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3.1.2 Sonderpädagogische Diagnostik

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Gemäß der Definition von Sonderpädagogik als einer Pädagogik unter erschwerten Bedingungen formuliert Schuck (2000), sonderpädagogische Diagnostik sei nichts anderes als eine pädagogische Diagnostik zur professionellen Begleitung und Gestaltung von Prozessen der Bildung, Erziehung und Förderung unter eben erschwerten Bedingungen. Unter Rückgriff auf die Anthropologie des Lernens von Loch (1982), der Lernen als widerständig beschreibt, als ein ständiges Bemühen, Lernhemmungen zu überwinden, die entstehen, weil die Lernfähigkeiten oder Kompetenzen eines Kindes nicht den Lernaufgaben, die eine Lebenssituation stellt, entsprechen, führt Breitenbach (2003) aus, dass sonderpädagogische Diagnostik immer dann gefragt ist, wenn diese zum Lernen gehörenden Lernhemmungen so gravierend sind, dass sie mit den im Umfeld vorhandenen erzieherischen Möglichkeiten nicht mehr zu bewältigen sind. Auf die sonderpädagogische Diagnostik aufbauend, erfolgt in der Regel eine entsprechende sonderpädagogische Förderung, die sich nach Kretschmann (2006a) ebenfalls durch eine Bereitstellung und Durchführung besonderer Hilfsangebote, die über das pädagogische Standardangebot deutlich hinausgehen, auszeichnet.

Die sonderpädagogische Diagnostik ist für Nußbeck (2001) keine besondere Diagnostik, die über eigene von der psychologischen Diagnostik unterscheidbare Theorien, Instrumentarien oder Kriterien verfügt. Ihre Spezifizierung bezieht sich einerseits auf ihre Klientel, nämlich auf Personen, denen eine besondere Förderung zukommen soll, und andererseits auf den Personenkreis, der diagnostiziert, folglich die Sonderpädagogen.

Bundschuh (2010) betrachtet die sonderpädagogische Diagnostik zwar als ein Teilgebiet der Sonder- und Heilpädagogik, definiert diese jedoch dann fast wortgleich zur Ingenkamp’schen Definition der pädagogischen Diagnostik.

Stellt die Abgrenzung zwischen der pädagogischen und psychologischen Diagnostik schon ein schwieriges Unterfangen dar, so erscheint die begrifflich-inhaltliche Trennung der sonderpädagogischen von der pädagogischen Diagnostik schier unmöglich und letztendlich bleibt immer nur der Bezug auf die spezifischen sonderpädagogischen Situationen, Problem- und Fragestellungen.

Petermann und Petermann (2006) erkennen bei ihrem Blick auf die sonderpädagogische Diagnostik aus psychologischer Perspektive als Besonderheit ein multimodales und multimethodales Vorgehen, das ähnlich wie die psychologische Diagnostik ein Problemlöse- und Entscheidungsprozess ist, der einerseits der Abklärung eines Status quo und andererseits aber auch der Verlaufskontrolle dient. Dabei werden nicht nur psychische Störungen, sondern auch subklinische Phänomene und Probleme, kognitive Störungen und verschiedene umschriebene Entwicklungsstörungen, Risiko- und Schutzfaktoren aufseiten des Kindes, seiner Familie und seines Lebensumfeldes sowie der sonderpädagogische Förderbedarf im Hinblick auf Unterricht, Erziehung, Therapie und spezifisches Training mit optimalem Förderort erfasst. Diese Definition führt vor Augen, dass auch in der sonderpädagogischen Diagnostik die Status- und Prozessorientierung als zentrale diagnostische Strategien zu betrachten sind und um welch breites und umfassendes Handlungsfeld es sich beim sonderpädagogischen handelt, wie vielfältig sich die Anwendungsbereiche, die Methoden und Verfahren und damit auch die Grundlagen in den Referenzwissenschaften darstellen.

Um dieses große Aufgabengebiet zu bewältigen, bedarf die heilpädagogische Diagnostik nach Bundschuh (2010) einer engen Verbindung insbesondere zur Entwicklungspsychologie, der pädagogischen Psychologie, der klinischen, der medizinischen und der Sozialpsychologie. Ähnliche inhaltliche Zusammenhänge und Bedingungen umreißt Kretschmann (2004) in einem Modul »Pädagogische Diagnostik« in der Ausbildung von Lehrkräften. Neben den Grundlagen der psychologischen und pädagogischen Diagnostik im engeren Sinne sollten sonderpädagogische Diagnostiker neben didaktisch-methodischen Kompetenzen auch über ein Metawissen zu Entwicklungsverläufen und Störungsbildern sowie zu Präventions- und Interventionskonzepten verfügen.

Entsprechend der psychologischen Diagnostik lässt sich auch die sonderpädagogische in einem diagnostischen Dreieck, und somit in einem Spannungsfeld von Anwendungen, Methoden und Grundlagen beschreiben und charakterisieren ( Abb. I.4).

Die Grundlagen der sonderpädagogischen Diagnostik entstammen der Allgemeinen Heil- und Sonderpädagogik und den einzelnen sonderpädagogischen Fachrichtungen (Geistigbehindertenpädagogik, Lernbehindertenpädagogik, Sprachbehindertenpädagogik, Verhaltensgestörtenpädagogik, Körperbehindertenpädagogik, Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik) ebenso wie den sogenannten Hilfs- oder Referenzwissenschaften (Allgemeine Didaktik, psychologische Diagnostik, pädagogische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Soziologie, Psychiatrie/Neurologie, Augenheilkunde, Orthopädie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde). Anwendung findet sie in den Handlungsfeldern Frühförderung, Vorschule, Schule, Berufsausbildung, Arbeit, Wohnen, Freizeit und als Methoden sind neben den herkömmlichen psychologischen Methoden wie Anamnese, Verhaltensbeobachtung und psychologische Tests sonderpädagogisch spezifische wie Screeningverfahren, Fehleranalyse, curriculumbasiertes Messen, Kompetenzinventare oder Aufgabensammlungen, Rehistorisierung, Konsulentenarbeit oder das schulische Standortgespräch zu nennen.


Abb. I.4: Das Dreieck der sonderpädagogischen Diagnostik in Anlehnung an das diagnostische Dreieck nach Hossiep und Wottawa ( Abb. I.1) (eigene Darstellung)

Vor diesem Hintergrund ist es kaum vorstellbar, dass eine Lehrkraft in einer inklusiven Schule diese Fülle von fachspezifischen und diagnostischen Kompetenzen in sich vereint, um somit alle Schüler mit ihren extrem unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen verstehen und entsprechende individuell ausgerichtete Fördermaßnahmen entwickeln und durchführen zu können. Nur ein Team bestehend aus verschiedenen spezialisierten Fachleuten wird auch weiterhin diesen komplexen diagnostischen Aufgaben in der Sonderpädagogik gewachsen sein.

Nach Mutzeck (2004) verfügt die sonderpädagogische Diagnostik über ein weiteres, immer wieder hervorgehobenes charakteristisches Merkmal: Sie ist verstehende Diagnostik, die Außen- und Innenperspektive in den diagnostischen Prozess einbezieht. Kauter (1998a; 1998b) geht davon aus, dass menschliches Handeln zwei Seiten hat, nämlich eine Außenseite, die von anderen Menschen beobachtet werden kann, und eine Innenseite, die nur dem handelnden Subjekt selbst zugänglich ist. Will man das Handeln eines Menschen verstehen, um aus diesem Verständnis z. B. Förderhilfen abzuleiten, muss ein Zugang zur inneren Realität gefunden werden. Der Diagnostiker muss verstehen lernen, was einem Menschen bei seinem Verhalten durch den Kopf geht, welche Gefühle ihn bewegen und welche Ziele er mit seinem Handeln verfolgt. Dazu ist es notwendig, sich in die psychische Situation einzufühlen, die Perspektive zu wechseln, die Dinge mit den Augen des betroffenen Menschen zu sehen, die Sinnstrukturen des individuellen Handelns, die Welt- und Selbstsicht des Subjekts, seine Psycho-Logik zu erkennen. Ein in dieser Beziehung hilfreiches Konstrukt ist das Konzept des Lebensraums von Kurt Lewin (1969), das im Zusammenhang mit der Förderdiagnostik als Situationsdiagnostik ausführlich beschrieben wird ( Kap. I.4.2.2).

Vor allem im Umgang mit Menschen mit komplexer Behinderung stehen Diagnostiker immer in der Gefahr, durch ihr Tun den anderen zu depersonalisieren. Der Mensch verschwindet hinter seiner Diagnose und tritt mit seinen spezifischen Vorlieben, Begabungen, biografischen Erfahrungen gar nicht mehr in Erscheinung. Eine verstehende heilpädagogische Diagnostik, die aufzeigt, wie sich die Behinderung im Lebenskontext des betroffenen Menschen zeigt und die weiß, dass sich Lehr-, Lern- und Unterstützungsbedarfe eines Menschen nur aus seinen responsiven Verhältnissen heraus bestimmen lassen, wie es z. B. in der Konsulentenarbeit geschieht, entgeht der Gefahr der Depersonalisierung (Fornefeld 2008).

Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik

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