Koenig, O. (2008): Methoden und eingenommene Blickwinkel in der sonder- und heilpädagogischen Forschung von 1996–2006 – eine Zeitschriftenanalyse. In: Heilpädagogische Forschung 34, 15–34.

Fengler, J. & Jansen, G. (Hrsg.) (1987): Handbuch der heilpädagogischen Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer.

Moor, P. (1960): Heilpädagogische Psychologie. Bd. 1 und 2. Bern: Huber.

Moser, V. (2005): Diagnostische Kompetenz als sonderpädagogisches Professionsmerkmal. In: V. Moser & E. von Stechow (Hrsg.): Lernstands- und Entwicklungsdiagnosen. Diagnostik und Förderkonzeption in sonderpädagogischen Handlungsfeldern. Festschrift für Christiane Hofmann zum 60. Geburtstag. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 29–41.

Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik

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