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3. Die Invokation

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Wenn der Gedankengang an dieser Stelle nicht einer trügerischen Vorwegnahme des Ergebnisses verfallen soll, ist ein Seitenblick auf die paulinische Gebetslehre erforderlich. Sie besagt, auf den Punkt gebracht: Im Gebet geht es, wie immer dies motiviert sei, stets um Gott. Und der Beter ist ebenso wie der Adressat, an den er sich wendet, in einer letzten Hinsicht gleichfalls Gott. So sieht es Paulus in dem von Johann Sebastian Bach tiefsinnig vertonten Satz des Römerbriefs (Röm 8,26f):

Der Geist hilft unserer Schwachheit auf, denn wir wissen nicht, was

wir beten sollen, wie sichs gebühret; sondern der Geist selbst vertritt

uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen

forschet, der weiß was des Geistes Sinn sei, denn er vetritt die Heiligen

nach dem, das Gott gefällt (BWV 226)12.

So sehr Gott der Adressat der Anrufung bleibt, stellt er sich doch diesem Wort zufolge gleichzeitig in Gestalt seines Geistes – paulinisch gesehen: der pneumatischen Selbstübereignung Christi – auf die Seite des ratlosen Beters, um dessen Schwachheit durch seinen Beistand aufzuhelfen. So wird das Gebet zu einem Ereignis des Selbstverhältnisses und der Selbstverständigung Gottes – im Herzen des Beters.

Damit öffnet sich die aus der Aporie herausführende Perspektive. Diese Aporie besteht darin, daß der Anzurufende keineswegs so fraglos erreichbar ist wie etwa der Chor der von Apoll angeführten Musen, die zumindest partiell das dem Anrufenden verliehene Ingenium verkörpern. Zwar lebt die Christenheit vom Bewußtsein der vielfachen – sakramentalen und spirituellen – Gegenwart ihres Stifters und Herrn. Doch diese wird von ihr immer nur als eine „angehbare“, nicht jedoch, wie es in der Intention der Anrufung liegt, auch „aufrufbare“ Gegenwart empfunden. Nun aber zeigt sich, daß diese Barriere von dem Anzurufenden selbst überwunden wird, sofern er sich in seiner spirituellen Präsenz auf die Seite des Rufenden stellt. Eben dies geschieht, wenn sich der – mit Jesus identische – Geist der Gebetsnot des Menschen annimmt und sich mit einem „Seufzen“ sogar auf dessen „Unmündigkeit“ einläßt. Denn dadurch nimmt er die Sache seiner Anrufung selbst in die Hand, um sie aus seiner absoluten Kompetenz zum Ziel zu führen.

Freilich ist damit auch eine Grundbedingung des gesamten Vorhabens angegeben: Es muß, um überhaupt ins Werk gesetzt werden zu können, die Bedingung einer „Invokation“, also eines Gebets, erfüllen und demgemäß im Stil einer „theologia cordis“ durchgeführt werden. Das wird dem Beter an keiner Stelle die von Hegel geforderte „Anstrengung des Begriffs“ ersparen13; doch wird er sich bei jedem Schritt bewußt bleiben müssen, daß er sich letztlich nur so auf sein Ziel zubewegen kann, wie es der johanneische Jesus mit dem Wort umschreibt:

Niemand kommt zu mir, wenn nicht der Vater, der mich gesandt

hat, ihn zieht“ (Joh 6,44).

Zweifellos würde sich die Richtigkeit dieser Annahme eindrucksvoll bestätigen, wenn sich zeigen sollte, daß große Argumentationskonzepte, wie etwa der anselmische Gottesbeweis, von ihrem Ansatz her Gebetsstruktur aufweisen. Als Kronzeuge könnte dafür der vorhin eher beiläufig erwähnte Hegel aufgerufen werden, da er mit einer sonst kaum einmal erreichten Klarheit dafür einsteht, daß allen Gottesbeweisen solange „etwas Schiefes“ anhaftet, als sie nicht im Sinne einer „Erhebung des Geistes“ geführt werden, und daß dies in erster Linie auf den – von ihm ohnehin privilegierten – anselmischen Beweisgang zutrifft14. Zur Evidenz würde diese Annahme vollends gelangen, wenn sich überdies zeigen ließe, daß die Geistesgeschichte, ungeachtet ihres zunehmend säkularistischen Erscheinungsbildes, in der Bahn des anselmischen Arguments verliefe und dadurch insgeheim als betende Anrufung des sie trotz aller Bestreitungen umkreisenden Gottes zu gelten hat.

Fraglos würde diese Überlegung entscheidend an Plausibilität gewinnen, wenn sich schon im Evangelium eine Szene ausfindig machen ließe, die dem entspricht und demgemäß als dessen biblische Verifikation angesehen werden könnte: eine Szene, in der Jesus angesichts der Inkompetenz der Anrufenden auf deren Seite tritt, um, stellvertretend für sie, sich selber an- und aufzurufen. Diese Szene gibt es, so seltsam dies klingen mag, tatsächlich, auch wenn sie in der angenommenen Funktion erst deutlich gemacht werden muß. Es handelt sich um die letzte und krönende Wunderszene des Johannesevangeliums, mit welcher Jesus zugleich seine Passion heraufbeschwört: um die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,17-46).

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