Читать книгу Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik - Erwin Breitenbach - Страница 22
3.1 Begriffsbestimmungen 3.1.1 Pädagogische Diagnostik
ОглавлениеDie Diskussion zur Problematik der pädagogischen Diagnostik lässt sich treffend durch die beiden Extrempositionen kennzeichnen, die nach Bundschuh (2004) innerhalb der Pädagogik vertreten werden. Auf der einen Seite steht die Forderung nach der Abschaffung jeglicher Diagnostik, da sich durch die Diagnostik kein Gewinn für die Betroffenen ergebe und Diagnostizieren aus pädagogischer Perspektive an sich schon schädlich sei. Andererseits wird Diagnostik als ein notwendiger und integraler Bestandteil pädagogischen und didaktischen Handelns betrachtet. Ricken (2005) macht in einem geschichtlichen Rückblick eine enge Verbindung aus zwischen Veränderungsprozessen schulischer Strukturen und einem zeitweise verstärkten Interesse an der Diagnostik. Auch für Hesse und Latzko (2009) sind die Schwankungen in der Wertschätzung und Anwendung pädagogischer Diagnostik im deutschen Bildungswesen unübersehbar. So finden sich im Anschluss an die Analyse des Deutschen Bildungsrates (1970), die das Fehlen einer ausreichenden Schulung zur Erhöhung der Objektivität und Rationalität bei der Leistungsbeurteilung in der Lehrerbildung als einen wesentlichen Mangel im deutschen Bildungswesen erkennt, systematische Bemühungen zur Verbesserung der diagnostischen Kompetenzen von Lehrkräften. Bereits gegen Ende der 70er-Jahre tritt die »Anti-Test-Bewegung« auf den Plan, die Versuche zur Objektivierung der Schülerbeurteilung ideologisch verteufelt und wieder zu einer Reduktion der Diagnostikausbildung in Lehramtsstudiengängen beiträgt. Dem vergleichbar scheint die »Nach-PISA-Zeit« der pädagogischen Diagnostik eine deutliche Renaissance und Wiederbelebung zu bescheren, was aber nicht verhindert, dass die Skeptiker und Kritiker mit den alten Argumenten erneut in den Diskurs eintreten. Im Angesicht einer Fülle von anerkannten theoretischen und empirischen Forschungsarbeiten zur pädagogischen Diagnostik erscheinen Hesse und Latzko (2009) diese immer wieder vorgetragenen gleichen Gegenargumente eher als Vorurteile, da diese Kritik an einem wissenschaftlichen Gegenstand stattfindet, »ohne diesen Gegenstand wirklich umfassend zu kennen oder differenziert zur Kenntnis zu nehmen« (Hesse & Latzko 2009, 17).
Wendet man sich den Bestimmungsstücken der pädagogischen Diagnostik zu, stößt man auf eine übereinstimmende Begriffsdefinition, wonach pädagogische Diagnostik alle diagnostischen Tätigkeiten umfasst, »durch die bei Individuen (und den in einer Gruppe Lernenden) Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren. Zur pädagogischen Diagnostik gehören ferner die diagnostischen Tätigkeiten, die die Zuweisung zu Lerngruppen oder zu individuellen Förderprogrammen ermöglichen sowie den Besuch weiterer Bildungswege oder die vom Bildungswesen zu erteilenden Berechtigungen für Berufsausbildung zum Ziel haben« (Ingenkamp 1991, 760). Entsprechend zur psychologischen Diagnostik werden hier auch für die pädagogische Diagnostik die prozessorientierte Veränderungsdiagnostik und die statusorientierte Zuweisungs- oder Selektionsdiagnostik als grundlegende diagnostische Strategien benannt. Gerade die Selektionsstrategie gibt jedoch seit Jahren immer wieder Anlass zu dem Vorwurf, die pädagogische Diagnostik werde nur zum Zwecke der Selektion benutzt und führe lediglich zur Etikettierung von Schülern. Hesse und Latzko (2009) geben in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Lehrkräfte auch ohne wissenschaftliche diagnostische Verfahren und Kompetenzen Schüler gleichermaßen etikettieren können oder müssen, denn nicht die Diagnostik ist für die Selektion verantwortlich, sondern das Schulsystem, das auf Selektion ausgerichtet ist.
Im Unterschied zur psychologischen Diagnostik erstreckt sich die pädagogische Diagnostik gemäß Definition auf Lehr-, Lern- und Bildungsprozesse und wird damit auf ein bestimmtes Handlungsfeld bezogen. Kretschmann (2004) sieht hierin eine gewisse Engführung, die alle emotionalen und sozialen Probleme im Kontext schulischen Lernens ausspart. Alles offen hält dagegen die Definition von Kleber (1992), wonach sich die pädagogische Diagnostik als Diagnostik in pädagogischen Handlungsfeldern versteht. Petermann und Daseking (2015) betrachten die pädagogisch-psychologische Diagnostik lediglich als ein spezifisches Handlungsfeld der psychologischen Diagnostik.
Von Bundschuh (2004) wird eine stärkere Werteorientierung als typisch für die pädagogische Diagnostik herausgestellt und auch Mutzeck und Melzer (2007) betrachten Werte, Ziele und Konzeptionen (Menschenbild, Handlungs- und Störungskonzepte, Konzeptionen von Schule, Unterricht, Familie, Freizeit, Gesellschaft) als der (sonder-)pädagogischen Diagnostik vor- und übergeordnet, die das diagnostische Handeln wesentlich mitbestimmen und deshalb bei jeder diagnostischen Tätigkeit mitzudenken sind.
Was die Diagnoseinstrumente und Diagnoseverfahren angeht, so sind diese nach Kretschmann (2004) vorwiegend psychologischer Natur und Herkunft und solche, die im Zusammenhang mit pädagogischer Prävention und Förderung einzusetzen wären, müssten im Grunde erst noch entwickelt werden. Benötigt werden in diesem Zusammenhang
• domainbezogene und curriculumvalide Verfahren, die Lernfortschritte nicht nur punktuell, sondern auch kontinuierlich messen,
• entwicklungsbezogene Verfahren, die abbilden, auf welchen Entwicklungsstufen sich ein Kind bezüglich unterschiedlicher Entwicklungsbereiche befindet,
• prozessorientierte Verfahren, die feststellen, wie weit Kinder oder Jugendliche bestimmte Erwerbsprozesse, wie z. B. Lesen, Rechnen und Schreiben bewältigt haben,
• Verfahren, die lernbereichsspezifische Motivation erfassen,
• umfeldbezogene Verfahren, mit deren Hilfe schädigende und schützende Bedingungen des Umfeldes eines Kindes entdeckt werden können sowie
• Verfahren, die neben Störungen auch Stärken und besondere Begabungen eines Lernenden erkennen (Kretschmann 2004; 2006a).