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4.2.1 Lernprozesse analysieren

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Um Unterschiede im Lernen, in den Lernprozessen nicht nur zu erfassen, sondern um sie vor allem auch zu erklären und zu bewerten, bedient sich die Diagnostik traditionell dreier unterschiedlicher Bezugssysteme. Im normorientierten Bezugssystem wird das individuelle Verhalten, die individuelle Leistung in Beziehung gesetzt zum Verhalten und zur Leistung einer Bezugsgruppe wie z. B. zur Gruppe der Gleichaltrigen. Die lernzielorientierte Norm fragt danach, ob ein Lernziel erreicht ist oder nicht und die strukturorientierte bzw. entwicklungsorientierte Diagnostik untersucht, wie weit ein Subjekt bereits im Erwerbsprozess vorangeschritten ist, welche Lernschritte bereits vollzogen und welche noch zu bewältigen sind.

Um den Entwicklungs- oder Lernstand im Sinne einer eher bewertenden Statusdiagnostik zu erheben und mit diesen Erkenntnissen Platzierungsfragen zu beantworten, bedient sich der Diagnostiker des normorientierten und lernzielorientierten Bezugssystems, während eine Analyse des Lernprozesses, des Lernens eher unter Verwendung des struktur- bzw. entwicklungsorientierten Bezugssystems gelingt. Eine normorientierte Diagnostik informiert z. B. lediglich darüber, ob ein Schüler ein leistungsschwacher, ein durchschnittlicher oder ein ausgezeichneter Rechner, Leser oder Rechtschreiber ist. Bei der struktur- oder entwicklungsorientierten Diagnostik greift der Diagnostiker auf Erwerbsprozessmodelle zurück und stellt mit ihrer Hilfe fest, wie weit der Schüler bereits in den Lernstoff eingedrungen ist und kann sich gleichzeitig aus diesen Modellen ableiten, welche nächsten Schritte in der Förderung zu gehen sind.

Die Förderdiagnostik zielt ausschließlich auf die Analyse des Lernens, auf die Analyse der Lern-, Entwicklungs- und Erwerbsprozesse unter Zuhilfenahme von struktur- bzw. entwicklungsorientierten Bezugssystemen, um die subjektiven Lernvoraussetzungen von Lernenden mit den objektiven Lernanforderungen des Zieles abzustimmen und so Über- oder Unterforderung möglichst zu vermeiden. Nur durch eine genaue Diagnose des aktuellen Lernstandes und der aktuellen Lernbedingungen sind gezielte Hilfen für eine Förderung möglich. Solche Lernprozessdiagnostik bedient sich vorwiegend entsprechender Aufgabensammlungen oder Kompetenzinventare, die jeweils der entsprechenden Entwicklungslogik folgen und das jeweilige Erwerbsprozessmodell abbilden. Wenn Diagnostiker den Fehler schätzen, weil er auf das Fehlende verweist, so können qualitative Fehleranalysen in Verbindung mit dem entsprechenden Erwerbsprozessmodell ebenfalls Auskunft geben über erfolgte und noch ausstehende Lernschritte. Ausführlichere Erläuterungen und Informationen dazu finden sich z. B. bei Grissemann (1998), Kornmann (1998), Kretschmann (2006a) und im Kapitel zu den diagnostischen Methoden.

Breitenbach (2003) weist darauf hin, dass Förderdiagnostik als Lernprozessdiagnostik nicht bei der Bestimmung des Lernstandes und der nächsten Lernschritte stehen bleiben darf, sondern darüber hinaus auch aufdecken muss, auf welche Art und Weise ein Kind lernt oder anders formuliert, welche Hilfen dieses Kind braucht, um die nächsten Lern- und Entwicklungsschritte gehen zu können. Auf der Basis der entwicklungspsychologischen Theorie von Wygotski (2002) lässt sich dieser Aspekt der Lernprozessanalyse recht gut beschreiben. Im Zentrum der Theorie steht die Zone proximaler Entwicklung. Sie wird einerseits begrenzt durch den aktuellen Entwicklungsstand, der gekennzeichnet ist durch Leistungen, die ein Kind ohne jegliche Hilfe erbringt. Am anderen Ende der Zone proximaler Entwicklung befindet sich der potenzielle Entwicklungsstand. Kennzeichnend für ihn sind Leistungen, die einem Kind mithilfe einer kompetenteren Person möglich werden ( Abb. I.6).


Abb. I.6: Darstellung der Zone proximaler Entwicklung nach Wygotski (aus: Breitenbach, E. (2003): Förderdiagnostik. Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die Praxis. Würzburg: edition bentheim, 52)

Mit seinem Bericht über die Untersuchung eines geistig behinderten Zwillingspaares verdeutlicht Wygotski (2002) das hier Gemeinte und zeigt die Bedeutung der Lernprozessdiagnostik. Beiden Kindern legte er die gleichen Aufgaben vor und beide lösten selbstständig dieselbe Anzahl von Aufgaben. Hätte er die Diagnostik an diesem Punkt beendet, wäre er zu der Aussage gelangt, beide Kinder seien gleich entwickelt, verfügten über die gleichen Fähigkeiten und Lernvoraussetzungen. Im weiteren Untersuchungsverlauf gab er beiden jedoch spezifische Hilfen zum Bewältigen der ungelösten schwierigeren Aufgaben. Daraufhin löste das eine Kind zwei weitere Aufgaben und das andere vier. Er zog daraus den Schluss, dass diese beiden Kinder eben nicht gleich entwickelt waren, sondern sich deutlich in ihrer Lernfähigkeit voneinander unterschieden. Diese Unterschiedlichkeit bezieht sich auf das, was sie mit bestimmten Hilfen als nächstes lernen können, auf ihre Lernmöglichkeiten unter bestimmten Lernbedingungen.

Förderdiagnostik bleibt nicht beim Erfassen des aktuellen Entwicklungsstandes stehen, sondern sucht den potenziellen, indem auch Aufgaben vorgelegt werden, die das Kind nicht alleine, sondern nur mit individuellen Lernhilfen bewältigen kann, die wiederum mit der Methode der systematischen Aufgabenvariation zu finden sind ( Kap. I.6.6.4). Damit wird der Prozess des Lernens sichtbar und analysierbar und die auf diese Art gefundenen individuellen Lernhilfen stellen die immer wieder geforderte enge Verknüpfung von Diagnostik und Förderung perfekt her. Es ist Förderdiagnostik im wahrsten Sinne des Wortes, da das Untersuchungsergebnis über das Erfassen des potenziellen Entwicklungsstandes die nächsten oder potenziellen Lernschritte beschreibt und gleichzeitig wichtige Hinweise gibt, mit welchen Hilfen, mit welcher Unterstützung diese von einem Kind erreicht werden können.

Förderdiagnostische Lernprozessdiagnostik muss nach Schuck (2004a) aus psychodynamischer Sicht einen weiteren Aspekt berücksichtigen. Lernende müssen ihr Lernen als Mittel zur Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit auffassen oder wie Kornmann (2010) es formuliert: Sie müssen eine Sinnhaftigkeit in ihrer Lerntätigkeit erkennen und die Einsicht in die Bedeutung des Lerngegenstandes gewinnen, um einen Zugang zu den entwicklungsförderlichen Lernangeboten zu finden. Lernmotivation und die emotionale Einstellung zum Lerngegenstand sind auch für Kretschmann (2006a) wichtige, das Lernen mitbestimmende Faktoren und sollten deshalb in einer Lernprozessanalyse einen festen Platz besitzen.

Zum Abschluss sei noch mit Kornmann (2010) darauf hingewiesen, dass der Lernprozessdiagnostik im Rahmen einer inklusiv orientierten pädagogischen Praxis eine besondere Bedeutung zukommt. Es müssen hier zwar keine Kinder mehr unter der Fragestellung untersucht werden, ob sie in eine Lerngruppe passen oder nicht, aber aufgrund der großen Heterogenität der Kinder sind sowohl Kenntnisse über deren Lernvoraussetzungen als auch Informationen über deren Lernfortschritte z. B. für die Gestaltung eines inklusiven Unterrichts unerlässlich. Auch Ziemen (2016) betrachtet den Vergleich des aktuellen Entwicklungsstandes mit dem potentiellen als ein wesentliches Bestimmungsstück der inklusiven Diagnostik.

Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik

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