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5 Selektions- oder Platzierungsdiagnostik

5.1 Inhalte und Aufgaben

Fragen der Selektion und Platzierung, die der Logik einer normorientierten, klassifizierenden und taxonomischen Statusdiagnostik folgen, sollen nach Kany und Schöler (2009) zu Informationen darüber führen,

• ob ein Kind altersgemäß entwickelt ist,

• ob die Entwicklung synchron verläuft, d. h., ob Leistungs-, Persönlichkeits- sowie sozialemotionale Entwicklung im Einklang verlaufen,

• ob ein Verdacht auf eine Störung in einem der Entwicklungsbereiche vorliegt und

• wie die Aussichten für die weitere Entwicklung sind.

Erfasst wird der aktuelle Status einer Person in verschiedenen Leistungs- und Persönlichkeitsbereichen, indem man sich, so Trost (2008), methodisch vor allem auf psychologisches Tests oder andere standardisierte psychometrische Verfahren stützt, die dann auch die gewünschten inter- und intraindividuellen Vergleiche zulassen.

Die Leistungsdiagnostik ist nach wie vor durch die Intelligenztests geprägt, obwohl mittlerweile auch spezielle Leistungstest z. B. zur Messung der Aufmerksamkeit und Konzentration oder unterschiedlicher Gedächtnisfunktionen existieren.

Ebenfalls zur Leistungsdiagnostik zählen nach Kubinger (2009) die Entwicklungs- und Eignungsdiagnostik mit entsprechenden psychometrischen Verfahren. Entwicklungstests bilden eine Untergruppe der Leistungstests, die sich auf das Säuglings-, Kleinkind- oder Vorschulalter beziehen und entwicklungsrelevante Bereiche wie Lernen und Gedächtnis, visuelle Wahrnehmung, Sprache, Motorik usw. erfassen. Eignungstests bestimmen die Fähigkeiten und die Motivation einer Person, bestimmten beruflichen oder ausbildungsbezogenen Anforderungen und Erwartungen zu genügen. Für Kubinger (2009) geht es auch darum, ob der zur Diskussion stehende Ausbildungsweg bzw. Beruf den Bedürfnissen und der Lebensorientierung der Person entspricht.

Im Unterschied zur Leistungsdiagnostik, wo der Proband ein Zielmerkmal realisieren soll und seine Antwort richtig oder falsch sein kann, wird in der Persönlichkeitsdiagnostik das Zielmerkmal beschrieben und festgestellt, ob es vorhanden ist oder nicht oder in welcher Qualität oder in welchem Ausmaß es vorhanden ist. Wenngleich auch Intelligenz und andere Leistungsbereiche Teile der Persönlichkeit sind, zählen sie nicht zu den Kategorien der Persönlichkeitsdiagnostik. Persönlichkeitstests erfassen überdauernde Persönlichkeitseigenschaften oder -merkmale, in denen sich Menschen unterscheiden. Dabei bezieht man sich heutzutage nach Meinung von Kubinger (2009) auf das Persönlichkeitsmodell der »Big-Five«, in dem angenommen wird, dass sich Menschen wesentlich hinsichtlich der Faktoren Neurotizismus oder emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit unterscheiden.

5.2 Diagnose vor der Diagnostik

Gerade in der sonderpädagogischen Praxis begegnet uns immer wieder eine quasi zweistufige diagnostische Fragestellung: zunächst die institutionelle Fragestellung nach Ein- und Umschulung, Zuweisung oder nach dem sonderpädagogischen Förderbedarf und anschließend nach erfolgter Platzierung die förderdiagnostische, erziehungs- und unterrichtsbegleitende Fragestellung, die auf verursachende und aufrechterhaltende Bedingungen für Lern- und Entwicklungsprobleme und auf diesbezügliche Fördermöglichkeiten abhebt (Arnold 2007; Kany & Schöler 2009; Trost 2008). Die Diagnose vor der Diagnostik geht der Frage nach, inwieweit ein sonderpädagogischer Handlungsbedarf gegeben ist, ob eine besondere sonderpädagogische Intervention, Förderung, Therapie oder gar eine Einweisung in eine bestimmte Institution angezeigt sind. Sie ist vor allem für administrative Entscheidungen und für die Kostenübernahme z. B. therapeutischer Hilfen und Interventionen notwendig.

Eine Diagnostik, die Fragen der Selektion und Platzierung aufgreift und beantwortet, wird, so Trost (2008), von vielen Befürwortern der Förderdiagnostik als eine rückständige und anstößige Form der sonderpädagogischen Diagnostik angesehen, da sie ein segregierendes Schul- und Ausbildungssystem stabilisiere und integrative Modelle verhindere. Dies ist für Trost (2008) jedoch ein denkbar unglücklicher Standpunkt, »denn im sonderpädagogischen Handlungsfeld sind de facto institutionelle Fragestellungen zu beantworten und es zählt zu den selbstverständlichen Aufgaben sonderpädagogischer Diagnostik, sich mit aller Sorgfalt und Parteilichkeit für die betroffenen Menschen mit Behinderung an der bestmöglichen Absicherung institutionsbezogener Entscheidungen zu beteiligen« (Trost 2008, 170).

Schuck (2004a) berichtet über die mangelhafte Qualität von Noten zur Bewertung von Lernprozessen und zur Begründung von Übergangsempfehlungen und konstatiert aufgrund der vorliegenden empirischen Befunde, dass die Schulnoten, denen im gegliederten Schulsystem die systemnotwendige Selektionsfunktion zukommt, aufgrund der empirischen Datenlage, eigentlich längst hätten abgeschafft werden müssen. Ergebnisse aus der IGLU-Studie offenbaren anhand der geringen Korrelation zwischen Lesenote und erreichter Lesekompetenzstufe, wie mäßig die Lesenote als Kennzeichnung eines Lernprozessergebnisses taugt.

Ähnlich kritisch äußert sich Schuck (2004a) zur Brauchbarkeit von Schulnoten beim Aussprechen von Übergangsempfehlungen in die Sekundarstufe und damit zur Gestaltung des weiteren schulischen Werdegangs, indem er auf Untersuchungen rekurriert, die wiederum die Leseleistung von Kindern am Ende der vierten Klasse mit deren Empfehlungen zum Übergang an die Haupt-, Realschule bzw. ans Gymnasium in Beziehung setzen. Dabei zeigt sich eine Überlappung der Leseleistungen der Hauptschul- und Gymnasiumsempfohlenen in einem Bereich von zwei Kompetenzstufen oder von 200 Punkten bei einer Skalenlänge von 450 Punkten. »Wer ist in diesem Überlappungsbereich eigentlich Gymnasiast oder Hauptschüler? Schreit ein solches Ergebnis nicht nach mehr Gerechtigkeit, nach mehr Präzision der Diagnostik und besser qualifizierten Diagnostikerinnen und Diagnostikern« (Schuck 2004a, 352)?

Die Reihe entsprechender Befunde, die über die Untauglichkeit bisheriger Selektions- und Platzierungsdiagnostik vor allem im schulischen Bereich berichten, ließe sich fast beliebig fortsetzen und verweist nur auf die dringende Forderung nach qualitativ besseren Instrumenten und Verfahrensweisen.

5.3 Probleme und Grenzen

Gerade wegen ihrer Bedeutsamkeit für weitreichende Entscheidungen im Leben von Menschen mit und ohne Behinderungen muss auch auf die vorhandenen Probleme und Begrenzungen im Zusammenhang mit der Selektions- und Platzierungsdiagnostik aufmerksam gemacht werden.

Die Qualität einer Selektions- und Platzierungsdiagnostik und die auf ihr beruhenden Entscheidungen hängen zu großen Teilen von der Klarheit, der Genauigkeit und Vollständigkeit der zugrunde gelegten Anforderungsprofile und Kategorien ab. Ungeklärt bleiben dort meist Fragen, ob die Anforderungen im Profil gleichwertig nebeneinanderstehen oder hierarchisch zu werten sind oder ob jede einzelne Anforderung unabdingbar ist oder ob nicht bestimmte Anforderungen wechselseitig kompensierbar sind oder einfach, in welchem Ausmaß die einzelnen Anforderungen gegeben sein müssen.

Mit der Unklarheit in den Anforderungsprofilen geht oft auch eine Unklarheit bei den verwendeten Begriffen und Kategorien einher. Beredtes Beispiel für dieses Problem sind die steigenden Gesamtquoten für Menschen mit Behinderungen und die höchst unterschiedlichen Anteile der einzelnen Förderschwerpunkte zwischen den Bundesländern, aber auch innerhalb der Bundesländer. Der Anteil aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland ist seit 1950 von 1,3 Prozent auf 6,2 Prozent im Jahr 2010 gestiegen (Preuss-Lausitz 2010; Klemm & Preuss-Lausitz 2011) und die Differenzen in den Förderschwerpunkten zwischen den Bundesländern schwanken zwischen dem Doppelten und dem Siebenfachen (Klemm & Preuss-Lausitz 2008; 2011). Wer also zu einem Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird, ist selbst bei den vermeintlich eindeutig gefassten Behinderungsschwerpunkten höchst strittig und es fehlen noch immer trotz KMK-Empfehlungen und Prüfung der entsprechenden Gutachten durch die Schulaufsicht klare und einheitliche Standards.

Der bevorzugte Einsatz psychometrischer Verfahren im Rahmen der Selektions- und Platzierungsdiagnostik speziell in sonderpädagogischen Arbeitsfeldern ist für Trost (2008) mit einigen beachtenswerten Problemen behaftet. So ist die Interaktion zwischen Diagnostiker und Proband durch die Standardisierung erheblich eingeschränkt, was in sonderpädagogischen Zusammenhängen oft nachteilig wirkt, weil hier immer wieder über die Standardisierung hinausgehende zusätzliche Hinweise, Verdeutlichungen, Erläuterungen, Ermutigungen oder Unterbrechungen erforderlich sind, will man ein aussagekräftiges Untersuchungsergebnis erhalten. Des Weiteren wird durch die individuumzentrierte Perspektive die Verantwortlichkeit für ein Testergebnis, eine Testleistung allein ins Kind verlagert. Kontextvariablen, die ebenfalls ein Ergebnis mitbestimmen, bleiben aufgrund des Objektivierungsgebotes mithilfe der Standardisierung weitgehend unberücksichtigt. Ursachen werden kaum aufgedeckt, da psychologische Tests in erster Linie Aussagen über das Vorhandensein und nicht über das Zustandekommen machen. Auch ist ein Zahlenwert als Ergebnis eine dürre und recht ungeeignete Beschreibung einer Lebens- und Lernsituation. Darüber hinaus stellt die Logik der Defizit- und Problemorientierung ein weiteres Problem dar, indem sie Verhaltensauffälligkeiten ausschließlich als Normabweichung und als problematisches Verhalten interpretiert. Was aber als Pathologie oder Störung erscheint, kann ein subjektiv sinnvolles und in einer bestimmten Lebenssituation gut angepasstes Verhalten sein, was als eigenaktiver Beitrag zur Problembewältigung bei Förderung und Intervention zu berücksichtigen wäre.

Als Ergebnis eigener Untersuchungen berichtet Schuck (2004a) über die immer noch vorhandene Dominanz der Intelligenztestverfahren in den sonderpädagogischen Gutachten, mit deren Hilfe vor allem die Frage nach der Platzierung beantwortet und begründet wird. Die mutmaßlichen Ursachen für Schulversagen werden also vorwiegend im kognitiven Leistungsvermögen gesucht, worin für Schuck (2004a) eine entwicklungspsychologisch überholte Vorstellung zum Ausdruck kommt, dass Menschen der inneren Bedingung Intelligenz gewissermaßen ausgeliefert sind. Dieser Glaube an die determinierende Kraft kognitiver Leistungen ist mit vorliegenden empirischen Daten nicht vereinbar, wonach z. B. zwischen Intelligenz und Rechtschreib- bzw. Leseleistung äußerst geringe Korrelationen bestehen. So konnten in der IGLU-Studie 55,5 Prozent der Kinder mit einem Intelligenzquotienten von weniger als 85 die Kompetenzstufen von zwei bis vier erreichen und 11,5 Prozent dieser Kinder sogar noch die höchste Kompetenzstufe. »Diese empirischen Ergebnisse deklassieren eine pädagogische Strategie, die ein niedriges Intelligenztestergebnis zum Kriterium für die Auswahl von schulischen Anforderungsniveaus macht, auf dieser Grundlage Schulentscheidungen trifft und damit Lebenschancen verteilt« (Schuck 2004a, 351 f.).

5.4 Zusammenfassung

Die Platzierungs- und Selektionsdiagnostik folgt der Logik einer norm- und kriteriumsorientierten Statusdiagnostik und bedient sich methodisch in erster Linie psychometrischer Verfahren, um den Status einer Person in unterschiedlichen Leistungs- und Persönlichkeitsbereichen zu erfassen. Sie umfasst Inhalte und Aufgaben der Leistungs-, Entwicklungs-, Eignungs- und Persönlichkeitsdiagnostik.

Sie kann im sonderpädagogischen Handlungsfeld als eine Diagnose vor der Diagnostik bezeichnet werden, die zunächst sonderpädagogischen Handlungsbedarf feststellt und damit Zuweisungen und Platzierung veranlasst und begründet, um dann im zweiten Schritt notwendigerweise von einer den Förderbedarf und die Fördermaßnahme näher bestimmenden Förderdiagnose ergänzt zu werden.

Gerade wegen der großen Bedeutung dieser Erstdiagnosen für die Zuweisung von Ressourcen und die Verteilung von Lebenschancen, was im schulischen Bereich mithilfe von Noten, Gutachten und Empfehlungen durch Lehrkräfte nur äußerst mangelhaft gelingt, müssen dem Diagnostiker wichtige Probleme und Begrenzungen der Situations- und Platzierungsdiagnostik bewusst sein, um die mit ihr verbundenen weitreichenden Entscheidungen verantwortungsbewusst und professionell vorzubereiten.

Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik

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