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7. Die präsentische Heilserfahrung
ОглавлениеBei diesem „Rückzug“ Jesu in seine Vorzeit darf es – auch nach Schweitzers Meinung – so wenig bleiben wie bei der nicht minder bedrohlichen Möglichkeit, daß er „an unserer Zeit“ vorbeigeht. Das eine könnte seiner Meinung nach durch den konsequenten Abbau des Jesusbildes verhindert werden, das sich die liberale Theologie zurechtgelegt hatte, das andere durch die Einsicht, daß Jesus der Gegenwart Entscheidendes zu sagen, ja gerade in ihr, wie Schweitzer abschließend betont, seine Aufgaben zu lösen habe:
Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am
Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat.
Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns
vor die Aufgabe, die er in unserer Zeit lösen muß. Er gebietet. Und
denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er
sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden,
Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches
Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist …27.
Daß der Versuch, Jesus in seiner ebenso faszinierenden wie schockierenden Aktualität zur Geltung zu bringen, in Kämpfe verstrickt, in Mitleidenschaft mit ihm zieht und zu einem nie gefühlten Frieden in ihm verhilft, ist nach Schweitzers Hinweisen begreiflich. Aufhorchen läßt aber seine Ankündigung, daß ihn diese Kampf- und Leidensgemeinschaft mit ihm zu einer neuen Erschließung des Geheimnisses führt und daß ihm dafür nicht einmal die Vokabel „offenbaren“ zu hoch gegriffen ist. Denn damit spricht Schweitzer der Gegenwart, die er illusionslos als eine Zeit des auf allen Gebieten bemerkbaren kulturellen „Stillstands“ kennzeichnet, zugleich eine einzigartige Affinität zu den Intentionen Jesu zu, sofern sie durch ihre geistige Armut dazu gedrängt werde, ihre Hoffnungen in Formeln zu bekunden, die als Äquivalente des Wollens und Hoffens Jesu, zumal aber seines „Begriffs des Reiches Gottes“ gelten können.
Wenn Schweitzer auch auf die in diesem Zusammenhang zu gewärtigende Initiative Jesu – das Leitmotiv des vorliegenden Gedankengangs – nicht eingeht, bestimmt er doch auf eine hochaktuelle Weise das Verhältnis, das zu Jesus aufgenommen werden müsse. Als hätte er bereits die Prognose Karl Rahners im Ohr, wonach der Christ der Zukunft „ein Mystiker sei oder nicht mehr sei“28, versichert er:
Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. Keine
Persönlichkeit der Vergangenheit kann durch geschicht-liche Betrachtung
oder durch Erwägungen über ihre autoritative Bedeutung
lebendig in die Gegenwart hineingestellt werden. Eine Beziehung zu
ihr gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen
Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung,
Bereicherung und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren
und uns selbst in ihr wiederfinden. In diesem Sinne ist überhaupt
jedes tiefere Verhältnis zwischen Menschen mystischer Art. Unsere
Religion, insoweit sie sich als spezifisch christlich erweist, ist also
nicht so sehr Jesuskult als Jesusmystik29.
Mit diesem Wort greift Schweitzer über die gesamte auf ihn folgende Entwicklung, die, vereinfachend gesprochen, durch die dialektische Theologie Barths, durch die Entmythologisierung Bultmanns, durch die Hermeneutik im Gefolge Friedrich Schleiermachers und Hans-Georg Gadamers und durch die politische Theologie von Jürgen Moltmann und Johann Baptist Metz bis hin zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie gekennzeichnet ist, bis auf die Gegenwart vor. Denn sie hat sich, nicht zuletzt durch das Traumverständnis Eugen Drewermanns30, zu der Einsicht erhoben, daß die Sache Jesu nur im Präsens verhandelt werden kann. Drewermann ist seinen Kritikern bei allem, was sie gegen ihn einwenden, in der Erkenntnis voraus, daß die religiöse Krise nur durch eine aktuelle Aneignung des Heils überwunden werden kann31. In der Frage nach dem konkreten Vollzug dieser Aneignung ist Schweitzer allerdings auch Drewermann durch die Erkenntnis überlegen, daß der von Jesus gestifteten Glaubensform nicht schon durch einen „Jesuskult“ – und erst recht nicht durch eine Jesussymbolik –, sondern nur durch eine „Jesusmystik“ Genüge geschieht. Und er überbietet selbst diesen Begriff noch durch den Hinweis, daß diese Jesusmystik in einer „Klärung, Bereicherung und Belebung unseres Willens“ in dem seinigen bestehe und schließlich dazu führe, daß wir uns selbst in Jesus wiederfinden.
Damit tritt die bereits umschriebene Grundbedingung des Vorhabens in ein noch helleres Licht. Was bisher nur formal als eine betende Annäherung an das Ziel bestimmt wurde, das sich mit zunehmender Deutlichkeit als eine zum rettenden Prinzip durchstoßende Zeitdiagnose erwies, kann nunmehr inhaltlich beschrieben werden. Letzte Absicht des Vorhabens muß die Erweckung einer Jesusmystik sein, die der Forderung nach einer präsentischen Heilserfahrung gerecht wird. Das aber heißt zugleich, daß, zumindest prinzipiell, ein zu allen bisherigen Verfahren entgegengesetzter Weg eingeschlagen werden soll. In immer neuen Anläufen wurde der Versuch unternommen, die Entwicklung des Christenglaubens nachzuzeichnen, seine Stationen und Umbrüche zu beschreiben und die wechselnden Jesusbilder, wie sie der sich ständig wandelnde Glaube zeitigte, aufzurufen. Hier geht es stattdessen umgekehrt darum, die von Jesus ausgehenden Impulse, Gewährungen und Denkanstöße, Orientierungs- und Entscheidungshilfen aufzuweisen, auch wenn diese vordergründig als theologische Entwürfe und Direktiven in Erscheinung treten. Hat das gewohnte Verfahren die Struktur einer Christologie, so kann man das hier Vorgeschlagene und ins Werk Gesetzte mit einem altchristlichen Begriff als „Christomathie“ bezeichnen. Was ist damit gemeint?