Читать книгу MarChip und die kleine Berthe - Esther Grünig-Schöni - Страница 8

3. Kapitel

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Ich sah Chip vorbeigehen. Er blinzelte mir zu und machte das Essen-Zeichen. Ich schüttelte den Kopf und musste lachen, weil er versuchte, streng zu schauen und dabei nur Grimassen schnitt. Hoffentlich blieb er länger. Er brachte eine Spur Leben ins Haus. Doch ich selbst reiste innerlich in die Vergangenheit zurück.

Die Vergangenheit hatte mit dem Heute zu tun. Mit dem Ende. Oder das Heute hatte mit damals einen Zusammenhang. Egal wie es formuliert wurde. Egal, wie ich es drehte. Das Resultat blieb dasselbe. Ich erinnerte mich an eine Szene. Da saßen einige zusammen an einem Tisch und redeten leise. Als ich eintrat, verstummten sie. Das war sehr auffällig.

Oder das seltsame Gebaren von Hugo und Linda, das ich mir nicht erklären konnte. Normalerweise war es so mit den beiden, dass sie mich mit Verachtung straften. Ich gehörte nicht in ihre Liga, sie sahen sich als etwas Besseres an. Es kam sogar vor, dass sie auf die andere Seite der Straße wechselten, wenn ich ihnen entgegenkam, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, nur weil ich nicht zu den Reichen im Haus gehörte. Sie interessierten sich nur für die Wohlbegüterten. Die umschmeichelten sie. Es ging ihnen kaum um die Menschen, sondern um Ansehen oder eine Art Profit. Was man sich von einem solchen Verhalten versprechen konnte, war mir nicht wirklich klar. Aber ich sah es, hörte es und bekam es zu spüren.

Doch gestern lächelten sie mir freundlich zu. Darüber wunderte ich mich immer noch. Was war auf einmal an mir, das sie interessierte? Ich war nicht über Nacht reich geworden. Verstehen konnte ich es nicht und wanderte weiter in die Vergangenheit zurück. Dahin, wo das Heute begonnen hatte.

***

Luc, mein Sohn, hatte sich bei Madeleine noch nie durchsetzen können. Sie bestimmte, was geschah, was geduldet war und was nicht, wie etwas zu sein und auszusehen hatte. Davon wurde kein Millimeter abgewichen. Er hatte nicht einmal im Entferntesten ein Mitspracherecht.

„Da gehört das hin. Genauso hat es zu sein.“

„So wird es gemacht.“

„So hat das zu heißen.“

„So hast du dich zu fühlen, so zu handeln. Wie ich es sage, ist es auch. So reagiert man auf Trauer, auf Freude, auf Ereignisse und nicht anders.“

„Auf diese Weise hast du zu träumen und zu atmen.“

Sie bestimmte, wie der Fluss zu fließen hatte. Nein, in dem Fall weigerte sich der Fluss. Er hatte seine Gesetze und scherte sich nicht um ihre.

Aber sie bestimmte wie die Milch auf dem Marmortisch zu stehen kam. Gesunde Milch. Es schüttelte mich. Ich mochte keine Milch. Doch ich hatte sie zu mögen und sollte nicht so starrköpfig sein. Sie bestimmte, wie der Toaster zu bedienen war; von welcher Seite her die Scheiben eingelegt wurden; um welche Uhrzeit etwas zu geschehen hatte; was es in dem Haus gab und was auf keinen Fall - bis vor kurzem immerhin mein Haus - ; wie gesprochen, wie und womit die Zähne geputzt wurden; wie viele Tropfen Wasser dafür genügten. Sie sagte, welche Musik geschmackvoll und welche nichts war. Sie befahl, welche Wäsche wie und in welchem Schrank eingeordnet wurde, selbst in meinem. Sie bestimmte unmissverständlich, welche Schrittlänge und -Lautstärke tolerierbar war.

Alle tanzten nach der Musik, die diese Frau aufspielte. Nein, eine Zeitlang tanzte ich so wie es mir passte, nach der Musik, die ich mochte. Sie hatte mir nichts zu sagen, sich nicht in mein Leben einzumischen. Ich mischte mich auch nicht in ihres ein. Eine Zeitlang schaffte ich es, bis sie mich zerbrach und mich zur kleinen Berthe werden ließ, die voller Angst und Unsicherheit schwieg und alles über sich ergehen ließ, nur noch in Gedanken frei war.

***

Wütend haute ich die Faust auf den Tisch und alle sahen mich erschrocken an. Ich erschrak selbst über meinen Ausbruch. Meist sah mich niemand. Nun starrten alle her. Ich war schon lange nicht mehr wütend gewesen. Wie seltsam. Heute war ich es. Ich lebte noch.

„Berthe?“

Ich tauchte aus meinen Gedanken auf und sah die Frau mit der altmodischen Frisur an, die vor mir stand. Ihre braunen Augen ließen keine Regung erkennen - Magda. „Ja?“

„Die Polizei möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.“

„Warum?“

„Wegen Linette.“

„Sie können doch darüber Sie befragen.“

„Das ist bereits geschehen. Berthe, Sie wissen, warum Sie auch mit Ihnen reden wollen. Jetzt müssen Sie sich die Zeit dazu nehmen. Sind Sie mit dem Frühstück fertig? Dann kommen sie bitte mit in den Wintergarten.“

Es kam barsch und anweisend, nicht etwa fragend oder bittend. Der Kaffee war während meiner Gedankenreise kalt geworden. Hatte ich Magda mit etwas verärgert? Magda war hier die Chefin - die Gefängnisdirektorin, die Verwalterin oder wie man sie sonst bezeichnen konnte. Wie sie weiter hieß, wusste ich nicht. Hier waren nur Vornamen erwünscht. Nun gut, das sollte wohl Entspannung und Nähe bringen. Als ob das von Vor- und Nachnamen abhing. Nur bei dem Königspaar, bei den Besitzern des Anwesens, hieß es Madame und Monsieur Merker. Wenn sie durch das Haus schritten, wurde um die Wette gelächelt, bis die Mundwinkel allesamt einrissen. Es war alles wunderbar, alle Insassen fröhlich und glücklich und sauber und liebevoll betreut. Ach von mir aus.

Den Schein wahren. Schlecht war es hier nicht. Es gab Schlimmeres. Aber es war auch nicht eitel Sonnenschein, nicht so, wie es in diesen Momenten dargestellt wurde.

Mir schien, etwas von meinem früheren Geist hatte ich mir bewahrt. An diesem Tag hatte ihn Chip wieder zum Leben erweckt. Ich empfand lebendiger als sonst. Ich bemerkte den blauen Himmel, den ich vorher kaum noch gesehen hatte. Blau war er oft. Aber es war mir egal gewesen. Ich hatte kaum bemerkt, was ich aß. Selbst das war mir egal gewesen. Ich funktionierte.

Ich stand auf und folgte Magda in den Wintergarten. Die Männer, die dort auf uns warteten, stellten sich vor. Das heißt, der eine von ihnen übernahm das. Er hatte einen dunklen Kurzhaarschnitt und war kompakt gebaut. Er trug Anzug und Krawatte im Gegensatz zu dem andern, der Jeans und einen leichten Pullover trug. Sie sah wieder den an, der sie ansprach.

„Ich bin Matthieu Graber und das ist mein Chef, der Hauptkommissar Siegfried Tentier.“ Der in Jeans und leichtem Pullover war also der Chef. Ich hätte es anders herum vermutet.

Er hieß also Siegfried. Er hatte vielleicht irgendwo etwas von jenem Siegfried aus der Sagenwelt. Ach Unsinn! Was huschte mir denn heute alles durch den Kopf. Ich nickte und versuchte, meine umherschweifenden Gedanken zu zügeln.

Magda setzte sich mit dazu. Wie eine Aufpasserin. Ich runzelte die Stirne. Das passte mir nicht. Das erste Mal, seit ich hier war, sagte ich es. Ich verstand ihr Erstaunen darüber, denn mein eigenes war nicht weniger groß, als ich es mit fester Stimme ausgesprochen hatte. „Wenn Sie erlauben Magda, rede ich alleine mit den beiden Herren. Sie sagten mir, sie hätten Fragen an mich. Wenn das so ist, geht das niemanden sonst etwas an. Es sei denn, die Herren wünschen es anders und wollen, dass Sie mit dabei sind. Ein Kindermädchen brauche ich nicht. Ich bin schon seit vielen Jahren erwachsen.“

Das entstehende Bild vor mir gefiel mir. Magdas Kinnlade ging nach unten. Hätte sie geahnt, wie dumm das in dem Moment aussah, hätte sie es bestimmt unter Kontrolle gehalten. Aber ihre Überraschung war zu groß. Bisher hatte ich geschwiegen und immer alles über mich ergehen lassen. Unauffällig und klein. Angepasst. Nun war Linette tot und Chip aufgetaucht. Und etwas in mir begann sich zu verändern. Magda stand auf und ging hinaus, nachdem die Herren gesagt hatten, sie wollten gerne allein mit mir sprechen.

***

Ich hatte mich wie an anderen Tagen mit Linette verabredet. Wir hatten einen Ausflug geplant. Das hieß, sie war es gewesen, die geplant hatte. Sie war immer diejenige, welche die Initiative ergriff. Sie war die erste gewesen, der es gelungen war, mich wenigstens ansatzweise wieder lebendiger zu kriegen. Sie war lustig, unternehmungslustig, ein wenig verrückt und brachte mich oft zum Lachen. Auch wenn sie zu den Reichen gehörte, ließ sie mich das nicht spüren, wie es andere taten.

Linette wusste viel zu erzählen, auf eine witzige Weise. Sie nahm mich auf diese Weise mit auf ihre Reisen, durch viele Länder, hinein in ihre Erlebnisse, riet mir manchmal und hörte auch mir zu, wenn ich von meinem kleinen normalen Leben berichtete. Doch wenn ich eine solche Andeutung machte, meinte sie: „Du redest von einem kleinen Leben der kleinen Berthe. War es denn nicht reich? Überlege einmal. Es steckt voller wertvollem Stoff, voller wichtiger Kleinigkeiten. Hör hin, sieh es, rieche es. Essenzen, die andere bereichern. Alle, die mit dir zu tun haben, bewusst oder unbewusst. Nichts daran ist klein und du erst recht nicht.“

Darüber dachte ich anders.

Linette mit ihren hellen lebhaften Augen, meistens gut frisiert, mit viel Geschick, in ihrer Erscheinung damenhaft, in ihrem Wesen neckisch. Sie fehlte mir.

Sie kam nicht. Und das war nicht ihre Art. Sie vergaß nicht. Es war noch nie vorgekommen. Etwas ratlos wartete ich. Ich trug meinen leichten blauen Mantel. Draußen wehte der Wind. Da hieß es, sich zu schützen. Ich hatte mich so hübsch gemacht wie es in meiner Ungeschicklichkeit ging. Ich wartete. Sie kam nicht.

Am Abend zuvor hatten wir Schach gespielt. Linette hatte es mir beigebracht und das, obwohl ich selbst immer gedacht hatte, das sei zu anspruchsvoll für mich. Doch sie meinte dazu „Papperlapapp“, und machte sich daran, es mir zu zeigen. Noch war ich nicht gut, aber die Grundlagen hatte ich verstanden. Bisher hatte ich höchstens Mühle oder „Mensch-ärgere-dich-nicht“ gespielt.

Nach einer Weile des Wartens ging ich nach oben und klopfte bei ihr an. Es blieb still. War sie vielleicht nun unten und hatte ausgerechnet heute den Fahrstuhl benutzt? Ich sah nach. Nein, war sie nicht. Ich wurde unruhig, obwohl es dafür keinen eigentlichen Anlass gab. So klopfte ich noch einmal. Es war so still, als wäre niemand da. Ich zögerte und öffnete schließlich die Türe. Die Türe ließ es zu. Das hieß, sie war nicht ausgegangen, sonst wäre abgesperrt gewesen. Ich trat ein und rief nach ihr.

Sie hatte zwei Räume, eine kleine Wohnung. Im Salon war niemand. Doch dann sah ich sie, denn die Türe zum Schlafraum stand offen. Sie lag auf ihrem Bett. Zu still. Ich spürte gleich, dass etwas nicht stimmte. Es schnürte mir die Kehle zu, ließ mich den Atem anhalten. Ein Arm hing herab. Ihr Gesicht … Ich trat näher, obwohl ich Angst hatte und es mich hinaus drängte. Das Kissen lag zusammengeknüllt nicht vollständig unter ihrem Kopf sondern mehr daneben. Natürlich schlief auch ich manchmal seltsam. Natürlich verschob es sich. Mein Kissen rutschte oft im Verlauf der Nacht nach oben an die Wand. Ich staunte schon einige Male darüber, wo ich es wiederfand. Aber das hier … es fiel mir auf, weil ich es vor ein paar Tagen schon einmal ganz ähnlich gesehen hatte. So knapp hintereinander. Bei Alfred. Die Türe war offen gestanden. Ich hatte damals hinein gesehen und genau das gesehen. Ich rief sie: „Linette!“ Nichts. Nicht sie auch? Bitte nicht sie auch.

Aber ich wusste es bereits. Sie auch. Ich wünschte mir so sehr, mich zu irren. Dann hatten die Geräusche der Nacht damit zu tun gehabt. Diese seltsamen nicht üblichen bekannten Schritte, das Kratzen, wie die anderen Male. Wenn ich das hörte, ging der Tod um? Nein! Nicht Linette! Doch von ihr dort auf dem Bett ging diese Kälte aus, die ich nur zu gut kannte. Ich trat noch näher und wagte es, sie zu berühren. „Linette?“ Ein Flüstern. Sie fühlte sich kalt an. Nur noch Fleisch, Knochen, Haut, Haare, nicht Leben. Oder … bewegte sie sich doch? War da nicht ein leichtes Zucken, Puls? … ich legte meine Hand vorsichtig an ihren Hals. Nein, nichts. Nur Stille. Ich drehte mich um, ging, schloss die Türe hinter mir. Ein Mechanismus. Etwas das einfach funktionierte trotz innerer Lähmung. „Linette“, jammerte ich. Doch das wurde nicht erhört.

Eine der Pflegerinnen sah mich in meinem blauen Mantel verloren im Gang stehen. Ich selbst merkte nicht, dass mir Tränen übers Gesicht liefen. Sie sah es. „Berthe, was ist mit Ihnen?“

„Linette ist tot“, brachte ich heraus, setzte mich auf den Stuhl, den sie zu mir geschoben hatte, weil sie an eine Schwäche glaubte. Sie schaute mich erschrocken an. „Tot? Sie sind sicher?“ Ich nickte. Sie lief zur Türe, riss sie auf, verschwand im Zimmerschlund. Ich nahm das alles wahr wie in einem bösen Traum.

Nach einer Weile kam sie langsam wieder und an ihrer Blässe erkannte ich, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Ihre Augen gaben mir die Bestätigung. Ich sackte noch mehr in mir zusammen, denn nun erlosch alle Hoffnung in mir. „Bitte bleiben Sie ruhig hier sitzen Berthe.“ Wieder nickte ich, beinahe nur mit den Augen, aber es war zu erkennen. Ich wäre gar nicht fähig gewesen aufzustehen. Sie rannte durch den Gang als würde sie von jemandem gehetzt und kam mit Magda wieder. Alles lief wie gewohnt ab. Routine bereits.

Ich betrachtete den Hauptkommissar noch einmal. Er war groß, blond, hatte braune freundliche Augen und hielt wohl nicht so sehr viel von Anzügen. Wenn ich es genau betrachtete, hatte er so etwas wie ein klassisches Gesicht. Ja er konnte durchaus aus der Sage stammen. Oder war er dazu zu schlank. Sportlich sah er jedoch aus. Nur die Recken von früher waren kräftiger gewesen. Er entsprach eher dem heutigen Bild vom guten Aussehen. Aber wohin schweiften meine Gedanken wieder? Ich hatte es ihnen erzählt, aus meiner Sicht, wie es sich angefühlt hatte, wie es gewesen war, was ich angetroffen hatte. Sie stellten Fragen, sie notierten, vor allem der andere notierte. Das schien seine Aufgabe zu sein. Sie schenkten mir ihre Aufmerksamkeit. Es schauderte mich. Was für eine Aufmerksamkeit, vor allem aus welchem Grund. Darauf hätte ich lieber verzichtet. Doch ich fühlte mich ernst genommen. Das war etwas wert. „Sie sagen, das Kissen lag mehr neben als unter dem Kopf?“

„Ja.“

Er drehte den Kopf zu dem Kompakten. „Wurde es schon auf eventuelle Spuren untersucht - sowie die Frau?“

„Ich nehme es an. Die Obduktion ist am Laufen. Wir haben noch keine Ergebnisse.“

„Das dauert wieder einmal.“ Siegfried schüttelte leicht den Kopf und beschwichtigte gleich. „Ja ich weiß. Sehr viel zu tun die Tage.“

Er wandte sich wieder mir zu, weil ich wieder zu reden begonnen hatte. „Ich dachte mir ja erst, manchmal liegt man morgens seltsam und das Kissen verrutscht. Das kenne ich. Aber ich sah … das Gleiche schon einmal. Es sah so gut wie gleich aus. Es ist …“

„Haben Sie uns deswegen angerufen?“

Ich war traurig und nachdenklich geworden, doch nun merkte ich erschrocken auf. „Hätte ich es nicht tun sollen? Ich will …“

„Doch, doch.“ Er lächelte und seine Augen waren nicht ungeduldig, sondern verständnisvoll. „Aber was veranlasste Sie im Speziellen dazu?“

„Ich bin beunruhigt. Es sterben zu viele.“

Dieser Siegfried war nicht verärgert wie Magda oft, wie Madeleine es gewesen war. Doch er brachte einen aus seiner Sicht plausiblen Einwand. „Ist es nicht normal, dass in einem Altenheim viele sterben?“

„Doch, das ist es. Es ist hier der letzte Lebensabschnitt, wird gesagt. Manche werden krank oder sind so alt, dass sie sterben wollen. Sie sind müde und traurig. Und das tun sie dann auch. Ich wollte auch … gehen, aber mich will der Tod noch nicht. Warum weiß ich nicht. Aber … Larissa war nicht so, Nicole nicht, Alfred nicht und Linette schon gar nicht. Sie lebten alle gerne und waren gesund.“

„Und wenn das Herz plötzlich stehen bleibt?“

In mir spürte ich Rebellion dagegen und merkte kaum, wie sehr dies meine Augen zeigten. „Das sagen sie alle. Das Herz bleibt stehen. Sie reden so daher. Sie sagen schön, sie sei eingeschlafen, weil sie das Wort „tot“ nicht aussprechen wollen, es fürchten. Es könnte die Stimmung verderben, das so zu sagen. Welche Stimmung? Die künstliche Lockerheit hier, die sonnige Laune, die alles andere als echt ist. Deswegen bleibt das hier doch bedrückend, egal wie es benannt wird. Wenn ich einschlafe, dann träume ich, atme ich, öffne meine Augen, wache wieder auf. Wenn ich sterbe, fällt das weg. Es starben schon zu viele seit ich hier bin und ich bin noch nicht lange hier. Was sind 6 Monate? Sie waren weder krank noch müde. Bei Alfred lag das Kissen gleich da wie bei Linette. Wie es bei den anderen war, weiß ich nicht. Diejenigen, die auf seltsame Weise gestorben sind, hatten nie Besuch, es ging ihnen aber gut. Sie gehörte zu den Reichen.“

„Glauben Sie, dass sich jemand bereichern will?“

„Aus welchem Grund sind sie sonst tot? Ihre Zeit war nicht gekommen.“

Er schmunzelte. „Was wollen Sie uns damit sagen? Auf was wollen Sie aufmerksam machen? Sprechen Sie es aus Berthe.“

Auf einmal hatte ich große Angst in mir. Meine Rebellion erlosch. Da war es wieder. Ich sah mich um und fragte mich, ob unsere Stimmen aus dem Wintergarten nebenan zu hören waren.

„Vertrauen Sie uns.“

„Warum? Was zeichnet Sie als Fremden aus, dass ich Ihnen vertrauen soll? Ihr Beruf? Das reicht für mich nicht aus.“

Der Kompakte sagte. „Aber Sie haben angerufen.“

Siegfrieds Augen glitzerten und ich erschrak über meine offenen Worte. So war ich zwar einmal gewesen, aber ich riskierte zu viel. Das war ich nicht mehr.

„Einerseits haben Sie Recht, aber wie Graber sagte, Sie wollten uns sprechen.“

Das war ein Fehler gewesen. Was ging mich das alles an? Ich hatte die blauen Flecken gesehen, die manche der Insassen aufwiesen, die Blutergüsse und Beulen. Es hieß, sie sind gefallen oder hätten sich gestoßen. Das konnte gut sein. Was aber, wenn es anders war? Manche waren grob. Das wusste ich. Einmal hatte mich eine Pflegerin so grob gepackt, dass es schmerzte, nur weil ich zu langsam gewesen war. Bisher war es bei mir nicht zu Schlimmerem gekommen. Aber ich mochte keine fadenscheinigen Erklärungen. Bisher hatte ich alles getan, was sie wollten, alles getan, um nicht aufzufallen, hatte mich ganz klein und beinahe unsichtbar werden lassen - lächelnd, kaum widersprechend, ganz leise. Aber mit heute hatte sich das geändert und ich fragte mich, ob das gut für mich war. Mit meinem plötzlichen Aufbäumen Magda gegenüber, mit diesem Besuch. Ich zitterte und flüsterte endlich. „Es stimmt hier etwas nicht.“

Leise erzählte ich Ihnen von den Geräuschen, beschrieb, was ich gehört hatte, beschrieb ihnen die Schatten, die ich gesehen hatte, erzählte von meinen Beobachtungen, die ich gemacht hatte. Vom Kissen im Treppenhaus, das ich gefunden hatte, von einem leeren Fläschchen im Park, von dem Huschen durch die Nacht. Es waren keine Traumsequenzen gewesen.

Nahmen die beiden Herren eine alte Frau wie mich ernst genug oder dachten sie von mir, dass ich mir das einbildete und ich zu nichts mehr nütze wäre? Oder ich dächte mir Geschichten aus, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Dabei wollte ich nicht gesehen werden. Das konnte gefährlich sein. Ich wollte die kleine Berthe bleiben. Ich schwieg. Sie hatten Notizen gemacht und interessiert getan, aber warum sollte ich ihnen vertrauen? Ich vertraute kaum jemandem nach allem, was mir geschehen war.

„Ist Ihnen noch etwas aufgefallen?“

Ich wollte nicht mehr reden. Es war genug. Die Angst hatte mich wieder.

Der Tag hatte so schön begonnen. Nun war es wieder viel zu dunkel geworden. Ähnlich wie in einem staubigen alten Kartoffelsack, den jemand über mich gestülpt hatte - muffig riechend. Es nahm mir die Luft. Ich hatte genug gesagt. Es machte mir Angst. Es roch nach Grube. Ich zog mich in meine kleine Welt zurück.

Da klopfte es an die Türe. Ich zuckte zusammen. Was wollte Magda schon wieder? Doch sie war es nicht. Es war ein Sonnenstrahl. Chip brachte etwas zu trinken, schloss die Türe hinter sich, blinzelte uns zu und lächelte mich an. „Hast du gleich zwei Verehrer Berthe? Wenn das so ist, muss ich auf dich aufpassen.“

Auch wenn ich mich über sein Erscheinen freute, blieb ich still. Die Angst war zu tief in mir. Sie saß drinnen und lähmte mich. Die beiden sahen ihn nicht wie einen unbekannten Störenfried an. Ganz im Gegenteil. „Bonjour Monsieur Voizinet, “ sagte der eine. „ Sind Sie im Dienst?“

„So ist es.“

Sie kannten ihn. Ein Hauch von Misstrauen ihm gegenüber meldete sich in mir. Da sah er mir in die Augen. „Das sind freundliche Verehrer. Du kannst ihnen vertrauen.“

„Nur weil du es sagst Chip? Kann ich dir vertrauen? Wir kennen uns erst seit heute.“

Er blinzelte leicht, so als hätte ihn etwas gestreift, das schmerzte. „Stimmt. Das musst du entscheiden. Ich sage dir nur, was ich weiß. Ich kenne die Herren. Aber … behalte das besser für dich. Das hilft uns allen. Wenn alle es wissen, nutzt das niemandem.“

Ich hatte ihn verletzt, sah ihn nachdenklich an. Da blinzelte er mir wieder zu und sein Gesicht, gerade noch verschlossen, wurde sanft im Ausdruck. Ich musste lächeln. Es ging nicht anders.

„Fabien, kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“ Der Kommissar, dieser Siegfried, schien ihn sogar gut zu kennen und ging mit ihm nach draußen. Der andere lächelte mir beruhigend zu. Er sah so aus, als wisse er nicht recht, was mit so einer alten Frau anfangen. Ich trank einen Schluck, schwieg weiter, aber immerhin fühlte ich mich nicht mehr in dem staubigen Kartoffelsack. Ich dachte über Chip nach und war mir sicher, dass er nicht nur ein einfacher Pfleger war, der zufällig diese Stelle angenommen hatte. Ja ich würde schweigen darüber, dass er die Polizisten kannte. Ohne es genau zu wissen, war ich sicher, dass sie mich beschützten, so gut sie konnten. Ich sah den Mann an. „Wenn mir noch etwas einfällt oder ich etwas Auffälliges bemerke, soll ich anrufen oder lieber nicht?“

„Ja bitte. Auf jeden Fall Madame. Unternehmen Sie aber bitte nichts auf eigene Faust. Ich gebe Ihnen die direkte Telefon-Nummer und außerdem die Handy-Nummer von Siegfried - Kommissar Tentier. Wenn etwas Sie beunruhigt, melden Sie sich bitte.“

„Sie empfinden es nicht als lästig?“

„Nein.“

Ich hörte durch eines der Oberfenster des Wintergartens den Wind rauschen, leise Stimmen murmeln und die Zikaden singen. Das Fenster stand offen, es war schräg gestellt. Sie nahmen mich ernst. Nun schwieg ich wieder, lächelte, als ich die kleine Karte einsteckte, die er mir gegeben hatte. Ich versenkte sie tief in meiner Tasche und dachte daran, warum ich hier war.

Das hier war eine Seniorenresidenz und kein Gefängnis. Der Prospekt war bunt und aus teurem Glanzpapier. Alle Vorzüge wurden überschwänglich gelobt. Doch es gab immer beide Seiten. Es kam nicht nur auf die gute Lage und das schmucke Haus an, nicht nur auf die Größe der Zimmer, nicht nur auf die Gepflegtheit des Parks, auf die Meeresnähe. Es kam auf die Menschen und ihre Umgangsweise an. Auch da war nicht alles schlecht, das meiste war akzeptabel. Denn es gab bestimmt Häuser, in denen es um einiges schlechter zuging. Aber einige hier mussten doch schlecht sein. Ich glaubte nicht, dass es nur einer war. Einer flüsterte nicht mit sich selbst in solchen Situationen. Einer alleine verursachte nicht zwei oder mehr unterschiedliche Schritte im Gang. Wer sie waren, das wusste ich nicht. Noch nicht. Aber ich wollte meine Augen nicht verschließen, sondern sie weiter öffnen und aufmerksam sein. Gab es ein Leben, das sich lohnte, ohne Risiko? Aber wegen ihnen war ich nicht hier, sondern wegen Madeleine. Aus meinem eigenen Haus entfernt wie ein lästiges Ungeziefer. Das wog schwerer als alles hier. Nur, besser war es bei ihr auch nicht gewesen, eher schlimmer als hier.

***

Ich sass nicht immer so still in der Ecke, am Tisch oder in einem Sessel wie ich das nun meistens getan hatte. Und ich quoll nicht über vor Dankbarkeit, dass ich großzügiger weise weiter in meiner Wohnung, in meinem Haus leben durfte, bis ich hinaus gequält wurde. Es war nicht lange gut gegangen. Ich hörte sie deutlich, laut, schrill, unangenehm.

„Ich hoffe, du lässt nichts brennen, vergesslich wie du bist“, keifte sie.

Auch wenn ich sagte: „Ich bin nicht dement“, half das nichts und es ging weiter in der Art.

„Stell den Herd immer ab. Sieh besser zweimal nach.“

„Du willst doch diese Kerzen nicht etwa anzünden?“ Wozu waren Kerzen sonst da? Ich liebte ihren warmen Schein, die Stimmung, die sie vermittelten.

„Und wie du wieder herumläufst! Du bist doch keine zwanzig mehr. Das ist geschmacklos. Das passt nicht. Verhalte dich nicht so albern. Was sollen die Leute denken?“

„Tu dies! Tu das!“

„Nein, tu das bloß nicht.“

„So nicht. Das geht so nicht. Das muss anders sein!“

Ich hatte meinen Willen und meine Gewohnheiten und wollte mich nicht bevormunden lassen. Sie hatte ihren Stil und ich den meinen. Daran war nichts verkehrt. Das allerdings lehnte sie ab. Sie lehnte mich ab.

Ich gab mich wie ich war, wie ich es mein Leben lang gehalten hatte. Das war mein Recht. Aber sie fand das nicht richtig. Nichts war richtig, nichts gut. Ich sollte mich ihr und ihren Vorstellungen anpassen. Ich trug mein Haar zu lang. Sie meckerte darüber. Ich kleidete mich nicht meinem Alter entsprechend, hörte nicht die Musik, die sie für angebracht und schicklich hielt. Ich mochte Veranstaltungen und Freizeit, die sie für mich als unpassend ansah.

Außerdem sagte ich, was ich dachte, wenn auch mit der Höflichkeit, die mich gelehrt worden war. Sie wollte meine Gedanken und Ansichten nicht. Nur ihre zählten. Sie beachtete nichts, was ich war. Es interessierte sie nicht. Sie sah mich nicht, das heißt, sie sah den Menschen nicht. Sie sah nur eine Störung in mir. Das Traurige war, dass der Sohn es geschehen ließ, sich so sehr beeinflussen ließ, dass er am Ende des Liedes genauso dachte.

Ich half wie es mir möglich war, aber das war für sie nichts. Sie wollte alles anders haben und ich konnte ihr nichts recht machen. Sie zeigte mir nicht wie sie es gerne hätte, denn sie traute mir alter Frau nichts zu. „Lass es lieber. Ich muss danach doch alles neu machen und habe damit die doppelte Arbeit. Das bringt nichts.“

Sie demontierte mich Stück für Stück. In ihrem Haushalt war das ihr gutes Recht. Keine Frage. Nicht so aber in meinem. Es war nicht ihr Recht, mich als unfähig und dement hinzustellen, zu versuchen, mir meine Persönlichkeit zu nehmen und mich zu zerreißen, in ihren Händen zu zerbröseln. Nein, dazu hatte sie kein Recht. Doch darum scherte sie sich nicht.

Wenn ich lachte, war ich geschmacklos so kurz nach meinem Verlust, selbst wenn Miro es so gewollt hätte. Wenn ich weinte, machte ich Theater oder war zu dramatisch. Sie empfand es als Ärgernis, dass ich existierte, dass ich nicht den Anstand besaß, vor Gram hinterher zu sterben.

***

„Berthe?“ Chip ging vor mir in die Hocke, so dass ich sein Gesicht sehen konnte. Er war wieder da, als ich aus meinen Gedanken zurückkehrte. Die Herren waren gegangen und ich hatte es nicht mitbekommen. Ich sah ihm in seine hellen Augen, hätte gerne sein lächelndes Gesicht berührt. Ich spürte sein Mitgefühl, sein Verstehen. Er holte mich in die Gegenwart zurück.

„Wo bist du? Ich vermute, du warst gerade in keinem glücklichen Land, in keinem schönen Zauber. Du hast zu traurige Augen. Was haben sie dir nur angetan? Komm zu mir zurück.“

„Zu dir?“

„Keine gute Idee?“ Sein Lächeln wurde schelmisch und berührte mich. „Magst du mitkommen? Ich muss Einkäufe erledigen.“

„Darf ich das?“

„Fragst du das ernsthaft jetzt? Warum nicht? Was spricht dagegen, es zu tun?“ Er setzte sich neben mich auf den Boden und irgendwie hätte ich gerne über seinen Blondkopf gestrichen, durch seine Haare gewühlt und wunderte mich darüber. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich dachte nur, vielleicht sollten Angestellte nicht sowas mit Insassen machen. Er fuhr fort. „Du bist hier nicht hinter Gittern. Komm, mach dich bereit. Wir ziehen los.“

Ich mochte seine Augen und kannte ihn noch kaum. Nein, das war falsch. Ich mochte den ganzen Mann. Er wäre mir bestimmt ein anderer Sohn als Luc. „Bist du mit jemandem zusammen Chip?“

Er lachte. „Warum? Willst du mir einen Antrag machen?“ Das war gemein von ihm und machte mich verlegen.

„Entschuldige Berthe, manchmal bin ich ein Ekel und kann sowas nicht lassen. Ja ich bin mit jemandem zusammen. Sie wird mit mir fertig und das ist keine einfache Übung, sag ich dir. Du musst sie kennen lernen.“ Er zögerte kurz, sprach dann aber mit einem festen Blick in meine Augen weiter. „Sie fängt nächste Woche hier an der Rezeption an. Aber behalte bitte für dich, dass sie meine Partnerin ist.“

„Warum?“

Wieder ein leichtes Zögern. „Vielleicht bekommt sie sonst die Stelle nicht. Ich bin nicht eben Magdas Liebling. Zu wenig Disziplin. Sie heißt Marie.“

Bestimmt entsprach das, was er mir sagte, der Wahrheit, aber ich spürte, dass es mehr Gründe gab und es ärgerte mich. Trotzdem würde ich nichts verraten.

„Berthe?“

„Ich verrate nichts.“ Im gleichen Moment wusste ich, dass er es spürte. Er betrachtete mich nachdenklich und sagte leise: „Sei mir nicht böse. Es geht nicht anders.“

Ich nickte und mein Vertrauen zu ihm war dank dieser Worte wieder hergestellt. Er hatte keine für mich schlechten Absichten, was auch immer hinter allem steckte.

Ich stieg bei ihm ein, um mit ihm einkaufen zu fahren und konnte für einen Moment meine trüben Gedanken vergessen. Ich freute mich über diese unwichtige Sache. Er kümmerte sich wohl mit Absicht so um mich. Das war kein Zufall. Doch wer oder was hatte ihn dazu veranlasst? Ließen mich Madeleine und Luc ausspionieren? Dagegen sprach sein Verhalten und sein Wesen. Ich ahnte etwas, schob es zur Seite und genoss einfach das, was mir der Tag Gutes anbot.

„Hilfst du mir bitte, an alles zu denken? Ich bin manchmal schusselig und vergesse die Hälfte, weil ich nicht auf die Liste sehe. Dann kann ich gleich noch einmal fahren.“

„Ausgerechnet ich soll dir helfen?“

Er schaute sich in alle Richtungen um. „Ja, du. Da ist sonst keiner.“

„Soll das ein Gedächtnistraining werden? Dann sag mir das und komm mir nicht mit solchen Ausreden.“

„Berthe, das ist ein Angriff. Es ist wie ich es sagte und nichts weiter. Ich gebe dir die Liste und du hilfst mir.“

„Befehl?“

„Himmel nein! Wer bin ich denn, dir etwas befehlen zu dürfen. Eine Bitte ist das zum Henker! Unterstell mir nichts. “ Nun war er ärgerlich. Er kniff den Mund zusammen und verschloss sein Gesicht. Bis zur Ankunft beim Laden sprach er nicht mehr. Ich berührte seine Hand. Er reagierte nicht darauf und ich wurde traurig. Aber er hatte mir gezeigt, dass er Temperament besaß. Ich seufzte und sah mir die vorbeihuschende Landschaft an. Als er anhielt, sagte er. „Nicht traurig sein. Ich war zu empfindlich. Es ist dir nicht zu verdenken, dass dir das durch den Kopf ging. Vermutlich macht jeder dauernd solche Dinge mit dir.“

„Ich wollte dich nicht verletzen.“

„Hör zu, Berthe, sieh mich an. Es gibt Dinge, die kann ich dir jetzt nicht sagen. Aber das heißt nicht, dass ich dir etwas vormache. Versuch es. Vertrau mir. Ich will dir nichts Böses. Und jetzt vergessen wir das und wollen Spaß haben. Und bitte sag immer, was du denkst, geradeheraus. Selbst wenn ich ärgerlich werde, selbst wenn ich einen Moment beleidigte Leberwurst bin. Lass dich davon nicht hindern, ganz du zu sein. Ich vertrage das. Ich vertrage scharfen Wind.“

„Bist du da sicher? Du bist feinfühlig und sensibel.“

Er lächelte wieder. „Ja. Zugegeben, das bin ich. Du aber auch. Soll ich dir deswegen nicht sagen, was zu sagen ist?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Siehst du, das meinte ich.“

Wir kauften ein und lachten viel. Er brachte mich mit seinen Späßen zum Lachen. Er setzte sich zum Beispiel einen der Schnitzel auf den Kopf und ließ mich den feudalen Hut begutachten. Er stieg auf eine Abschrankung und jonglierte ihr gekonnt entlang, bis einer kam und meinte: „Was soll denn das?“ Er spielte mit Waren Korbtreffen oder baute mitten im Weg schnell einen Turm aus Pet-Flaschen-Paketen auf. Chip war verrückt und wagte sich alles. So einem war ich noch nie begegnet. Endlich gelangten wir zur Kasse und ich dachte für mich: „Bestimmt sind die im Laden froh, wenn wir wieder draußen sind.“

Als einer meckerte, weil ihm an der Kasse alles viel zu langsam ging, stellte sich Chip mit Schwung auf seine Hände, streckte seine langen Beine in die Höhe und ging auf eben diesen Händen weiter vor, ließ sich von unten her vernehmen: „Vielleicht geht es so schneller.“

Natürlich beschleunigte das nicht wirklich etwas. Aber es erzeugte Erstaunen und der Meckerer vergaß seinen Ärger.

Einem anderen, der mit verdrießlichem Gesicht da stand, schnitt er eine Grimasse. Dabei hätte er allerdings beinahe etwas kassiert, denn der fand das nicht lustig. Auf jeden Fall hatte ich schon lange nicht mehr so viel gelacht. So ein verrückter frecher Kerl! Ich hoffte, dass er noch lange blieb. Er tat mir gut. Aber ob dies bei seiner Art klappte? Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf und er kommentierte: „Ich weiß, dass ich ein Kindskopf bin.“ Er lachte. Und ich konnte nicht anders, strich ihm schnell liebevoll übers Gesicht.

Der Abend kam und er war nicht da, denn er hatte seinen Feierabend. Der Abend erschien mir trostlos. Ich mochte ihn nicht. Beim Essen hatten manche sogar Besuch. Linda und Hugo hatten ihren seltsamen Verwandten bei sich. Der war ab und zu hier. Es kam mir oft vor, als steckten die drei speziell die Köpfe zusammen. Aber das sah bestimmt nur so aus. Der Verwandte kam mir seltsam vor, weil er kaum jemanden in die Augen sah, ansonsten war nichts Auffälliges an ihm. Aber die beiden waren ja auch nicht anders. Die beiden waren echt sehr eingebildet. Sie gehörte zu den Reichen, aber zu denen, die Besuch bekamen und waren deswegen bestimmt nicht gefährdet. Mir schien, es gab einen Zusammenhang zwischen den Reichen, die niemanden hatten und den Todesfällen. Aber vielleicht war das nur Einbildung. Nur ein Gefühl, das nicht stimmte. Manchmal stellte man sich etwas vor, das nicht den Tatsachen entsprach, aus den Gefühlen heraus. Ich selbst passte nicht in das Muster derer, die starben. Steckte Magda dahinter? Ach nein. Sie war zwar unangenehm, aber wirklich vorstellen konnte ich mir das nicht. Allerdings ließ mich das Geschehen an diesem Abend doch misstrauisch werden.

Ich mochte nicht lesen, auch wenn ich sonst viel und gerne las. Radio und TV brachten nichts, was mich interessierte. Als ich schon im Bett lag, kam Magda mit Pillen. Keine Krankenschwester, keine der Pflegerinnen, nein, Magda persönlich. Ich wusste nicht wirklich wie sie war. Sie ließ nicht hinter ihre Fassade blicken. Meistens hatte sie ein verschlossenes strenges Gesicht. Ob sie zu Freundschaft oder Wärme fähig war, wusste ich nicht. Sie wahrte Distanz. Ich traute ihr nicht so ganz. Das konnte falsch sein. Vielleicht kam das nur aus dem nicht Verstehen heraus. Vielleicht hatte sie Erfahrungen gemacht, die sie so werden ließen.

„Berthe, Sie hatten die letzten Tage viel Aufregung. Ich mache mir Sorgen.“

„Es geht mir gut“, versuchte ich sie zu beruhigen.

„Ich gebe Ihnen heute Abend etwas. Sie werden ruhig schlafen können und erholt aufwachen.“

„Nein, ich brauche nichts.“

„Ich möchte aber, dass Sie diese Pillen zu sich nehmen. Es wird Ihnen gut tun.“

Was sollte das denn? „Nein, ich schlafe immer gut. Ich will nichts einnehmen, ich habe noch nie etwas zum Schlafen genommen.“

„Sie sind stur.“

„Was wollen Sie gegen meine Sturheit tun?“ Ich reckte das Kinn vor und war gespannt, was sie unternehmen wollte.

„Ich appelliere an Ihre Vernunft. Ich bin für Ihr Wohlergehen verantwortlich und weiß, dass Sie nach all den Aufregungen Erholung benötigen.“

„Es geht mir gut“, wiederholte ich. Und ich fand, dass ich dafür selbst verantwortlich war und niemand sonst.

Es kam mir seltsam vor, weil es ausgerechnet heute war. Nach dem Gespräch mit der Polizei. Nicht an einem anderen Abend, nicht, als ich Linette fand, nicht, als sonst etwas Aufregendes war. Aber heute sollte ich dazu gezwungen werden. Magda ließ nicht locker, sie baute auf ihre Druckmöglichkeiten und ich war mir nicht sicher, wie weit sie gehen würde. Ich war noch nicht soweit, mich erfolgreich dagegen zu wehren. Denn auf einmal kam die Angst wieder. Ich war nicht etwa unter Vormundschaft gestellt und hatte durchaus Anrecht auf meine Privatsphäre. Doch das schien niemanden zu kümmern. „Zwingen Sie mich nicht, ärgerlich zu werden.“

„Wollen Sie Gewalt anwenden?“

„Wie kommen Sie auf solche Gedanken?“

„Durch Ihre Aussagen.“

Magda sah mich ernst an, ließ sich aber von ihrem Vorhaben nicht abbringen. „Es ist nicht Philosophie des Hauses Gewalt anzuwenden Berthe. Trotzdem werden Sie diese Pillen nehmen, weil es für Sie das Beste ist und Sie das einsehen. Sie sind doch durchaus vernunftbegabt. Ihr Wohl liegt mir am Herzen. Darum bestehe ich darauf. Was ist denn mit Ihnen? So kenne ich Sie nicht. Das muss die Aufregung sein. Anders kann ich mir Ihr Verhalten nicht erklären. Wenn Sie nicht bereit sind, einzulenken, muss ich Ihrem Sohn melden, dass Sie sich sehr gegen Dinge stellen, die gut für Sie sind.“

„Er ist nicht mein Vormund“, wehrte ich ab.

„Aber er bezahlt Ihren Aufenthalt.“

„Das ist falsch. Es ist mein Geld, das dafür eingesetzt wird.“

Ich überlegte mir, ob ich ausprobieren sollte, wie weit sie ging, aber meine Kraft ließ nach. Ich ging das Risiko nicht ein und nahm die Pillen schließlich. Sie war zufrieden. „Na also, geht doch. Eine gute Nacht wünsche ich Ihnen.“

Sie zog von dannen. Doch ich schluckte die Pillen nicht, sondern nahm sie sofort aus dem Mund und versteckte sie ganz hinten in der Nachttisch-Schublade unter all meinem Zeug. Dass die Frau mir nicht den Kopf getätschelt und „Brav“ gesagt hatte, grenzte für mich an ein Wunder, denn genauso hatte sie geschaut. Ich freute mich über meine List, über meine Rebellion. „Noch habt ihr mich alle nicht geschafft. Noch nicht. Ich bin noch lebendig.“

***

Ich sehnte mich nach meinem Zuhause, nach meinen eigenen persönlichen vier Wänden. Aber nicht nach Madeleine. Wenn ich an sie dachte, fror ich. Was hätte sie wohl noch getan, wenn ich nicht - müde und klein geworden - nachgegeben hätte? Ich traute ihr inzwischen alles zu. Ihr war es gelungen, in Nachbarschaft und Bekanntschaft, selbst in der dürftigen Verwandtschaft, die liebende Schwiegertochter zu mimen. Bestimmt wäre es ihr gelungen, mich entmündigen zu lassen.

Es war schlimmer geworden mit ihr und damit unerträglich. Sie stellte es so hin, als wäre es das mit mir. Als wäre ich nicht mehr tragbar. Ich verstand es nicht. Sie hatte nicht viel mit mir zu tun. Ich war selbständig und keineswegs bettlägerig - wenn sie mich ließ - mobil, doch gerade das wollte sie nicht. Sie wollte Kontrolle, mich unter ihre Fuchtel zwingen und dann meckerte sie über die Mehrarbeit, die sie selbst erzeugte, über das angeblich durch mich angebunden sein, dass sie selbst verursachte. Es hatte sie niemand beauftragt und ich brauchte keine Aufpasserin und kein Kindermädchen. Ich war erwachsen. Weil ihr nicht gelang, was sie bezweckte, was sie sich vorstellte, schob sie mir Dinge und Ereignisse unter, die so nicht stattfanden. Sie inszenierte Theaterepisoden. Sie machte mich vor Verwandten, vor Freunden und Fremden lächerlich. Sie trat mich subtil und verbal, bis ich innerlich vor Schmerz schrie und sich mein Verlust verstärkte. Ich schrumpfte und mit mir mein Lebenswillen. Doch das war nur der Anfang.

„Miro? Warum hast du mich allein gelassen, bist vor mir gegangen? Wie soll ich so weiterleben?“

Er war mit der Schwiegertochter ausgekommen. Ihn hatte sie genug respektiert und mich in der Zeit, in der er da war. Danach änderte es sich, erst schleichend, dann rasant. „Siehst du, was geschieht? Sie redet mir in alles hinein, nimmt mir jede Entscheidung. Sie demontiert mich. Sie nimmt mir alles.“

MarChip und die kleine Berthe

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