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Der parabolische Widerruf

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Als Kritiker Kants stand Nietzsche ebenso unter dem Eindruck von dessen Kritik der klassischen Gottesbeweise wie unter dem des dramatischen Referats, mit dem Heinrich Heine seiner französischen Leserschaft einen Eindruck von dieser Kritik vermitteln wollte. In seiner ,Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland‘ (1834), die Nietzsche wie eine – wenngleich von ihm verheimlichte – Fundgrube seiner Gotteskritik vorgekommen sein musste, schildert Heine diese Kritik im Bild eines von Kant unter den „himmlischen Leibgarden Gottes“ – den Gottesbeweisen – angerichteten Massakers, an dessen Ende „der Oberherr der Welt“ unbewiesen in seinem Blute liegt. Nur ein Beweis, fügt Heine hinzu, sei diesem Blutbad unbeschädigt entronnen: der ontologische, der sich über Descartes auf Anselm von Canterbury, ansatzweise sogar bis auf Augustin zurückführen lasse. Davon musste sich der dem Ziel der Eliminierung des Gottesbegriffs verschriebene Nietzsche ebenso betroffen wie herausgefordert fühlen. Alles musste daran gesetzt werden, um auch diesen Pfeiler zu Fall zu bringen. Da das, wie das Scheitern Kants bewies, auf spekulativem Weg nicht gelingen konnte, blieb nur der dem Sprachdenker und Bibelkenner Nietzsche nahe liegende Weg der Sprache. Denn Jesus hatte seine Botschaft gerade nicht in Lehrsätzen, sondern in Gleichnissen vorgetragen. Seine Spur hatte Nietzsche bereits mit der Parabel „Die Gefangenen“ in ,Menschliches, Allzumenschliches‘ (II, § 84) aufgenommen. Stimuliert durch die Vorgaben Heines, machte er sich nun nochmals ans Werk, indem er den Gedanken des unüberdenklich Größten ins Zentrum seiner Gleichniserzählung stellte. In diesem Sinn stellte er seinen ungläubigen Zeitgenossen durch den Mund des „tollen Menschen“ drei Fragen, von denen sich die mittlere unmittelbar auf den Zentralbegriff des anselmischen Gottesbeweises bezieht:

Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?

Mit der Schlussfrage beschwört er dann auch schon die mit dem Tod Gottes hereinbrechende „Gottesfinsternis“, von der im Anschluss an ihn der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber, wegweisend für das Glaubensbewusstsein der Gegenwart, sprach. Was in der Folge des Gottestods kommt, ist eine Welt ohne Oben und Unten, also ohne Orientierung, dafür aber der wachsenden Nacht und Kälte. Damit bleibt er voll in der Spur der Gleichnisse Jesu, die allesamt zunächst darauf ausgehen, die gewohnten Denk- und Verhaltensweisen außer Kraft zu setzen, um die Herzen seiner Hörer für die neue Gerechtigkeit des von ihm verkündeten – und verkörperten – Gottesreichs zu öffnen. Und auch darin folgt Nietzsche seinem Vorbild, wenn er den Urhebern der von ihnen begangenen, aber längst nicht begriffenen Untat des Gottesmordes zugute hält:

Und wer immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen einer höheren Geschichte an als alle Geschichte bisher war.

Nietzsche - Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?

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