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4.2.2 Die Situation, den Kontext einbeziehen
ОглавлениеSeit vielen Jahren gehen alle, die sich mit Förderdiagnostik auseinandersetzen, selbstverständlich davon aus, dass diese als eine Kind-Umfeld-Diagnostik zu verstehen ist und deshalb wird Verhalten und Lernen immer im sozialen und situativen Kontext gesehen. Vor allen Dingen Sander (1998) kritisierte eine einseitig kindzentrierte Förderdiagnostik und forderte einen wesentlich breiteren diagnostischen Ansatz, der in der Kind-Umfeld-Analyse zu finden sei. Diese Kind-Umfeld-Analyse hat inzwischen in die schulrechtlichen Vorschriften aller deutschen Bundesländer zur sonderpädagogischen Förderung Einzug gehalten und auch die Kultusministerkonferenz spricht sich in ihren »Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland« von 1994 für eine solche Kind-Umfeld-Analyse aus.
Nach Sander (1998) erfasst die Kind-Umfeld-Analyse möglichst alle relevanten personellen und materiellen Gegebenheiten im Umfeld eines Kindes. Sie stellt nicht das Kind isoliert in den Mittelpunkt der diagnostischen Bemühungen, sondern erweitert vielmehr den Blick auf das Zusammenspiel von Person und materialen Bedingungen, die durch das System, in dem ein Kind lebt, gegeben sind. Kretschmann (2006b) differenziert den Kontext in schulisches und häusliches Umfeld sowie in Gleichaltrige und andere Lebensbereiche. Zum schulischen Umfeld zählen aktuelle schulische Bedingungen, die die Entwicklung des Kindes behindern oder gefährden oder für die Entwicklung des Kindes besonders förderlich sind sowie die schulische Lerngeschichte und Entwicklung. Analog besteht das häusliche Umfeld aus aktuellen häuslichen Bedingungen, die die Entwicklung des Kindes behindern oder gefährden oder für die Entwicklung des Kindes besonders förderlich sind sowie die Entwicklung der Familienverhältnisse und der häuslichen Lebensumstände. Gleiches gilt auch für die weiteren Bedingungen und Lebensumstände.
Zur näheren und spezifischen Beschreibung dessen, was unter Situation und Umfeld zu verstehen ist, finden sich jedoch keine befriedigenden und praxisrelevanten Hinweise. Meist sammeln Diagnostiker vor allem im Rahmen der Anamnese, einem mehr oder weniger standardisierten Fragebogenschema folgend, Informationen über das engere und weitere Umfeld eines Kindes, ohne für die erhobenen Fakten einen sachlichen Zusammenhang zum Problemverhalten oder der Fragestellung angeben zu können. Die zwangsläufige Folge davon ist, dass diese Informationen auch nicht zum Verstehen der vorliegenden Lern- und Entwicklungsproblematik genutzt werden können.
Zur Bestimmung der Lernsituation und damit zum Finden bedeutsamer Informationen aus der Lebensumwelt eines Kindes kann das Konzept des Lebensraums von Lewin (1969) herangezogen werden. Der Lebensraum besteht aus der psychologischen Person und der psychologischen Umwelt ( Abb. I.7).
Abb. I.7: Darstellung des Lebensraumes: P = psychologische Person, U = psychologische Umwelt (aus: Breitenbach, E. (2003): Förderdiagnostik. Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die Praxis. Würzburg: edition bentheim, 44)
Die psychologische Umwelt eines Individuums enthält nur Gegebenheiten, die für das Individuum gegenwärtig von Bedeutung sind. Physikalische, soziale oder begriffliche Fakten zählen zum Lebensraum nur insofern, als sie sich für eine individuelle Person in ihrem momentanen Zustand als wirksam erweisen. Sie existieren nicht als objektive Fakten, sondern stellen sich so dar, wie sie vom Individuum verstanden und erlebt werden. Der Lebensraum ist nicht räumlich-zeitlich zu verstehen, sondern ist im Wesentlichen von psychologischer Natur.
Des Weiteren ist der Lebensraum der Inbegriff des Möglichen. Nicht die unterschiedlichen Fakten als solche sind im Erleben eines Individuums bedeutsam, sondern eher deren funktionelle Möglichkeiten. Im Lebensraum eines Kindes existieren so z. B. Erwachsene, die freundlich sind oder streng, Räume, die das Zusammensein mit Menschen ermöglichen und andere, an denen man vor dem Zugriff Erwachsener sicher ist. Manche Dinge reizen zum Essen, andere zum Klettern. Ein Stuhl existiert im Lebensraum nicht als Stuhl, sondern als etwas, worauf man sich setzen kann, wenn man müde ist, oder als etwas worauf man sich knien kann, wenn man als kleines Kind aus dem Fenster schauen möchte. Ein physikalisches, soziales oder begriffliches Faktum kann sogar für ein und dasselbe Kind in verschiedenen Bedürfnislagen und Situationen eine unterschiedliche psychologische Bedeutung besitzen. Ob etwas zum Essen reizt oder nicht, hängt auch davon ab, ob das Kind hungrig oder satt ist. Ein Kind hält sich an eine Regel oder nicht, je nachdem, ob die Erzieherin anwesend ist oder nicht. Lewin (1969) bezeichnet die Fakten des Lebensraums deshalb auch als quasi-physikalisch, quasi-sozial und quasi-begrifflich.
Er unterscheidet bei der Analyse und Vorhersage von Verhalten zwischen der Lebens- und der Momentsituation. Ein Kind sitzt so z. B. in der Schule und soll Rechenaufgaben lösen. Einige Mitschüler, darunter auch der Banknachbar, sind mit ihren Rechenaufgaben längst fertig und dürfen malen. Das Kind schaut immer wieder zu den malenden Mitschülern und lässt sich von seinen Rechenaufgaben ablenken. Der Lehrer wird immer ungeduldiger und fordert das Kind wiederholt auf, zügiger zu arbeiten. Das Kind ärgert sich. Dies wären einige Daten über die Momentsituation dieses Schülers. Über seine Lebenssituation ließe sich vielleicht sagen, dass er noch einen zwei Jahre älteren Bruder hat. Die Mutter ist alleinerziehend, arbeitet und hat wenig Zeit für die beiden Buben. Momentan ist sie besonders angespannt und schimpft bei jeder Kleinigkeit. Am Morgen hat sie sogar damit gedroht, die beiden Buben ins Am zu geben. Dass Lebens- und Momentsituation eng miteinander verknüpft sind, ist für Lewin (1969) offensichtlich. In obigem Beispiel kann die Lebenssituation einen nicht sehr gegenwärtigen Hintergrund für die Momentsituation bilden. Es könnte aber auch sein, dass der Junge während des Rechnens immer wieder besorgt an die Drohung der Mutter denkt, ihn in ein Heim zu geben. Die Lebenssituation würde so zu einem Teil der Momentsituation. Obwohl die Lebenssituation in irgendeiner Weise alles Verhalten mitbestimmt, ist nach Lewin (1969) das Ausmaß dessen, was explizit zum Lebensraum zählt, in verschiedenen Fällen recht unterschiedlich. Je nachdem, welche Entscheidung zu treffen ist, welches Problem zu lösen ist, tritt manchmal die Lebenssituation und manchmal die Momentsituation in den Vordergrund.
Vergangenheit und Zukunft oder das Unwirkliche und die Beziehung zum gegenwärtigen Lebensraum ist für Lewin (1969) ebenfalls eine zu klärende Frage. Möchte ein Kind beim Ausmalen von unterschiedlichen Formen besonders exakt arbeiten und mit den Farbstiften möglichst nicht über die vorgegebenen Begrenzungslinien hinausfahren, um von seiner Erzieherin gelobt zu werden, so ist dieses Ziel als psychologisches Faktum für Lewin (1969) zweifellos ein gegenwärtiges, das einen wesentlichen Bestandteil des momentanen Lebensraumes ausmacht. Dagegen ist der Inhalt des Zieles, nämlich das exakte Ausmalen als solches und das sich daran anschließende Lob, ein zukünftiges Ereignis und somit außerhalb des gegenwärtigen Lebensraumes. Eine ähnliche Differenz der Zeitbestimmung für das psychische Faktum und seinen Inhalt besteht auch im Zusammenhang mit Vergangenem, also z. B. der Erinnerung an die Scham über zurückliegende Ereignisse. Die gesamte Lebenssituation sowie Vergangenes und Zukünftiges sind daher wesentliche Bestandteile des Lebensraumes. Sowohl Aspekte aus der bisherigen Lern- und Lebensgeschichte als auch Ziele und Wünsche, die in die Zukunft weisen, bestimmen den Lebensraum. Durch die förderdiagnostische Fragestellung wird die zu untersuchende Lernsituation und damit der spezifische Lebensraum ausgewählt und bestimmt. Je nach gewählter Momentsituation muss die gesamte Lebenssituation, müssen Ereignisse aus der Vergangenheit oder Vorstellungen über die Zukunft mehr oder weniger stark bei der Beschreibung des Lebensraumes berücksichtigt werden.
Eine weitere mit der Zeitbestimmung in gewisser Weise verwandte Frage ist für Lewin (1969) die Frage nach der Bestimmtheit oder Klarheit von psychologischen Fakten. Das Berufsziel eines 14-jährigen Jungen kann noch völlig vage und unklar sein. Erwartungen an eine andere Person oder Situation können sehr bestimmt und klar formuliert werden. Die zunehmende Orientierung in einer neuen Umgebung bringt eine Abnahme im Grad der Unklarheit. Bestimmtheit oder Unbestimmtheit spielen eine große Rolle für Entscheidungen oder auch für die Klarheit und Festigkeit eines bestimmten Verhaltens. Es handelt sich hierbei für Lewin (1969) um eine wesentliche Eigentümlichkeit jeder Situation, und damit auch des Lebensraumes.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man den Lebensraum eines Kindes nur erfassen kann, wenn man sich in ein Kind hineinversetzt, die kindliche Perspektive einnimmt und versucht, die Lebens- und Momentsituation eines Kindes mit dessen Augen zu betrachten. Das Konzept des Lebensraumes macht deutlich, dass nur diejenigen Gegebenheiten zur psychologischen Person und zur psychologischen Umwelt zählen, die für die aktuelle zu analysierende Situation aus der Perspektive des Kindes bedeutsam sind. Nicht jedes Lern- und Verhaltensproblem in der Schule erfordert automatisch eine weitgehende Anamnese und umfangreiche Recherche über das schulische und häusliche Umfeld. Informationen und Fakten über eine Person und ihr Umfeld werden erst zu förderdiagnostischen Informationen, wenn der Diagnostiker die Bedeutung kennt, die diese Person ihnen aus ihrer aktuellen Situation und Perspektive heraus beimisst.
In der Praxis erweist sich die Suche nach bedeutsamen Informationen als durchaus schwierig. So offenbaren manche Daten erst im Nachhinein ihre Bedeutsamkeit und damit ihre Zugehörigkeit zum Lebensraum. Hofmann (1998) schlägt deshalb in Anlehnung an Bronfenbrenner (1981) ein Vorgehen in konzentrischen Kreisen vor, die sich um die spezifische Situation gruppieren lassen. Auf diese Weise wird es möglich, von einem Problem ausgehend zunächst die Momentsituation und im weiteren Verlauf der Diagnostik auch die Lebenssituation eines Kindes mehr und mehr auszuleuchten. Zum Beispiel könnte der erste Kreis bei einem Schulleistungsversagen nach Hofmann (1998) bestehen aus:
• dem Lernstand des Kindes in der Schulsituation,
• der Unterrichts-, Lehrer- und Klassensituation bezüglich der Art und Weise des Unterrichtsgesprächs (Melden, Nicht-Melden, Aufgerufenwerden, Nicht-Aufgerufenwerden, Zwischenrufe, Klassenklima),
• der Unterrichtsorganisation, der Sitzordnung, Verteilen von Verantwortung und »Ämtern«, Verhältnis Jungen – Mädchen,
• der Stellung in der Klasse (Außenseiterrolle, Wertschätzung, Akzeptanz)
• dem Stundenplan (Abfolge der Lehrer- und Stundenwechsel, Pausengestaltung, Wege im Schulhaus).
Ein zweiter Kreis könnte gebildet werden durch das Einbeziehen des Schulweges, beispielsweise bestehend aus der Situation im Schulbus, Länge des Heimweges oder Auffälligkeiten in der ersten oder letzten Stunde. Erst in einem dritten Kreis käme die häusliche Lernsituation in den Blick. Fragen in diesem Zusammenhang wären: Wo, wann und mit wem macht das Kind seine Hausaufgaben oder macht es diese überhaupt? Wer kann helfen und wie sieht diese Hilfe aus?
Weitergehend könnte sich dann das diagnostische Interesse auf mögliche Beziehungsprobleme innerhalb der Familie oder auf die soziale Situation der Familie richten. Vorstellbar wäre auch noch ein weiterer »diagnostischer Kreis«, der das Bildungs- und Schulsystem mit seinen unterschiedlichen Schularten als Lernsituation in den Blick nimmt.