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Die furchtbarste Anklage

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Im Grunde war Nietzsches Kampfziel dadurch erreicht, dass er mit seiner Toterklärung Gottes den Zentralbegriff aus dem christlichen Systemgebäude herausgebrochen hatte. Weil er aber angesichts der religiösen Beharrungskräfte am Erfolg dieser Attacke zweifelte, verfiel er auf zusätzliche Strategien, die sich freilich wie Wasser und Feuer zueinander verhielten. Die eine bestand in einer destruktiven Auslegung des Christentums, die andere in einer exzessiven und schließlich sich selbst überschlagenden Verbalpolemik.

Was die erste anlangt, so beginnt sie mit dem exorbitanten Satz: „im Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz“10. Mit dem Kreuzestod, den die Jünger ihrem Meister nicht verziehen, verbanden sich für sie aber drei Fragen: „wer war das? was war das? warum gerade so?“11 Aus dem Versuch, darauf möglichst griffige Antworten zu finden, entstand die Geschichte des Christentums, die von daher das Gepräge einer Auslegungsgeschichte, näherhin der Geschichte eines „schrittweise immer gröberen Mißverstehens eines ursprünglichen Symbolismus“ annahm.12 Auf die erste Frage antwortete die Stilisierung des Gekreuzigten zum „Typus des Erlösers“, auf die zweite die Deutung seines Todes als Opfertod und auf die dritte die von Nietzsche als Absturz in ein „schauderhaftes Heidentum“ empfundene Lehre von seiner Sühneleistung.13 Über diese Grundschicht legte sich in der Folge eine zweite in Gestalt der Begriffe „Menschensohn“, „Reich Gottes“, „Kindschaft Gottes“, „Sünde“, „Sündenvergebung“, „Glaube“ und „Erlösung“ durch den Glauben.14 Dazu traten dann schließlich außerchristliche Interpretamente, wie sie eine Nachlassnotiz aufführt:

Über das Christentum Herr geworden: der Judaismus (Paulus); der Platonismus (Augustin); die Mysterienkulte (Erlösungslehre, Sinnbild des Kreuzes), der Asketismus (= Feindschaft gegen die „Natur“, „Vernunft“, „Sinne“ – Orient …).

Das führte zu einer progressiven Entfremdung vom Ursprung, und dies mit der Folge, dass die Menschheit heute „vor dem Gegensatz dessen auf den Knien liegt, was der Ursprung, der Sinn, das Recht des Evangeliums war“, und dass mit dem Begriff „Kirche“ gerade das heilig gesprochen wurde, „was der ,frohe Botschafter‘ als unter sich, als hinter sich empfand“15.

Getreu seinem Grundsatz, daß umgestoßen werden müsse, was bereits wanke, attackierte Nietzsche diese „Fiktionswelt“ gleichzeitig mit Unterstellungen und Vorwürfen, die sich von der Polemik über das Pamphlet bis zur Verfluchung steigerten. Jetzt nennt er die Christen „kleine Mißgeburten von Muckern und Lügnern“, die Begriffe wie „Gott“, „Wahrheit“, „Licht“, „Geist“, „Liebe“, „Weisheit“ und „Leben“ für sich in Anspruch nahmen, um die „Welt“ von sich und sich von der Welt abzugrenzen.16 Jetzt wirft er der Kirche vor, „aus jedem Wert einem Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge“ gemacht zu haben. Und jetzt schreibt er mit „Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen“ die „ewige Anklage“, mit der er „das Christentum den einen großen Fluch, die eine große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache“ und „den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit“ nennt, an alle Wände, wo es nur Wände gibt und dies im Zug einer Haß-Tirade, mit der er seinen schriftstellerischen Rang aufs Spiel setzt und – verspielt.17

Nietzsche - Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?

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