Читать книгу MarChip und die kleine Berthe - Esther Grünig-Schöni - Страница 7

2. Kapitel

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Trotz der Sache mit Alfred war Linette guten Mutes geblieben. Alles war in Ordnung, kein Gewitter am Himmel. Doch gestern war sie eingeschlafen. So drückten sie sich aus, weil sie das Wort nicht in den Mund nehmen wollten. Sie sagten nicht: Sie ist tot. Sie sagten eingeschlafen.

Wenn ich einschlafe, träume ich oder nicht und ich wache wieder auf. Wie heute zum Beispiel, weil mich jemand weckt oder wenn mir ums Aufwachen war. Ich öffne die Augen, sehe, rieche, erlebe. Einschlafen war anders als das. Der Tod ging um.

Ich fragte mich nach welchen Kriterien er auslas. Gab es Muster oder war es Zufall. Gut, Linette hatte wie Alfred zu den Wohlhabenden gehört, zu denen mit den schönen großen Zimmern und den Terrassen. Ich hatte sie besucht und konnte es beurteilen. Aber sie hatte sich nichts darauf eingebildet, mich auch in meinem kleinen Zimmer besucht und nicht die Nase gerümpft.

Es war zu schnell gegangen. Sie waren alle beide nicht krank gewesen. Das Herz habe aufgehört zu schlagen. Ohne Warnung vorher, ohne Vorzeichen, ohne Ahnungen. Ohne alles. Eingeschlafen. Warum schlief ich nicht ein? Vermutlich weil meine Zeit noch nicht da war. Nein, ich wollte diese Angst jetzt nicht. Nicht heute. Der Tag begann zu schön, mit Geduld, mit einem angenehmen Anblick. Ich musterte ihn aufmerksam und sah wie seine Augen zu glitzern begannen. Der junge Mann wusste wie er wirkte. Ganz klar. Selbst in einer alten Frau weckte er gewisse Gefühle. „Sie heißen wirklich Chip?“

Er lachte vergnügt. „Die meisten nennen mich so. Es ist ein Spitzname, der mir geblieben ist und zu meinem Namen geworden ist. Er passt zu mir. Sie dürfen gerne du sagen.“

„Ich weiß nicht …“ Ich musterte ihn zweifelnd.

„Trauen Sie sich. Zeigen Sie den Mut, der in Ihnen steckt. Lassen Sie ihn raus. Ich kann den Zipfel davon sehen. Ich heiße Fabien. Aber für den Namen bin ich möglicherweise zu unreif geblieben.“ Wieder lachte er. Herzlich und übermütig. So ernst schien es ihm mit dem letzten Satz nicht zu sein. Ich sah ihm in die Augen.

„Sagt das jemand von dir oder denkst du es über dich?“

„Ach ich passe kaum in Normen. Raten Sie mal.“

„Nein, ich will keine Ratespiele. Ich will eine Antwort.“

Ich hielt seinen Blick mit meinem fest und wusste es. Ich schüttelte den Kopf. „Wenn ich dich duze, dann du mich auch.“

Er bestand auf dem Raten. „Na gut, ich rate. Andere sagen es. Nicht du.“

Nun lächelte er warm. „Ja und sie haben Recht. In ihren Augen haben sie Recht. In meinen nicht. Meine Augen sehen es anders. Ich sehe es anders, weil ich das Leben auf meine Weise beurteile und mache was ich will, mich nicht um Konventionen schere. Sie sagen dazu: Unreif! Sie verstehen es nicht. Und ich verstehe sie nicht. Das ist gegenseitig.“

„Das sind große Worte. Du machst was du willst?“

„Ja. Warte es ab. Du wirst es erleben.“

„Wenn du lange genug hier bist. Das ist dafür Voraussetzung“, entgegnete ich.

„Bingo!“ Er lachte und fuhr sich durch seine wirren Blondhaare. Ich spürte einen Hauch von Leben in mir und betrachtete ihn weiter. Ein junger Mann mit einer prickelnden Ausstrahlung.

Ich hatte schon lange keine Lust mehr verspürt, die Sonne zu sehen. Mein Leben war vorbei. Das hier nannte ich nicht so. Dieser letzte Abschnitt. Und das vor diesem hier war Hölle gewesen. Manche mochten denken: „Ach was! Sie übertreibt maßlos! Sie weiß es nicht besser. Sie ist im Alter boshaft geworden.“

Viele sprechen diese Dinge aus und viele wissen gar nichts, weil sie es nicht wissen können oder wollen. Unterschied machte das keinen. Die Augen blieben verschlossen, die Ohren verstopft und der Mund stumm. Die drei Affen. Ich bin nicht verbittert nur weil ich es beim Namen nenne. Ich denke viel nach, habe die Zeit dazu. Die Gedanken spielen gerne Fangen und Verstecken mit mir. Wenn sie mich erwischen, halten sie mich fest. Sie nennen es abwesend sein. Ich nicht. Wie war es soweit gekommen? Langsam - schleichend - vergiftend.

Doch von diesem Tag an war vieles anders geworden. Jünger wurde ich nicht. An dem Tag und an manchem der folgenden lenkte er mich von meinen trüben Gedanken ab. Das alleine konnte es nicht sein, was die Veränderungen in mir bewirkte. Ablenkung war kein brauchbares Rezept. Ablenkung überdeckte und entspannte eine Weile - mehr nicht.

„Berthe? Willst du lieber baden oder duschen? Wenn du dabei Hilfe brauchst, sag es mir. Ich helfe dir gerne. Dafür bin ich da.“

Das war wie eine kalte Dusche. „Nein, das will ich nicht. Bitte nicht.“

Hatte er meine große Angst in der Stimme gehört? Er setzte sich zu mir und sah mir in die Augen. „Keine Angst. Ich zwinge dich nicht. Ich bleibe in der Nähe. Wenn es alleine geht, lass ich dich alleine das Nötige verrichten. Wenn du Hilfe brauchst und von mir willst, bin ich vorsichtig und tu dir nicht weh. Glaub mir, ich kann das. Ich verspreche dir, dass ich diskret bin.“

„Aber … muss ich?“ Ich fühlte mich zaghaft.

„Möchtest du, dass eine Frau dir hilft? Das ist kein Problem für mich und ich kann es verstehen.“

„Ich …“

„Du musst nicht. Wenn du dich nur waschen möchtest, gehe ich in der Zeit hinaus.“ Er war sehr freundlich.

Ich konnte ihn nicht ansehen. „Ich bin hässlich. Ich schäme mich. Meine Haut ist … ich bin alt, runzelig und … bei Miro, das war etwas anderes. Aber sonst …“

„Miro?“

„Das war mein Mann. Er lebt nicht mehr.“

Er nahm meine Hand in seine, sah mir wieder in die Augen und ich konnte durch diese offenen Fenster in ihn hinein sehen. Er ließ es zu. Ich fand darin keine Falschheit und keine berechnende Schmeichelei. Er meinte es ehrlich. „Du musst nicht so denken, Berthe. Alt? Ja natürlich ist der Körper alt geworden. Das wird meiner auch einmal sein. Der Gedanke behagt mir nicht. Er wird runzelig, die Haut nicht mehr glatt sein. Sie wird wie ein Herbstblatt sein. Doch sieh dir so ein Blatt einmal genauer an. Hässlich? Nein. Ja, es gibt hässliche Alte und es gibt hässliche Junge. Aber Hässlichkeit kommt von innen und kann in jedem Körper hausen. Hässlichkeit existiert in den Gedanken. Die Jahre vergehen. Alles, was du erlebst, prägt dich und hinterlässt Spuren. Nicht nur in den Augen, nicht nur im Gesicht. Wie sollte es anders sein. Das ist die Natur der Dinge. Schau dir mein Gesicht an. Da sind welche. Schau in meine Augen. Da sind Spuren in mir wie in dir.“ Ich konnte nicht anders und strich ihm kurz übers Gesicht.

„Wie kann ein junger Mann wie du so reden?“

„Oh, er kann. Du hörst es. Ist das jetzt nicht auch Vorurteil?“

Wieder brachte er mich zum Lachen und als ich protestierte, leuchteten seine Augen auf und in seinen Blick schlich sich Verschmitztheit.

„Ja gut, das ist es. Aber bisher habe ich nur anderes gehört und erlebt. Daraus entstand dieses Urteil. Wie soll ich dabei anders denken?“ Ich reckte mein Kinn leicht nach vorne, unbewusst, aber offensichtlich. Kämpferisch.

Doch wieder schlichen sich Gedanken in meinen Geist und drängten die anderen frech beiseite. Was war es gewesen? In der Nacht sah ich es. Ich stand auf, weil ich nicht gut schlafen konnte. Da waren die sich bewegenden Schatten. Ich sah aus dem Fenster und es schauderte mich. Es war unheimlich. Jemand schlich durch den Park zum Schuppen. Sein Schatten war groß, lang gezogen vom Licht des Mondes, von den Lichtern der Laternen, die sogar manchmal sternförmige Schatten lieferten; vom Licht, das aus manchen der Fenster drang. Erkennen konnte ich die Person nicht, die möglicherweise nur in der Nacht unheimlich wirkte und sich am Tag als freundlich und harmlos erwies. In der Nacht wirkte Vieles unheimlich: Äste, die sich bewegten, ein Blatt, ein Rascheln, ein Zischen oder Flüstern. Eigentlich war ich nie besonders ängstlich gewesen. Was war aus mir geworden? Denn eigentlich mochte ich die Geräusche in der Nacht und das Licht des Mondes. Wie eine Katze. Ich lächelte. Doch nur kurz. Gingen Wölfe um?

Es geschah zurzeit Seltsames. Ich beobachtete und konnte mir aus manchen Dingen keinen Reim machen. Linda und Hugo, ein Ehepaar, das zusammen hier wohnte, mir gegenüber eher zu der zurückhaltenden Fraktion gehörte - eingebildet waren - hatten mir an dem Tag zugelächelt. Das war seltsam. Chip war seltsam. Das Herumschleichen, die Schatten, alles seltsam. Das Verhalten einiger. Seltsam. Gespenster oder Tatsache? Beides. Gespenster aus der Vergangenheit und Tatsachen der Gegenwart. Hier stimmte etwas nicht. Ich spürte es. Es war bedrohlich. Das meiste davon. Chip nicht. Warum waren mir Wölfe eingefallen? Die gab es überall. Doch im Grunde war es diesen Tieren gegenüber ungerecht, diese Art der Menschen nach ihnen zu benennen. Ein anderes Wort fiel mir jedoch nicht ein. Wölfe!

Was hatte ich gesehen und gehört die letzte Zeit? Diese Gestalt in der Nacht. Einmal sah ich jemanden dem Pavillon entlang huschen, immer wieder sich umsehend, immer wieder darauf bedacht, dass ihn niemand sehen konnte. Schnell schlüpfte die Gestalt in den Wintergarten. Gut, vielleicht traf sie sich dort mit einem geliebten Menschen. Heimlich - harmlos. Weil ich oft wach war, sah ich viel. Weil ich sonst nicht viel tat, beobachtete ich viel. Weil mich alle unterschätzten, wagten sie in meiner Gegenwart mehr, versteckten sich weniger.

So saß ich zum Beispiel beim Frühstück und sah, wie einer einem anderen Geld zusteckte. Ein Insasse steckte Magda etwas zu. Heimlich, möglichst auffällig unauffällig. Als ich es sah, musste ich in mich hinein schmunzeln. Aber eigentlich dachte ich nicht, dass sich die Person damit eine Gunst bei Magda erkaufte, denn nach meiner Ansicht nach war Magda nicht käuflich. Wie man sie auch sonst sehen mochte: unnahbar, streng, kalt, aber bestimmt nicht käuflich. Vielleicht war sie nicht einmal das alles, sondern nur verschlossen. So genau wusste ich das nicht. Denn eine Zeit lang hatte ich nur vor mich hin vegetiert. Ich begann erst langsam zu leben und da fiel mir einiges auf, das ich vorher nicht bemerkt hatte.

Vielleicht war das alles nicht seltsam. Nur ich war es. Auch das war möglich.

*****

Ich stand auf einmal allein im Leben. Es klang nach einem Klischee, nach einem Floskel-Satz, aber es war zutreffend. Ich konnte es nicht anders formulieren.

Miro war immer an meiner Seite gewesen, als Teil meiner selbst. Es kam mir vor wie ein Immer. Wir hatten in dieser langen Zeit so viel erlebt und waren dabei zu einer Einheit zusammen gewachsen.

„Wie die stabilen Planken eines alten Schiffes.“

„Wie kommst du auf diesen Vergleich? Alte Planken können morsch und unsicher werden.“

„Ich sehe sie gut verbunden, gefestigt und sicher.“

„Das passt zu dir. Wenn andere Leere sehen, entdeckst du einige Tropfen Glückseligkeit.“

Ich sehe sein Lächeln dazu vor mir, so als stünde er bei mir und sähe mich an.

Doch er war nicht mehr da. Von heute auf morgen. Plötzlich. Bei ihm war es so gewesen, wie es hier immer bei all den Todesfällen hieß. Sein Herz hatte in der Nacht aufgehört zu schlagen. Er war aus seinem Schlaf - seinem Traum - nicht mehr aufgewacht. Ich wachte morgens neben ihm auf und er atmete nicht mehr, lag still da. „Miro? Bitte sag etwas. Wach auf. Du kannst mich jetzt hier nicht so alleine lassen.“ Er konnte. Er hatte mich zurückgelassen. Seine Zeit war abgelaufen. Er antwortete nicht mehr.

Ohne ihn mochte ich nicht sein. Madeleine machte mir schnell klar, dass sie mich nicht länger im Haus haben wollte. Sie gab es mir zu spüren, mit allem, mit Gesten, mit Worten, erst subtil versteckt und dann deutlicher. Erst nur andeutungsweise, dann eindeutig. Es hatte etwas gedauert, ehe sie es direkt aussprach. In ihren Augen war ich schwierig und unnütz. Das war nur, weil ich mich weigerte gebeugt, vergrämt und still in einer Ecke zu sitzen. Warum hätte ich auf einmal tun sollen, was ich mein ganzes Leben nie getan hatte? Ich hatte immer versucht, das Beste aus allem zu machen, selbst aus Verfahrenem. Und zuerst versuchte ich das auch in dieser Situation.

Doch sie hasste mich. Anders konnte ich mir ihr Verhalten nicht erklären. Ich war nicht hilflos geworden, brachte nicht mehr Arbeit als zuvor. Ich war nur alleine und in Trauer. Ihre Vorstellungen waren anders als meine. Für mich zählten die meinen. Mit meinem Schmerz ging ich auf meine Weise um und nicht nach ihrer.

***

„Berthe? Habe ich dir wehgetan? Du bist angespannt. Habe ich etwas falsch gemacht? Wenn ja, dann sag es mir bitte.“ Chip sah mich besorgt an.

Er hüllte mich in ein flauschiges Badetuch und half mir, mich anzuziehen. Ich wusste, dass er meine Narben gesehen hatte und, was er ahnte. Es war mir unangenehm. Ich kannte ihn nicht.

Wie unbeweglich ich geworden war. Oft hatte ich Schmerzen. Einiges davon kam von der Psyche, das wusste ich. Mit einer guten Therapie, mit einigen Sitzungen, konnte es wieder gut werden. Aber Therapie war teuer. Für mich war es zu teuer. Ich besaß nicht viel. Madeleine sagte dazu: „Das lohnt sich nicht mehr, dafür so viel Geld auszugeben.“ Und mein Sohn nickte. Ich lohnte nicht mehr. Ich brachte nichts mehr. Wegwerfen am besten. Das war erniedrigend und erdrückend.

Ich sah den jungen Mann an. „Nein, das hast du nicht. Du bist vorsichtig und hast sanfte Hände. Ich war nur in Gedanken. Alte sind manchmal weit weg damit oder wie gesagt wird – abwesend.“

„Das hat nichts mit Alter zu tun. Du ahnst nicht, wie oft ich das bin“, kam es prompt von ihm.

„Musst du immer widersprechen und meine Argumente zur Seite wischen!“

„Ja, das muss ich. Steck dich nicht selbst in vorgefertigte Tüten.“

„Und wenn ich das will?“

„Dann akzeptiere ich es, fände es jedoch schade. Damit verbaust du dir selbst viele Freuden.“

„Wo siehst du Freuden?“

„Überall Berthe. Schau dich um. Möglichkeiten allemal.“

Ich saß beim Frühstück, zusammen mit den andern. Chip hatte mich an den Tisch begleitet, wie ein Gentleman den Stuhl für mich bereitgestellt, mich mit einem verschmitzten Lächeln und einer angedeuteten Verbeugung näher geschoben. „Wir sehen uns später wieder schöne Frau.“ Ich sah ihm nach, als er mit leichten Schritten davon eilte.

Der Platz neben mir war leer. Vorgestern war an dieser Stelle Linette gesessen. Sie war eine fröhliche Person und tat mir gut. Sie … hatte mir gut getan, musste ich sagen. Auf meine vielen Fragen, hatte ich keine Antworten bekommen. Sie war eingeschlafen wie Alfred.

Ich beobachtete sie alle. Sie saßen da, kauten - laut oder leise, je nach vorhandenen Zähnen - löffelten, - auch mal daneben -, rutschten auf den Stühlen nach vorne oder saßen völlig schief da, hingen mehr darin als sie saßen. Sie schmatzten, grunzten, schlürften. Ein skurriles Konzert. So stellte es sich mir dar. Es wurde geschwiegen. Was gab es auch groß zu sagen. Manchmal wurde geredet. Sie seufzten, stöhnten, schimpften, schnupften, brummten, lachten und weinten. Ich lauschte genauer und hörte das Schleifen eines Stuhles über den Steinboden, das Summen einer Biene am Fenster. Sie klang verzweifelt oder wütend, denn sie kam nicht raus, obwohl es da hell war. Sie suchte den Ausgang und konnte nicht entkommen. Wie wir. Manche waren anwesend, noch da, andere in ihrer Vergangenheit verschollen. Wo war ich in diesem Spiel?

Hunger hatte ich wenig. Wir waren viele. Die Betreuer zu wenig. Das schrie nach Überforderung mit ihren Folgen. Doch einige hielten sich die Ohren zu, steckten Stöpsel hinein und ignorierten die Schreie. Erst Katastrophen änderten in der Regel die Dinge. Und mir schien, es bahnte sich eine Katastrophe an. Keiner stand auf, um sie zu verhindern. Keiner, der die Kraft und die Macht dazu hatte. Vielleicht sahen sie es nicht kommen.

MarChip und die kleine Berthe

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