Читать книгу Nietzsche - Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? - Eugen Biser - Страница 13
Die schönste Apologie
ОглавлениеVon da an verzweigen sich Nietzsches strategische Wege. Bevor er sich daran macht, den Ruin des seines Zentralbegriffs beraubten Christentums zu denunzieren, ist es ihm darum zu tun, die Folgen der Beseitigung Gottes für den – seiner Diagnose zufolge durch den Gottesglauben fragmentierten – Menschen auszuleuchten. Denn der unter die Gewalt Gottes gebeugte und durch das widersprüchliche Christentum zudem in ein Selbstzerwürfnis getriebenen Mensch trat in Akten einer unbegreiflichen „Freigebigkeit“ seine höchsten Vorzüge, wie schon Feuerbach dekretierte, an Gott ab. Nicht dieser hatte den Menschen, sondern die Menschen haben, wie auch Nietzsche in einer knappen Notiz bemerkte, „Gott geschaffen“. Nun aber gilt es, die durch den Tod Gottes wieder frei und verfügbar gewordenen Attribute ihrem wahren Eigentümer, dem Menschen, zurückzuerstatten. Im Stil einer feierlichen Resolution erklärt Nietzsche daher in einer Nachlassaufzeichnung:
All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigentum und Erzeugnis des Menschen: als seine schönste Apologie.9
Was damit in Gang gesetzt war, hat allerdings erst Nietzsches Wirkungsgeschichte ans Licht gebracht. In seinem ,Unbehagen in der Kultur‘ stellte Freud die inzwischen vielfach bestätigte Tatsache heraus, dass sich die moderne Hochtechnik nicht mehr auf das Ziel der Daseinserleichterung, sondern auf die uralten Traumziele der Menschheit konzentriert und damit auf die Realisierung von Utopien ausgeht. Dabei sucht der Mensch göttliche Attribute in seine Verfügungsgewalt zu bringen. Im Licht der inzwischen erfolgten Entwicklung hieße das: in der Raumfahrt einen Anteil an göttlicher Allgegenwart, in der Nachrichtentechnik und dem Internet einen Anteil an göttlicher Allwissenheit, in der Gentechnik einen Anteil an göttlichem Schöpfertum.
Demgegenüber stellt Nietzsche selbst die durch den Gottestod ermöglichte Steigerung des Menschen heraus. Zunächst in dem Aphorismus „Excelsior!“ der ,Fröhlichen Wissenschaft‘, der mit dem großen Verzicht auf den Ausblick auf das Gebirge beginnt, „das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt“, also im Verzicht auf einen Vergelter und Verbesserer letzter Hand und auf die Ruhestatt in der Gewissheit eines letzten Friedens, und der mit dem Bild eines Sees schließt, der „einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss“ und seither immer höher steigt (III, § 285). Vor allem aber bezieht sich das auf die von Karl Löwith in ihrem Rang als Spitzenleistung Nietzsches herausgestellte Lehre von den „drei Verwandlungen“ zu Beginn des ,Zarathustra’: der Verwandlung des Menschen in das Kamel, die Figur der Heteronomie, sodann der Verwandlung des Kamels in den Löwen, das Sinnbild der Autonomie, und schließlich des Löwen in das Kind, die Symbolfigur des zu erfüllendem Seinsglück und voller Identität gelangten Menschseins. Wie Nietzsche diese Idee der Erhebung des Menschen mit dem Postulat seiner Rückübersetzung in den naturhaften „Grundtext“ vereinbart, ist nicht abzusehen. Dafür zeichnet sich von da aus eine zweite wirkungsgeschichtliche Spur ab, diesmal aber in Richtung auf die mörderischen Exzesse der Unmenschlichkeit durch die von ihm angesagten „Herren der Erde“, von denen er im Fall, dass er sie erlebt hätte, zweifellos mit allen Zeichen des Entsetzens zurückgewichen wäre, denen er aber durch seine brutalen Formeln gleichwohl verbalen Vorschub leistete. Welchen Fortgang aber nahm sein Kampf gegen das Christentum?