Читать книгу Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik - Erwin Breitenbach - Страница 27
3.2.3 Unterscheidung: Platzierungs- und Förderungsdiagnostik
ОглавлениеDie Analyse der diagnostischen Zielsetzungen in der Sonderpädagogik oder Pädagogik zeigt, dass die große Mehrzahl der Autoren übereinstimmend zwei diagnostische Fragestellungen benennt: die Selektions- und Platzierungsdiagnostik sowie die Förderdiagnostik ( Tab. I.1).
Unübersehbar ist hierbei die Parallele zu den beiden grundlegenden diagnostischen Strategien in der psychologischen Diagnostik, wobei die Selektions- und Platzierungsdiagnostik ihre Entsprechung in der Selektionsstrategie oder Statusdiagnostik und die Förderungsdiagnostik oder Lernprozessdiagnostik ihre in der Modifikationsstrategie oder Prozessdiagnostik findet. Auch die weiteren Ausdifferenzierungen wie deskriptive Diagnostik oder Diagnostik zur Beurteilung von Entwicklung und zum Erkennen von Lernstörungen oder Lernbegabungen können recht gut der Statusdiagnostik zugerechnet werden und Normalisierungsdiagnostik und die Diagnostik zur Schulentwicklung zielen auf eine Bedingungsmodifikation, die neben der Verhaltensmodifikation die Modifikationsstrategie ausmacht und entsprechende Veränderungsprozesse bewirken will.
In der neueren Fachliteratur tauchen diese beiden grundlegenden diagnostischen Strategien als formative und summative Diagnostik auf, wobei die summative Diagnostik wie die Statusdiagnostik eher eine Leistungsbeurteilung vornimmt, während die formative Diagnostik auf die Analyse und Veränderung von Lernprozessen abzielt (Maier 2014).
Ein klares Bild von den Aufgaben und Zielen der sonderpädagogischen Diagnostik entsteht somit nur, wenn die Förderdiagnostik von der Platzierungs- und Selektionsdiagnostik qualitativ unterschieden und abgegrenzt wird. Diese beiden grundsätzlich verschiedenen Zielsetzungen und Strategien erfordern ein unterschiedliches methodisches Vorgehen und es ergeben sich daraus zwangsläufig diagnostische Informationen mit unterschiedlicher Qualität ( Tab. I.2).
Zuweisung oder Platzierung fordert eine Entweder-Oder-Entscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die diagnostische Fragestellung lautet hier: Entsprechen die momentanen Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Kindes oder Jugendlichen den nicht zur Disposition stehenden Anforderungen einer Einrichtung, Schulform oder eines Ausbildungsganges? Diese Passung von Anforderungsprofil und Entwicklungsstand ist zum Zeitpunkt der Diagnostik entweder gegeben oder eben nicht. Die Förderdiagnostik dagegen sieht sich der Aufgabe gegenüber, Fähigkeiten eines Kindes oder Jugendlichen in seiner spezifischen Lernsituation zu analysieren und zu beschreiben, mit dem Ziel, vorhandene Lernhemmungen durch geeignete Hilfestellungen zu überwinden, um auf diese Weise ein gesetztes Lernziel zu erreichen. Hier steht eher der Prozess ausgehend von einer Lernausgangslage hin zu einem Lernziel im Mittelpunkt der diagnostischen Bemühungen.
Tab. I.1: Diagnostische Zielsetzungen unterschiedlicher Autoren im Vergleich
Eigene Darstellung
Tab. I.2: Unterscheidung von Förder- und Platzierungsdiagnostik
FörderdiagnostikPlatzierungsdiagnostik
Nach Breitenbach, E. (2003): Förderdiagnostik. Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die Praxis. Würzburg: edition bentheim
Platzierungsdiagnostik ist gezwungen, die Leistungsfähigkeit eines Kindes oder Jugendlichen zu bewerten. Kriterien für diese Bewertung liefert das Anforderungsprofil der zur Auswahl stehenden Einrichtung, Schule oder Berufsausbildung. Förderdiagnostik dagegen analysiert und beschreibt einen Lern- und Entwicklungsprozess. Eine solche Analyse und Beschreibung bezieht sich ausschließlich auf das Lernen eines Kindes oder Jugendlichen in einer Lernsituation und berücksichtigt bei der Gestaltung des neuen Lehrangebotes die Veränderungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dieser Lernsituation. Die Bewertung der bei dieser Gelegenheit analysierten Leistungen des Schülers, inwieweit sie altersgemäß sind oder anderen Anforderungen entsprechen, wird nicht vorgenommen, da sie für die Gestaltung eines neuen Lehrangebotes wenig hilfreich ist.
Sicherheit über die Richtigkeit der im förderdiagnostischen Prozess gefällten Entscheidung oder aufgestellten Hypothesen ergibt sich ausschließlich aus dem Erfolg oder Misserfolg der Fördermaßnahmen oder des neuen Lehrangebotes. Gewissheit darüber, ob eine Platzierungsentscheidung richtig oder falsch ist, erhält der Diagnostiker während des diagnostischen Aktes nur über den Vergleich des Leistungs- und Entwicklungsstandes des Untersuchten mit den zur Verfügung stehenden Normen oder Bewertungskriterien. Solche Normen ergeben sich aus dem Anforderungsprofil der zur Auswahl stehenden Einrichtungen oder durch den Rückgriff auf statistische Normen, wie sie in psychometrischen Verfahren zur Verfügung stehen.
Förder- und Platzierungsdiagnostik unterscheiden sich qualitativ auch durch die zeitliche Perspektive des Diagnostikers. Bei der Beantwortung der Platzierungsfrage blickt der Diagnostiker z. B. auf die künftige Schullaufbahn und damit weiter in die Zukunft als bei der Förderdiagnostik, wo er nur den nächsten Lern- und Entwicklungsschritt im Auge hat. Damit ergeben sich grundsätzlich unterschiedliche Vorgehensweisen für die Durchführung einer Platzierungs- oder einer Förderdiagnostik. Im Zentrum der Platzierungsdiagnostik muss die quantitative Auswertung psychometrischer Verfahren stehen sowie eine möglichst nachvollziehbare Bewertung der erbrachten Leistungen mit Aussagen über das Ausmaß, in dem eine Person die für ihre Altersstufe zu erwartenden Entwicklungsziele erreicht hat. Greift der Diagnostiker auf Beobachtungsdaten zurück, so wird er auch darauf achten, dass es sich hierbei nicht um rein subjektive Einschätzungen handelt, die von verschiedensten Faktoren unkontrolliert beeinflusst werden, sondern, dass er sich bei der Beantwortung der Platzierungsfrage ausschließlich auf nachvollziehbare, systematisch erhobene Beobachtungen bezieht. Im Rahmen einer Förderdiagnostik können psychometrische Verfahren qualitativ ausgewertet werden und schulische Leistungen mithilfe von Fehler- und Prozessanalysen untersucht werden. Neben einer systematischen Beobachtung lassen sich auch reflektierte, unsystematisch gesammelte Beobachtungsdaten verwenden.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Abgrenzung zwischen Selektions- und Förderdiagnostik grundsätzlich an der Methode festgemacht werden kann; nach dem Motto: psychologische Tests für die Statusdiagnostik und informelle Verfahren für die Förderdiagnostik. Entscheidend ist der strategieorientierte Einsatz der verschiedenen Methoden, der fragt: Im Rahmen welcher diagnostischen Strategie wird welches Verfahren, welche Methode wie eingesetzt? Ansonsten entstünde der Trugschluss, so Hofmann (2003), dass allein aufgrund einer methodischen Umorientierung z. B. hin zu informellen und nicht standardisierten Verfahren bereits eine förderorientierte und damit vielleicht auch moralisch unbedenkliche Diagnostik möglich würde.
Ein weiterer aufschlussreicher Vergleich der zentralen Merkmale von Selektions- und heilpädagogischer Förderdiagnostik findet sich bei Strasser (2004). Der Vergleich wird vorgenommen bezüglich der Kategorien theoretisches Bezugssystem, Persönlichkeits- und Menschenbild, Ziele, Mittel, Bezugssystem zur Interpretation der Daten, Merkmale der Untersuchungssituation, Diagnostiker, zeitliche Situierung, Beurteilungsprozess und Beurteilungsform, Maßnahmen und Entscheidungen, Vorteile und Nachteile ( Tab. I.3).
Tab. I.3: Vergleich zwischen Selektions- und Förderdiagnostik
Zuweisungsdiagnostik Selektionsdiagnostik Statusdiagnostikheilpädagogische Förderdiagnostik
Aus: Strasser, U. (2004): Wahrnehmen, Verstehen, Handeln: Förderdiagnostik für Menschen mit einer geistigen Behinderung. 5., ergänzte Aufl., Luzern: Edition SZH/SPC, 21