Читать книгу MarChip und die kleine Berthe - Esther Grünig-Schöni - Страница 6

Buch 1 (Berthe) 1. Kapitel

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Meine Geschichte um dieses Haus, das weder gut noch schlecht war, wo Leben und Tod nahe beieinander lagen, wo ich viel - zu viel - Tod sah und viel Sonne erlebte, begann an einem Morgen. Auch wenn sie schon vorher neben mir herlief und mich umgab. Da erst nahm sie Gestalt an und wurde der Anfang meiner Wiederbelebung. Es wurde das Ende einiger und der Anfang neuer Gewohnheiten. Berthe heiße ich.

Viele nannten mich töricht, unwissend, stehen geblieben in alten Zeiten, verkalkt, unbeweglich, störrisch - ohne mich zu kennen. Sie wussten nichts von mir und behaupteten es. Die kleine Berthe – damals. Sie redeten mit mir wie es nicht einmal mit dem kleinsten Kind getan werden sollte. „Sieh mal, das ist gut für dich. Dieses. Jenes ist nicht gut für dich. Das musst du so machen. Wir meinen es nur gut mit dir. Du weißt doch nicht mehr wie es sein soll. Du kannst das nicht. Du weißt das nicht. Heute ist es so. Früher war es anders. Aber jetzt ist nicht mehr früher.“ Als ob ich das nicht wüsste!

Das geschah in dem Ton, wie wenn sich jemand über einen Kinderwagen beugt, grinst, dich anstubst und dazu „Tututututu …“ oder ähnliches von sich gibt. Oder langsam spricht, jedes Wort betonend, so dass ich in der Zwischenzeit, bevor der ganze Satz zu Ende ist, bestimmt einschlafe oder demjenigen einen Tritt versetzen möchte, der ihn antreibt, damit er endlich rausrückt mit dem, was er zu sagen hat.

Sie wurden ungeduldig, weil ich langsamer als sie war, zappelten herum, verdrehten die Augen, seufzten laut oder drängelten.

„Müssen Sie hier stehen!“

„Etwas zur Seite stehen oder gehen wäre besser, so dass die Arbeitenden durch können.“

„Geben Sie den Weg frei für das Rennen des Alltags. Sie haben doch alle Zeit der Welt.“

„Diese Langsamkeit ist zum Verzweifeln.“

„Meine Zeit ist kostbar. Zeit ist Geld. Sie stehlen mir diese Zeit mit Ihrem Dasein.“

„Müssen Sie unbedingt noch leben? Legen Sie sich hin, schlafen Sie ein und Ruhe ist.“

Ja das klang bitter. Das geb ich zu. Es war eine Tatsache, dass meine Knochen und Gelenke nicht mehr wie vor Jahrzehnten waren. Manches brauchte mehr Zeit. Der Körper spürte die vorbei geflossenen Jahre, die Mühen, die Arbeiten, die Schwere. Ja. Aber mein Kopf funktionierte einwandfrei und meine Gefühle schmerzten. Sahen sie das nicht? Wenn nicht, waren ihre Augen das Problem, ihr Denken war falsch. Sie nahmen sich nicht die Mühe zu sehen.

„Das lohnt sich nicht mehr.“

„Was willst du noch?“

Was wollte ich noch? Nicht einmal ich wusste es. Woher also sollten sie es wissen? In unserer Kultur galt das Alter wenig. In anderen brachte man ihm Achtung entgegen. Natürlich waren manche von uns selbst schuld daran. Sie behandelten die Jungen mit der gleichen Verachtung. Aber war eine solche Kultur denn noch Kultur? Zurück zu den Ereignissen. Ich habe gerade die Tendenz abzuschweifen. Vielleicht auch ein Zeichen des Alters?

An diesem Tag kam er wie ein angenehmer Morgenwind durch die Türe herein. Für einmal brauste kein Sturmwind durch den Raum. Für einmal war es nicht der kalte Nordwind, der alles erfrieren ließ und unter seinem Eis begrub, bis sich nichts mehr rührte, bis nichts mehr Mühe bereitete. Es war wie eine Sommerbrise - vom sanften Meer geschickt. Dieser Vergleich war erstaunlich für jemanden wie ihn. Und doch passte er. Zu dieser Zeit sah ich das Meer nicht mehr. Es war zwar da in seiner weiten Erhabenheit. Doch das spielte für mich keine Rolle. Selbst wenn ich es roch und hörte, war es mir egal. Ich nahm es nicht bewusst wahr. Dabei hatte ich es immer geliebt. Es war nicht weit weg und doch so fern. In mir war so viel gestorben.

Ich war zwar wach, aber ich mochte die Augen nicht öffnen. Ich befand mich in einem Zustand, der einer Apathie glich. Wenn ich die Augen öffnete - das wusste ich - sah ich nichts, das mir Freude bereitete. Nicht mein Zuhause, keinen lieben Menschen, nichts, wofür es sich zu leben lohnte. Kein Ziel. Nichts, dass mein Sein schöner gestaltete und etwas änderte - verbesserte, verschönerte, erhellte.

Ich ließ meine Augen zu. Das war alles, was von meiner Stärke geblieben war - von meiner Rebellion, die sich nur leise äußerte. Ich hörte, dass jemand ans Fenster trat. Ich kannte jede Ecke, jeden Flecken und jeden Punkt an den Wänden und wusste, wie sich etwas anhörte. Ich hatte Zeit gehabt, es zu studieren. Dieser Jemand schob die schweren dunkelroten Vorhänge zur Seite - diese fantasielosen Staubfänger. Ach, vielleicht tat ich ihnen unrecht, so wie Vielem. Aber ich mochte nicht gnädig sein. Ich spürte das Licht auf meinem Gesicht. Es legte sich auf meine Augenlider und ich sah wabernde Farben erwachen. Es blendete.

Ich kniff die Augen fester zusammen. Wenn ich wie ein Kind behandelt wurde, durfte ich auch trotzig wie eines sein. Das beschloss ich. Die Farben und Formen, die Wellen, Wolken, Kreise, Spiralen und Spitzen verstärkten sich. Das war spannend und erstaunlich. Ich nahm es wahr und verlor mich darin. Ich schaute bewusster, verweilte. Ich hatte nichts anderes zu tun. Es kam mir vor wie die Sicht eines dieser Kartonrollen aus der Kinder- und Jugendzeit. Ganz vorne war ein Glas, so wie ein Fenster. Das Licht schien von dort herein. Dort lagen viele bunte Teilchen: Vierecke, Rechtecke, Dreiecke, Kreise, Sterne, Monde und viele andere Formen. Sie steckten locker zwischen zwei Glasplättchen. Wurde die Rolle gedreht, rasselte, knisterte, raschelte es angenehm – wie eine Ankündigung – und die Bilder, die Eindrücke, veränderten sich beim Hineinsehen wie in einem Fernrohr. Die Muster wurden immer wieder anders. Ein Kaleidoskop. Es bildeten sich neue Ornamente. Es war wie Fernsehen. Der Fantasie setzten sich dabei keine Grenzen und … Fernrohr? Ferne. Ich sehnte mich nach Ferne – von hier.

Aber ich blieb still liegen und erwartete das barsche Ausspucken von Worten und Sätzen. „Es ist Morgen. Zeit aufzustehen und uns bereit zu machen. Frühstück. Tag. Los, los.“

Warum konnten sie mich nicht in Ruhe lassen? Ich war in keinem Ferienlager für Pfadfinder. Sie stuften mich als hilflos ein, als jemandem, dem geholfen werden musste, weil ich mich verweigerte. Sie bestimmten, was ich musste und was ich nicht durfte. Sie und dabei war ich es, die etwas wollte oder auch nicht.

„Los, los! Auf! Wir haben nicht ewig Zeit. Aufwachen Berthe! Nun stellen Sie sich nicht so an. Sind wir unpässlich? Krank? Oder sind wir müde? Wollen wir nicht?“

Uns? Wir. Wer wir? All das wurde ohne wirkliches Interesse aus den Mündern gestoßen. Pflichtübungen, von der Zunge erschaffene Laute, unterstützt durch die unterschiedlichen Stimmbänder. Zwischen den Zähnen entfernt wie unangenehme Fremdkörper, Fetzen von Fleisch. Tat ich unrecht? Nicht alle waren so, aber die meisten, und ich rechnete nicht mehr mit Erfreulichem. Ich war zu oft in meinen Erwartungen enttäuscht worden. Mir wurde zu oft etwas hingeworfen. „Friss es Berthe!“

Nein. Ich wollte nicht.

Ich war müde, wartete auf solche Sätze, war müder als am Tag zuvor und an dem zuvor und noch weiter zurück und … nur noch müde. Was sollte ich auf dieser grauen Welt?

Ich hörte wie er ans Bett trat. Seine Schritte und sein Geruch verrieten mir, dass es ein „Er“ war, aber nicht welcher Er. Einer der Pfleger musste es wohl sein. Die waren nicht die übelsten. Trotzdem …

Ich war angespannt, wollte weder ihn noch den Tag begrüßen und schon gar nicht sehen. Ich wollte nicht weiter Stück für Stück von meiner Würde verlieren. Ich fürchtete mich vor meinen unangenehmen Gefühlen. Stolz. Persönlichkeit. Viel davon war mir nicht geblieben. Ich sollte für die Hilfen dankbar sein und empfand so manches als entwürdigend, vor allem, wenn es nicht diskret geschah. Wenn die Türe offen stand, gelacht wurde oder die Nase verächtlich und angeekelt gerümpft wurde.

Noch hatte ich Schamgefühle. Noch erinnerte ich mich an die Zeiten, wo ich selbst für mich sorgte. Warum war es auf einmal nicht mehr gegangen? Warum fühlte ich mich so steif und schmerzte so viel? Der Arzt wusste es nicht und wer, wenn nicht er? Ja ich war müde geworden, das stimmte. Andere - selbst in meinem Alter - absolvierten noch Marathons, Wanderungen, Kaffeekränzchen wenigstens, und ich musste mir bei so Vielem helfen lassen. Ich wollte nicht mehr. Ich hatte auf Gesundheit geachtet, war nicht fett und trotzdem …. ging nichts mehr. Meine Seele wollte nicht mehr. „Lasst mich in Ruhe“, schrie es in mir.

Alles war trostlos und wurde noch trostloser. Das ging soweit, dass sich alles steigerte. Gestern war erneut jemand gestorben - so plötzlich - mit dem ich mich gut verstanden hatte. Am Tag zuvor hatten wir miteinander gelacht, uns unterhalten. Nun war sie nicht mehr da. Sie hatte mir, wie sie es gerne tat, von ihren Reisen erzählt und ich ihr von meinen kleinen Erlebnissen.

Nun lag ihr Körper leblos und kalt in dem dafür vorgesehenen Kellerraum. Den Keller mochte ich nicht. Es schauderte mich. Sie machten einem etwas vor. Sie war nicht einfach eingeschlafen, weil sie alt war. Wir waren alle alt. Natürlich ging der Tod um und nahm ab und zu jemanden mit. Vor dem Tod fürchtete ich mich nicht wirklich. Es war etwas anderes. Warum kam er nicht zu mir? Ich wartete auf ihn. Wenn er still kam und nicht mit einer hässlichen Fratze, war mir das nur recht.

Ich spürte, dass sich der Pfleger aufs Bett setzte. Das war unüblich. Das taten sie nicht. Und wenn es der Tod war, der hier saß? In all der Eile hier setzte sich sonst niemand auf das Bett zu mir. Sie hatten alle keine Zeit und Order, nichts von der wenigen Zeit zu vertrödeln, sondern effektiv zu funktionieren. Dafür hatte ich sogar Verständnis, denn es gab viel zu tun. Aber manchmal fehlten mir solche Dinge - solche Gesten und Zeichen - dem Interesse an mir als Mensch. Eine Geste, mich nicht nur als Last zu empfinden.

Ich spürte Hände. Keine, die meinen Hals würgen wollten, keine, die das Kissen nahmen um es mir auf das Gesicht zu legen und mich damit zu ersticken. Keine groben Finger, die sich wie Krallen auffordernd in mein empfindliches Fleisch bohrten. Niemand rüttelte an mir. Die Hände schüttelten mich nicht. Sie taten Erstaunliches. Die Finger berührten mich sanft: meine Hände, meine Arme, sehr vorsichtig mein Gesicht. Die Hände streichelten mein Gesicht. Miro? War mein Miro wieder da? Oder war ich doch weg geschlummert und wachte auf diese Weise in einer besseren Welt auf? Erstaunt riss ich meine Augen auf. Nein, es war nicht mein Miro und es war keine andere Welt. Eine kleine Träne stahl sich aus einem meiner Augenwinkel. Er fehlte mir sehr und die bessere Welt vermisste ich.

In ein junges Männergesicht sah ich mit hellen grünen Augen. Darin war ein echtes Lächeln - wie ein Sonnenstrahl. Ich hörte eine Stimme, die mich wärmte. „Guten Morgen Berthe.“ Ich staunte still weiter.

„Bitte nicht erschrecken. Ich bin kein Einbrecher.“

Nein, danach sah es mir nicht aus. Er wirkte zu freundlich für dunkle Absichten. „Ich bin neu hier.“ Das erklärte einiges.

„Ich habe heute als Pfleger und Mann für alles angefangen.“

Da war ein spitzbübisches Funkeln erkennbar und ich nahm den Faden erstaunlicherweise auf. „Für alles?“

Er lachte. „Für Vieles. Was sehe ich in Ihren Augen aufblitzen? Schalk? Die meisten stufen Sie bestimmt völlig falsch ein.“

Das wollte ich genauer wissen. „Wie werde ich eingestuft?“

„Als senil“, dachte ich bei mir und staunte weiter. Wer war er? Ich dachte bei meiner Frage nicht an seine Funktion hier, sondern an den Menschen. Er lächelte immer noch, als er mir erzählte, was ihm vermittelt worden war.

„Mir wurde gesagt, dass Sie nicht so ganz unter uns weilen, dass Sie sich ihre eigene Welt in sich geschaffen hätten und oft nicht ansprechbar seien und wenig wahrnähmen.“

Ich schwieg. Dieses Einstufen wunderte mich nicht.

„Ich bin Chip. Möchten Sie jetzt aufstehen, dann helfe ich Ihnen, soweit es nötig ist und Sie es zulassen?“

Das gab es nicht. Meine Traurigkeit kehrte zurück und ich fragte mich, wann er die Gepflogenheiten und den Ton hier annahm. Ich betrachtete ihn. Einer wie er kam ausgerechnet hierher? Ein wirklich gut aussehender junger Mann mit so einer Art. Er hetzte nicht, er wurde nicht ungeduldig. Er versuchte, mir Lust auf den Tag zu geben. „Es ist sonnig und hell. Das Meer zaubert kleine Wellen, die wie Edelsteine glitzern. Sehen Sie es sich an. Es lohnt sich, den Tag zu beginnen.“

Wie er es beschrieb. Endlich brachte ich etwas mehr als zwei Worte heraus. „Guten Morgen Chip. Was ist aber, wenn ich schlafen möchte und mir der Tag nichts bedeutet, egal wie er aussieht?“

„Dann finden wir gemeinsam eine Lösung für dieses Problem“, konterte er.

„Entsteht dabei nicht ein Interessenskonflikt?“ wandte ich ein.

„Nur ein kleiner. Er bewegt nicht die Welt.“ Seine warme Stimme war wie Balsam für meine Seele.

„Aber die Welten vielleicht und das Bild, das sich Magda vom Tagesablauf macht. Und Sie verlieren die neue Stelle, weil sie sich nicht durchsetzen kann. Anders ausgedrückt: Weil Sie sich nicht so verhalten, wie es von Ihnen erwartet wird.“

„Ich entspreche selten Erwartungen, denn ich verhalte mich so, wie ich es für richtig ansehe. Erwartungen anderer sind nicht meine Sorge.“

„Erwartungen eines Vorgesetzten aber doch schon.“

„Nur bis zu dem Punkt, der mich persönlich betrifft, weil es meine Persönlichkeit untergräbt. Dort ist die Grenze auch dieser Erwartungen.“

Er hielt inne und lachte. „Hilfe! Ich rede …“

„Nicht wie einer, der Chip heißt“, musste ich ihm zustimmen.

„Genau. Entschuldigen Sie.“

„Was soll ich entschuldigen?“

„Ich habe mich Ihrer Intelligenz angepasst anstatt ich selbst zu bleiben und mir somit widersprochen. Das ist falsch. Ihren Standard erreiche ich nie.“

Wieder erstaunte er mich. „Das ist Unsinn.“

„Ja?“

Er schmunzelte und ich wunderte mich noch mehr als zuvor über den, der in mein Zimmer getreten war. „Abgesehen davon Berthe. Ist es nicht meine Aufgabe, mich um das Wohl der Gäste zu kümmern?“ insistierte er nun.

„Ob das Wohl der Insassen eine so große Rolle spielt?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, nicht Insassen. Das klingt für mich nach Gefängnis. Sie sind Gäste. Ich bin mit Sicherheit kein Gefängniswärter. Das ist eine Verweigerung.“

„Sie werden es merken.“

Er lachte wieder. Was für ein freches Glitzern in seinen Augen. „Wollen wir es ausprobieren? Aufstand? Sie bleiben liegen und ich denke mir etwas aus.“

„Nein. Ich will nicht, dass sie gleich am ersten Tag Schwierigkeiten bekommen. Wie ich die Lage einschätze, werden Sie das früher oder später sowieso. Aber nicht gleich. Wenn Sie mich weiter so freundlich wecken, stehe ich auf.“

„Gut. Ich helfe Ihnen, soweit es Ihnen angenehm ist.“

Nahm er sich nicht zu viel Zeit für mich? Er war außergewöhnlich. Alles an der Situation war es. Das war kein Militärdienst-Verweigerer, der seine Zeit absaß. Er war freiwillig hier. Gelernter Pfleger war er bestimmt nicht. Er passte nicht hierher. Doch er war eindeutig Bereicherung. Seine Augen glitzerten unternehmungslustig. Hoffentlich verlor er das - entgegen seiner Prognose - nie. Ich sah wie er war oder glaubte es zu wissen. Er war eigensinnig, selbstsicher, nichts an ihm wirkte mürrisch. Selbst die Haare in ihrem wirren Durcheinander waren hell und fröhlich. Vom Alter her hätte er mein Enkel sein können. Oder wirkte er nur seiner Art wegen so jung?

Wie auch immer es sich verhielt: er war das Erstaunlichste, was mir seit Monaten geschehen war. Ach was, es mussten Jahre sein. So kam es mir vor. Jahre. Ich hatte resigniert, mein Leben beendet und war zum vor mich hin vegetieren übergegangen. Ein Fehler vielleicht. Aber ich hatte Kraft und Mut verloren. Meine Rebellion hatte sich gelegt. Was war das für ein glimmender Zipfel, der ganz in der hintersten Ecke meines Innern hervor lugte? Wunschdenken. Sie hatten alles in mir erdrückt. In gewissem Sinne war ich schon tot.

Es stimmte, der Tag war hell. Das waren die Tage oft. Unverschleiert, nicht in Trauer. Frei von Wolken am Himmel. Die Wolken hatten sich stattdessen in die Herzen gesenkt und die Schleier bedeckten Gesichter, bis sie nur noch Umrisse waren. Tücher lagen auf den leeren Augen.

Wir waren hier so nahe am Meer und ich sah den Strand doch nie, spürte den Sand nie unter meinen Füssen. Manchmal hörte ich es rauschen und manchmal sah ich es vom Fenster aus, wenn ich es von dorther sehen wollte. Ich roch es. Aber ich spürte es nie an den Zehen. Wir sollten im Park bleiben, hieß es. Das sei besser für uns. Unter Kontrolle. Besser für sie. Das Gelände sei groß genug. Das mochte zutreffen. Aber nicht einmal die Welt war groß genug für uns alle. Wie also der Park? Magda und ihre Ansichten. Ich hatte eine andere. Allerdings vegetierte die nur still in mir.

Wenn ich an Alfred dachte, erlosch mein Lächeln und der Tag verdunkelte sich trotz gleißender Sonne, trotz dem schönen Wecken und dem Gespräch. Angst meldete sich. Ich hatte es gesehen, weil die Türen weit offen standen und die Fenster alles preisgaben. Sein Kopf hatte nicht auf dem Kissen geruht. Daneben lag es, das Kissen. Sein Gesicht war verzerrt wie im Schmerz, nicht friedlich entschlafen, weil die Zeit gekommen war. Die Hände waren in die Decke gekrallt. Sie sagten, er habe wohl Schmerzen gehabt.

Konnte es nicht etwas anderes sein? Sie verneinten es und winkten ab, wenn ich insistierte. Und Linette? Ähnlich. Zu ähnlich. Das Kissen seltsam verschoben neben dem Kopf. Vorgestern war es ihr gut gegangen. Sie war fit und gesund gewesen. Linette war freundlich und besaß viel Humor. Ein positiver Mensch, umgänglich und unterhaltsam.

MarChip und die kleine Berthe

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