Читать книгу Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik - Erwin Breitenbach - Страница 36
4.2.4 Vorgeordnete Theorien und Wertvorstellungen mitdenken
ОглавлениеDie Notwendigkeit und Bedeutung vorgeordneter Theorien kam bereits im vorangegangenen Kapitel zur Sprache, soll hier jedoch noch einmal explizit aufgegriffen und thematisiert werden. Die Beschreibung der Förderdiagnostik als hypothesengeleiteter Prozess macht deutlich, dass sie notwendigerweise eingebettet sein muss in pädagogische, didaktische oder psychologische Theorien. Nur auf der Grundlage eines derartigen Fachwissens lassen sich an den entsprechenden Stellen des förderdiagnostischen Prozesses die erforderlichen Hypothesen gewinnen. Darüber hinaus ist Diagnostik allgemein ein interpretierendes Vorgehen, das an verschiedenen Stellen auf vorgeordnete Theorien zurückgreifen muss.
Bereits beim Erkennen und Aufnehmen von Daten muss bedacht werden, dass diese Daten dem menschlichen Verhalten nicht als solche anhaften. Der Diagnostiker findet die Daten nicht einfach als gegeben vor, um sie dann nur noch einsammeln zu müssen. Bereits die Datenaufnahme ist, wie Schlee (1985a) richtig feststellt, ein aktives Gestalten und Konstruieren. Diagnostische Daten treten als solche erst unter bestimmten Fragestellungen und Perspektiven in Erscheinung. Je nach Fragerichtung, Sicht- und Herangehensweise ergeben sich unterschiedliche Daten. Die lapidare Aussage, dass Intelligenz das ist, was durch den Intelligenztest gemessen wird, ist so betrachtet durchaus richtig und nachvollziehbar. Da Intelligenz ein hypothetisches Konstrukt ist, liegt der Konstruktion eines jeden Intelligenztests eine spezifische Vorstellung, ein Modell von Intelligenz zugrunde und dieses Intelligenzmodell bestimmt, welche Verhaltensstichproben als repräsentativ betrachtet und durch den Test erhoben werden.
In den abgenommenen Daten an sich steckt noch keine bedeutsame Aussage. Die Bedeutung ist den Daten nicht inhärent, sondern sie bedürfen der Interpretation, die ihrerseits ebenfalls theoretisch fundiert sein muss, will man Beliebigkeit vermeiden. Die Minimalinterpretation, dass ein Intelligenztestwert altersgemäß, über- oder unterdurchschnittlich ist, lässt sich nur unter Rückgriff auf die klassische Testtheorie und die mit ihrer Hilfe berechneten Vergleichsnormen vornehmen.
Schließlich lassen sich aus den interpretierten Daten nur dann sinnvolle Konsequenzen ziehen, wenn theoretische Konzepte vorliegen, die über entsprechende Zusammenhänge und Regelhaftigkeiten Auskunft geben. Ein unterdurchschnittliches Testergebnis könnte z. B. nur dann zu Veränderungen im Lernangebot führen, wenn mittels einer Theorie entsprechende Zusammenhänge zwischen Testergebnissen und Förderangeboten beschrieben und begründet vorlägen.
Diagnostizieren ist mit Schlees Worten immer eine »in vielerlei Hinsicht theoriegetränkte Tätigkeit« (Schlee 1985a, 258). Datenerhebung, Interpretation der Daten und die aus ihnen abgeleiteten Maßnahmen bedürfen notwendigerweise einer Fundierung durch vorliegende Theorien. Die Qualität einer diagnostischen Tätigkeit und ihre Ergebnisse können nicht besser sein, als die Qualität der zugrunde liegenden Theorien es zulässt.
Mutzeck und Melzer (2007) betonen in ihrem Modell zur Förderplanung, dass erstens mithilfe der Diagnostik nur Ist-Zustands-Beschreibungen vorgenommen werden können und dass eine Förderdiagnostik und Förderplanung zweitens nur sinnvoll ist, wenn sie unterrichtlichen, erzieherischen, therapeutischen und ethischen Sollwerten und Zielen nachgeordnet und von der Bedeutung her untergeordnet ist. »Förderplanung muss unbedingt in der Zusammenschau von Unterricht, Förderung bzw. Therapie und Diagnostik gesehen und durchgeführt werden unter Einbeziehung ideeller Faktoren (Werte, Ziele, Konzeptionen) und realer Bedingungen (Person-Umfeld-Faktoren)« (Mutzeck & Melzer 2007, 208).
Um diagnostische Daten zu interpretieren und um auf Diagnoseergebnisse mit pädagogischen Interventionen kompetent antworten zu können, bedarf es laut Kretschmann (2004) eines umfangreichen Metawissens über Entwicklungsverläufe und Störungsbilder sowie über Präventions- und Interventionskonzepte.