Читать книгу Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik - Erwin Breitenbach - Страница 35
4.2.3 Diagnose und Förderung konsequent verknüpfen
ОглавлениеDer Begriff Förderdiagnostik sollte von Anfang an das Bezogensein der Diagnose auf Förderung und nicht auf Selektion oder andere Ziele klar zum Ausdruck bringen. Allerdings suggerierte er ebenfalls von Anfang an, dass sich aus diagnostischem Handeln direkt das pädagogische ableiten lasse. Diese Art der Verknüpfung von Diagnose und Förderung ist äußerst problematisch und wurde von Schlee (1985a; 2008) als eine grundlegende Ungereimtheit der Förderdiagnostik, als ein logischer und naturalistischer Fehlschluss bezeichnet. Aus Ist-Werten lassen sich keine Soll-Werte ableiten und die Ergebnisse diagnostischer Untersuchungen enthalten keine Hinweise auf Ziele oder Teilziele zur Bestimmung des sich anschließenden didaktisch-pädagogischen Prozesses. Diese Kritik konnte bis heute nicht entschärft werden und wird im Grunde von allen Autoren geteilt, was aber gleichzeitig nicht bedeutet, dass nun Diagnostik oder Förderdiagnostik obsolet und für die Gestaltung von Erziehung, Unterricht, Förderung und Therapie überflüssig geworden wäre. Mit vorgeordneten Theorien über Lernen und Entwicklung als Bezugssysteme ist es dennoch unbedingt erforderlich herauszufinden, welche Kompetenzen ein Kind bereits erworben hat, in welcher Entwicklungsphase es sich gerade befindet, welche Bedingungen des Umfeldes behindernd oder förderlich wirken könnten, auf welchem Niveau eine Förderung anzusetzen hat oder wo bei einem Kind die Schwierigkeiten festzumachen sind und demzufolge ein Handlungsbedarf besteht (Graf & Moser-Opitz 2007; Klauer 2003; Kornmann 2010; Kretschmann 2003; 2006a; Schuck 2004a; v. Knebel 2010).
Für Schuck (2004a) ist Bezug nehmend auf Kaminski (1970) klar, »dass Diagnostik im handlungstheoretischen Sinne ein zyklischer Prozess sein muss, der mindestens aus einer diagnostischen und einer ›praktischen‹ Phase besteht. In dieser Vorstellung werden in der diagnostischen Phase Handlungsorientierungen entwickelt, die sich in der praktischen Phase zu bewähren haben. Die Bewährung ist durch eine die praktische Phase begleitende Diagnostik sicherzustellen. Gelingt die Bewährungsprobe nicht, sind im Rahmen einer neuerlichen diagnostischen Phase die Handlungsorientierungen für die praktische Phase zu überprüfen und zu modifizieren« (Schuck 2004a, 356).
In diesem Sinne ist auch das Ablaufmodell des förderdiagnostischen Prozesses von Strasser (2004) zu verstehen, das vier Schritte kreisförmig miteinander verbindet, wobei die ersten beiden Schritte (Wahrnehmen, Erfassen, Auswerten und Interpretieren, Verstehen, Erklären, Vergleichen) eher der diagnostischen Phase und die letzten beiden (Ziele formulieren, Handlungen planen und Handlungen umsetzen) eher der praktischen Phase zuzuschreiben wären ( Abb. I.8).
Abb. I.8: Ablaufmodell des förderdiagnostischen Prozesses (aus: Strasser, U. (2004): Wahrnehmen, Verstehen, Handeln: Förderdiagnostik für Menschen mit einer geistigen Behinderung. 5., ergänzte Aufl., Luzern: Edition SZH/SPC, 32)
Schuck (2004a) schlägt vor, im diagnostisch-pädagogischen oder förderdiagnostischen Prozess drei Stufen zu unterscheiden: die Bestandsaufnahme mit der Entwicklung eines Förderkonzeptes, den Förderplan und die Lernprozessbegleitung. Ausgangspunkt ist die Feststellung des Ist-Zustandes als Grundlage zur Entwicklung eines Förderkonzeptes. Die im Förderkonzept getroffenen Aussagen über den Ist-Zustand, den Soll-Zustand und über die Änderungsnotwendigkeiten sind als Hypothesen im kritisch-rationalen Sinne zu verstehen, die sich in der Praxis bewähren müssen und in der praktischen Phase des förderdiagnostischen Prozesses gewissermaßen experimentell geprüft werden. Im sich anschließenden Förderplan erfolgt eine Transformation des Förderkonzeptes auf dem Hintergrund verfügbarer Ressourcen in realisierbare pädagogische Maßnahmen. Dem Förderplan folgt die praktische Phase mit der Umsetzung der geplanten Förderung in konkreten Unterricht, Förderung oder Therapie. In dieser Phase geht es um die Lernprozessbegleitung, die Evaluation der bewirkten Veränderungen beim Individuum und im System, den Vergleich der erreichten mit den erwarteten Entwicklungen und wenn erforderlich um entsprechende Veränderungen des Förderkonzeptes und des Förderplans. Diese dritte Phase dient somit der Prüfung der in der ersten Phase generierten Hypothesen ( Abb. I.9).
Ein solches hypothesenbildendes und hypothesenprüfendes Vorgehen zur Verknüpfung von Diagnose und Förderung schlägt auch Breitenbach (2003) vor ( Abb. I.10). Allerdings zeigt sein Prozessmodell, dass der förderdiagnostische Prozess eine zweifache Hypothesenbildung und -prüfung beinhaltet.
Abb. I.9: Ein zyklisches Modell der Diagnostik (aus: Schuck, K. D. (2004a): Zur Bedeutung der Diagnostik bei der Begleitung von Lern- und Entwicklungsprozessen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 55, 8, 350–360, hier 356)
Abb. I.10: Schematische Darstellung des förderdiagnostischen Prozesses (aus: Breitenbach, E. (2003): Förderdiagnostik. Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die Praxis. Würzburg: edition bentheim, 67)
• Lehrangebot und Lernziel
Aus seinem didaktischen Wissen heraus macht ein Lehrender einem Kind oder Jugendlichen ein Lehrangebot, um ein bestimmtes Lernziel zu erreichen. Ein Grundschullehrer weiß z. B., wie Kinder normalerweise das Schreiben, Lesen oder Rechnen lernen und gestaltet entsprechend sein Lehren. Trifft ein solches Lehrangebot beim Lernenden auf Lernbereitschaft und entsprechende Lernfähigkeit, so wird der Lernende sich auf dieses Lehrangebot einlassen und auf das Neue aktiv zugreifen.
• Lernhemmungen
An verschiedenen Stellen des Lehr-Lern-Prozesses können jedoch beim Lernenden aus den unterschiedlichsten Gründen Lernschwierigkeiten, Lernhemmungen auftreten, die er nicht allein und nicht mit den bisherigen Hilfen überwinden kann. Der Lehrende ist nun gezwungen, den Lehr-Lern-Prozess an dieser Stelle zu analysieren, um zu verstehen und um aus diesem Verstehen heraus dem Lernenden weitere Hilfen zur Überwindung seiner Lernhemmungen anbieten zu können. Es entsteht für den Lehrenden damit eine spezifische diagnostische Fragestellung.
• Erste Hypothesenbildung
Der Lehrende besitzt einerseits ein allgemeines Wissen über Lehren und Lernen, über den Verlauf einzelner Erwerbsprozesse und über Lernhindernisse sowie andererseits auch bereits ein bestimmtes Wissen über den Lernenden und dessen individuelle Lernbedingungen. Auf dieser Wissensbasis entwickelt der Lehrende erste Hypothesen über mögliche Gründe und Bedingungen für das Entstehen der Lernhemmung beim Lernenden. So kann z. B. ein Lehrer, dessen Schüler übermäßig viele Rechtschreibfehler im Diktat machen, die Vermutung haben, diese große Fehlerzahl hänge mit einer mangelnden Kenntnis der Rechtschreibregeln, mit einer zu gering entwickelten auditiven Gliederungsfähigkeit oder auch mit einer zu geringen Merkfähigkeit für sprachliches Material zusammen.
• Auswahl und Anwendung diagnostischer Methoden
• Im nächsten Schritt wird der Lehrende versuchen, seine Hypothesen zu überprüfen, indem er geeignete diagnostische Verfahren auswählt und sie anwendet. So könnte der Lehrer in obigem Fall die Rechtschreibfehler seines Schülers systematisch nach einzelnen Kategorien ordnen und auf diese Weise sehen, ob dieser Schüler im Laufe eines Diktates gehäuft gegen einzelne Rechtschreibregeln verstößt oder in welchem Ausmaß ihm typische Fehler unterlaufen, die auf mangelhafte auditive Verarbeitung hinweisen.
• Diagnostische Informationen
Bestätigen die diagnostischen Informationen die Vermutungen des Lehrenden nicht, findet der Lehrer in unserem Beispiel keine Hinweise auf eine mangelnde Regelkenntnis oder die angenommenen Schwächen in der auditiven Informationsverarbeitung, muss er neue Hypothesen über den möglichen Bedingungshintergrund für die vielen Fehler im Diktat suchen und diese dann wiederum überprüfen. Besagter Lehrer wird vielleicht nun Vermutungen darüber anstellen, ob die Lernsituation in seiner Klasse für den betreffenden Schüler ungünstig ist. Schenkt er ihm genügend Aufmerksamkeit und Zuwendung? Traut er ihm unter Umständen zu wenig zu und gibt vorschnell Unterstützung, sodass der Schüler zu selten Lernerfolge erlebt, die er sich selbst und seinem Können zuschreiben kann? Mithilfe einer gezielten Unterrichtsbeobachtung durch einen Kollegen oder eine Kollegin könnte der Lehrer versuchen, diese Hypothesen zu prüfen, um so zu einem veränderten Lehrangebot zu kommen.
• Zweite Hypothesenbildung
• Erhärtet sich jedoch der ursprüngliche Verdacht über den Bedingungshintergrund der Lernhemmung, wird der Lehrende auf der Basis seines pädagogisch-didaktischen Fachwissens Hypothesen über nächste Entwicklungsschritte und entsprechende Fördermaßnahmen entwerfen. Er wird sich überlegen, in welchen weiteren Lernschritten und mit welchem neuen Lehrangebot er seinem Schüler beim Überwinden der gefundenen Lernhemmung helfen kann.
• Lehrziel und Lehrangebot
Setzt der Lehrende sein Lehrangebot in die Tat um, kann er beobachten, inwieweit der Lernende auf dieses Angebot zugreift, mit dem veränderten Lehrangebot seine Lernhemmungen überwindet und z. B. im Prozess des Schreibenlernens fortschreitet. Der Lehrende erfährt auf diese Weise, ob seine Hypothesen, das neue Lehrangebot betreffend, hilfreich und damit richtig sind. Gleichzeitig beinhaltet diese Erfahrung eine Reihe neuer diagnostischer Informationen über den Lernenden und seine Art zu lernen, die er bei der weiteren Gestaltung seines Lehrangebotes, beim Festlegen nächster Entwicklungs- und Lernschritte sowie bei der Auswahl neuer Hilfen berücksichtigen sollte.
Werden die gesteckten Lern- oder Entwicklungsziele mit den gewählten Hilfen jedoch nicht erreicht, müssen die diagnostischen Informationen noch einmal dahingehend analysiert werden, ob sich nicht aus ihnen heraus weitere Förderangebote entwickeln lassen. Unter Umständen wird es vielleicht sogar erforderlich, die Lernhemmung in der spezifischen Lernsituation erneut zu betrachten, um zu neuen ersten Hypothesen zu gelangen und auf dieser Basis den gesamten Prozess erneut zu durchlaufen.
Zu einem vergleichbaren Prozessmodell gelangen Arnold und Kretschmann (2002), in dem sie sich an der geübten Praxis in Förderzentren orientieren. In der Eingangsdiagnose wird der Ist-Zustand mit dem Lernstand, den Kompetenzen, den Emotionen, dem Verhalten, den Risikofaktoren und Ressourcen des Kindes erhoben ebenso wie die Entwicklungsbedingungen, die durch das Umfeld gegeben sind. All diese Informationen fließen in ein sonderpädagogisches Gutachten ein, in dem die Befunde gewichtet und interpretiert werden, in dem Richt- und Grobziele der Förderung skizziert werden und das Kind nach dem Vergleich alternativer pädagogischer Settings dem geeignetsten zugewiesen wird. Im nächsten Schritt erfolgt nun die Förderdiagnose im engeren Sinne, wo ein detaillierter Förderplan mit Feinzielen und Fördermethoden sowie einem bestimmten zeitlichen Ablauf, mit Klärung der pädagogisch-therapeutischen Zuständigkeiten und gegebenenfalls auch mit dem Einholen von Unterstützung durch andere Dienste und Institutionen erstellt wird. Die dritte Phase der Prozessdiagnosen beantwortet im Sinne einer formativen Diagnostik die Frage, welche spezifischen Lernfortschritte und Lernschwierigkeiten im Förderprozess auftreten. Evaluierungs- und Fortschreibungsdiagnosen bilden die vierte und letzte Phase im Verlaufsmodell von Arnold und Kretschmann (2002), die der bewertenden Überprüfung von Förderverlauf und Fördererfolg durch den Vergleich der geplanten Maßnahmen und erwarteten Veränderungen mit dem tatsächlichen Verlauf und den tatsächlich bewirkten Fördereffekten dienen, um den Förderplan fortschreiben oder aktualisieren zu können.
Uhlemann (2011) stellt mit der Förderverlaufsdokumentation (FVD) ein Instrument zur kontinuierlichen Planung und Erfassung der Wirksamkeit pädagogisch-therapeutischer Maßnahmen vor, das inhaltlich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ausgerichtet ist ( Kap. I.7), sich sehr stark an der Vorstellung einer Förderdiagnostik, die als hypothesengeleiteter Prozess Diagnose und Förderung konsequent miteinander verbindet, orientiert und als Grundlage für das schulische Standortgespräch dient ( Kap. I.6.1.4).