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Erstes Kapitel Vororientierung 1. Die Anrufung

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Wer sich vornimmt, dem Zeitalter ins Herz zu schauen, ist im Blick auf große Vorbilder versucht, vor jedem weiteren Schritt die Musen anzurufen. Denn es könnte ihm sonst wie dem Erzähler in Goethes „Faust“, der sich stattdessen dem Gesang der Erzengel hingibt1, widerfahren, daß sich die übergangenen Musen am Ende doch noch einstellen, verwandelt in die „grauen Weiber“ namens Mangel, Schuld, Not und Sorge, und daß ihn letztere mit Blindheit schlägt2. Davor warnt bereits eine ungleich ältere Erzählung. Sie führt zurück ans „Krankenlager“ des von dem über ihn verhängten Todesurteil niedergeworfenen Boëthius, das die um sein Schicksal trauernden Musen umstehen, um dessen Schmerz „Worte einzugeben“. Doch ihr Zuspruch wird jäh von der Erscheinung der „Philosophie“ unterbrochen, die den Trösterinnen vorwirft, die Leiden des Kranken mit ihrem süßen Gift noch zu mehren, und sie schließlich aus dem Kerker vertreibt. Dann aber stellt sie ihrem einstigen Schüler die Diagnose:

Es besteht keine Gefahr; er leidet an Lethargie, der gewöhnlichen

Krankheit eines genarrten Geistes. Er hat sich selbst ein wenig

vergessen; er wird sich leicht erinnern, dann wenigstens, wenn

er mich zuvor erkannt hat3.

Die auf „Lethargie“ lautende Diagnose läßt in zweifacher Hinsicht aufhorchen. Zunächst schon durch ihre verblüffende Aktualität, denn sie bringt mit erstaunlicher Treffsicherheit auch das Grundübel der Gegenwart zum Vorschein: die lähmende Resignation, die sich allenthalben, besonders im Gefolge der Kirchenkrise, aber auch in der Reaktion auf eine weithin als chimärisch empfundene Zeitsituation, bemerkbar macht. Sodann aber auch in ihrem Zusammenhang mit der Vertreibung der Musen. Denn diese verführen durch das süße Gift ihres Zuspruchs, wie der Eingang der „Consolatio“ nur zu deutlich bestätigt, zur Rückschau:

Der ich einst heitere Lieder in frischem Eifer vollendet,

bin zum Beginne, ach, trauriger Weise gedrängt.

Siehe, zerrissene Musen befehlen mir, was ich schreibe,

und mit Tränen benetzt mir das Gesicht Elegie!

Die wenigstens konnten Gefahr nicht und Schrecken besiegen,

daß sie nicht doch als Geleit folgten auf unserem Weg.

Die einst der ruhmvolle Stolz beglückter und prangender Jugend,

trübe trösten sie jetzt meines, des Greises Geschick4.

Dieser wird nach dem Einspruch der Philosophie sein Geschick nie bestehen lernen. Deshalb tritt die Philosophie an die Stelle der falschen Trösterinnen, um ihrem Schüler auf seinem Leidensweg beizustehen. Sie kommt, wie es ihrer visionären Erscheinung entspricht, unvermutet und ungerufen. Doch das ist die Vergünstigung für den, dessen Denkweg im Begriff steht, sich als Leidensweg zu vollenden, und dem durch den bevorstehenden Tod die härteste Gegenprobe zu seinem Denken abverlangt ist. Den anderen bleibt nur der Bittweg. Wenn sich somit das Mißgeschick des Faust-Erzählers nicht wiederholen soll, bedarf es einer Anrufung gleich der zu Beginn der homerischen Epen, der sich nach Boëthius sogar Dante beim Eintritt in das „Zweite Reich“ seiner Jenseitsreise, das Purgatorio, verpflichtet fühlt. Doch dabei blieb die von Boëthius markierte Zäsur unbeachtet. Wie es Adornos vieldiskutierter Behauptung zufolge nach Auschwitz kein lyrisches Gedicht mehr geben kann, so gibt es nach Boëthius keine Anrufung der Musen mehr. Was tritt an ihre Stelle? Auf der Suche nach den „höheren Charismen“ antwortet Paulus darauf:

Jetzt aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe; am größten unter ihnen

aber ist die Liebe (1Kor 13,13).

Glaube, Hoffnung, Liebe – sie sind, im Kontext des Ersten Korintherbriefs gesehen, die Früchte jener Kreuzesweisheit, die sich über das philosophische Weisheitsstreben erhob und seinen Geltungsanspruch widerlegte. An sie kann man sich halten. Doch kann man sie auch anrufen?

Die Last der Antwort wird dem Fragesteller nur im Fall der Hoffnung abgenommen, wenn die nach dem ersten Zusammentreffen mit ihrem mörderischen Gegenspieler mühsam um Fassung ringende Leonore in Ludwig van Beethovens „Fidelio“ von dem auf dunklen Wolken ruhenden „Farbenbogen“ singt, dessen Anblick ihr aufwallendes Blut beschwichtigt:

Komm, Hoffnung, laß den letzten Stern

Der Müden nicht erbleichen!

Erhell’ mein Ziel, sei’s noch so fern,

Die Liebe wird’s erreichen5.

Sie ist durch das Friedenszeichen des Regenbogens – ein unverkennbarer Hinweis auf den Ausklang der biblischen Sintfluterzählung – wie durch ein Portal in ihre eigene Zukunft geschritten, in der sie die geplante Rettung des Gatten bewirken wird. Was ihr diese Zukunft eröffnet und ihr dem Ziel entgegengehen hilft, ist der Gegenstand ihrer Anrufung, die Hoffnung. Diese muß sie gestalthaft wahrgenommen haben, damit sie sich zu ihrer Anrufung erheben konnte. Die Hoffnung bewahrt auch Paulus vor dem Scheitern,

denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den

heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5).

Im Sinn des paulinischen Geistbegriffs ist die Hoffnung damit auf den durch seinen Geist den Glaubenden innewohnenden Christus zurückgeführt. Ihn nennt der Kolosserbrief ausdrücklich sogar unsere „Hoffnung“ (Kol 1,27). Unmittelbarer noch wird er von der Römerstelle mit der Liebe gleichgestellt. Und damit greift der Gedanke nochmals auf Leonores Beschwörung des Farbenbogens zurück, der, gerade auch nach dem Sintflutbericht, „auf dunklen Wolken ruht“. Denn Jesus ist im Sinn der neutestamentlichen Botschaft zunächst der Friedensstifter. Er verheißt den Frieden, „den die Welt nicht geben kann“ (Joh 14,27). Und der Epheserbrief steigert sich sogar zu der Aussage: „Er ist unser Friede“ (Eph 2,14). Nach Wilhelm Lütgert ist er im gleichen Sinn aber auch die leibhaftige Verkörperung der Gottesliebe6. In seinem Wort wie in seinem Handeln und Leiden hat Jesus die vom Gottesgeheimnis ausgehenden Bedrohungen eliminiert und dort, wo der fromme Sinn der Menschheit zwischen Faszination und Schrecken schwankte, das „Wahrzeichen“ der bedingungslosen Liebe zum Vorschein gebracht. Diese Liebe gewinnt in ihm ein Antlitz, kommt in ihm zu Wort, wird in ihm fühlbar. Deshalb kann sie mit und in ihm angerufen werden.

Gleiches trifft schließlich auch auf den Glauben zu. Galt dieser lange als ein Für-wahr-Halten von Sätzen, so bricht sich heute zunehmend die Erkenntnis Bahn, daß er sich nicht auf die Sätze, sondern auf den von ihnen umschriebenen Inhalt, letztlich auf den bezieht, der die Glaubensbahn gebrochen und die Sache des Glaubens bis zur Identifikation mit ihr an sich gezogen hat. Deshalb kann der frühchristliche Märtyrerbischof Ignatius von Antiochien den Adressaten seines Smyrnäerbriefs – im Blick auf das Menschensohnwort von Lk 9,26 – versichern:

Er wird sich eurer nicht schämen, der vollkommene Glaube,

Jesus Christus7.

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