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Genuß und Charakter

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Die zwei alten Freunde sind noch nicht wirklich alt, ältere Semester vielleicht, aber noch nicht reif genug, um den Torheiten des Lebens zu entsagen. Sie setzen sich zum Beispiel in ein Boot und glotzen stundenlang dahin, wo es außer Horizont nichts zu sehen gibt, und essen alles, was der Arzt ihnen verboten hat, wenn die Wirtin behauptet, es sei hausgemacht und gesund. Sie freuen sich, wenn sie die Trauben persönlich streicheln dürfen, deren vergorenen Saft sie in ein, zwei oder fünf Jahren trinken werden. Kurzum: die Region, von der die Rede ist, stellt für beide ein ideales Revier dar, wo sie einem Hedonismus mit menschlichem Antlitz frönen können.

In diesen und anderen Dingen sind sie sich einig. Darüber, was „einfach“ ist, streiten sich ihre Geister, und darüber, was „gut“ ist, ihre Gaumen. Denn die beiden Freunde sind ziemlich unterschiedlich in Gestalt und Lebensart. Folgt man der klassischen Kretschmerschen Typenlehre, so ist der eine ein leicht ins Pyknische tendierender Athlet, der andere ist leptosom und war nie etwas anderes.

Der eine ist Schauspieler, der andere ist Poet. Für ersten werden selbst noch die primitiv gezimmerten Tische in einer „osmizza“ im Karst sofort zu den Brettern, die die Welt bedeuten, auf denen sich gastronomische Komödien oder Tragödien abspielen. Schinken und Käse werden zu Schicksalsfragen, von zerkochten Nudeln ganz zu schweigen. Die sind für ihn ein Schillersches Komplott. So sitzt er in der Proszeniums-Loge, Hauptdarsteller, Publikum und Theaterkritiker in einem, und bricht – je nachdem – in Begeisterungsstürme oder Buhrufe aus.

Der Poet hingegen benimmt sich in der Öffentlichkeit genauso unauffällig wie in seinem Kämmerchen. Er fühlt sich als Autor. In der Küche nennt man diesen Koch. Also dreht und wendet er die Dinge auf dem Teller und versucht sich einen Reim aufs Rezept zu machen. Er verfällt ins Grübeln darüber, wie man die Sache noch besser formulieren, also würzen hätte können. Er greift nicht zur Pfeffermühle, sondern kramt in seinem gedanklichen Gewürzregal. Meist vergißt er dabei aufs Essen. Selten kommt es vor, daß er findet, er selbst hätte es nicht besser vermocht. Dann allerdings ißt er hurtig und mit Genuß. Für ihn ist es mit der Kulinarik wie mit der Literatur: Schlechte Bücher legt er beiseite, mittelprächtige liest er quer, und die guten verschlingt er.

Man kann sich unschwer vorstellen, daß diese gegensätzlichen Temperamente auf ein und dasselbe Gericht völlig unterschiedlich reagieren. Während der eine in Euphorie ausbricht, verfällt der andere in Depressionen. Dieser Konflikt hat vor allem physiologische Hintergründe.

Ihre Ernährungsgewohnheiten sind völlig unterschiedlich. Wer die beiden Reisenden bei ihrer Nahrungsaufnahme beobachtet, der versteht die Welt und die Naturgesetze nicht mehr. Weshalb ist der Dicke dick und der Dünne dünn? Das bleibt ein Mysterium. Denn der Korpulente setzt auf schlanke, elegante Kost – viel Gemüse, mageres Fleisch, leichte, naturbelassene Fischgerichte. Er ernährt sich bewußt und gesund. Er fürchtet Cholesterin und die Gicht mehr als alle Theaterkritiker Wiens. Also schält er den Fettrand des Prosciutto fein säuberlich vom Fleisch und schiebt ihn mit der Messerklinge und dem Gesichtsausdruck tiefsten Abscheus an den Tellerrand. Legt man ihm „pancetta“ vor, so empfindet er das als feiges Mordkomplott. Gans meidet er wie diese den Fuchs.

Der Dünne hingegen beobachtet derartiges Verhalten mit ironischer Nachsicht. Er schielt sogar nach dem Fett des anderen, während er seines genüßlich kaut. Er zelebriert den Genuß der „pancetta“ – wird dabei selbst zum Schauspieler –, bis sich seinem Gegenüber vom bloßen Zusehen die Galle zusammenzieht.

Zum Ärger des Schauspielers, der sich mit eiserner Selbstdisziplin an die Mahlzeiten hält, futtert der Poet ständig. Nicht genug damit, daß er in seinem Rucksack stets Proviant und Getränke mit sich führt, als sei er auf der Flucht; bei jedem Halt strebt er sofort in eine Bar, um eine „tartina“, ein „tramezzini“ oder ein „dolcetto“ zu verzehren. Dabei nimmt er kein Gramm zu, während der andere selbst bei der Seezunge natur schon wieder an die Waage denkt. Die Ungerechtigkeit scheint ein Naturprinzip zu sein.

Daß die beiden trotz ihrer Gegensätzlichkeit immer wieder miteinander auf kulinarische Entdeckungsreisen gehen, hat seinen Grund nicht nur darin, daß sie sich an ihre merkwürdige Freundschaft gewöhnt haben. Sie profitieren voneinander. Man könnte zur Erklärung ein chassidisches Gleichnis bemühen. Am Abend, nach dem zweiten Menù des Tages und dem dazugehörigen Quantum Wein, betrachtet der Poet den Schauspieler und stellt zufrieden fest, daß man von Essen und Trinken volle Wangen und eine gute Gesichtsfarbe bekommt, während jener seinen Freund mißt und bestätigt findet, daß man selbst von Völlerei nicht sichtbar zunimmt.

Einfach. Gut.

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