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Die Rekonstruktion

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Nietzsches literarische Produktion endet in einem Doppelgipfel von hintergründiger Bedeutung. Zunächst in seinem ,Antichrist‘, der einem folgenschweren Eingeständnis gleichkommt. Im selben Maß, wie er in diesem abschließenden Urteilsspruch seinem Hass die Zügel schießen lässt, gibt er seinen Rang als einer der „ersten Artisten der deutschen Sprache“ auf. Und nicht nur dies! Indem er in einer Korrektur letzter Hand den ursprünglich vorgesehenen Untertitel „Versuch einer Kritik des Christentums. Erstes Buch der Umwertung aller Werte“ durchstrich und durch „Fluch auf das Christentum“ ersetzte, gab er zudem den auf vier Bände veranschlagten Plan eines systematischen Hauptwerks auf, zumal dieser letzten Konzeption zufolge das gesamte Vorhaben der Umwertung mit dem ,Antichrist‘ abgeleistet war.

Erst vor diesem Hintergrund wird der zweite Gipfel, der als „Autohagiographie“ (Sommer) konzipierte Lebensrückblick ,Ecce homo‘, voll verständlich. Wie zur Bestätigung der These, dass Nietzsches wahre Autobiographie in seinen Schriften vorliegt, unterzieht das Werk in seinem Mittelstück die von Nietzsche bereits herausgebrachten Publikationen einer Neulektüre, die nicht zufällig an Augustins ,Überprüfungen‘ (Retractationes), das „Bekenntniswerk seines Greisenalters“ (Perl), erinnert. Im ersten Teil der Schrift betont er, wenngleich wider besseres Wissen, dass er niemals Personen angreife, sondern sich ihrer immer nur wie eines starken „Vergrößerungsglases“ bediene, um einen „wenig greifbaren Notstand sichtbar“ zu machen.24 Da in ,Ecce homo‘ nach einer Bemerkung Giorgio Collis’ das Sachinteresse „in eine überreizte Betrachtung der eigenen Person“ umschlägt, entsteht der Eindruck, dass er in dem mit „Warum ich so gute Bücher schreibe“ betitelten Mittelstück genauso verfährt und sich selbst nach Art eines Prismas an die bereits veröffentlichten Schriften heranträgt, um ihnen tiefere Einsicht abzugewinnen und neue Glanzlichter aufzusetzen. Wie sein Bericht über die Entstehung des ,Zarathustra‘ zeigt, den Thomas Mann zu seinen glänzendsten Textstücken zählt, spricht viel für diese Annahme.

Dann aber legt sich der Gedanke nahe, ihn als Lesehilfe auch an seine Christentumskritik heranzutragen, um sie nach ihren letzten Intentionen und Konsequenzen zu befragen. Was die Intentionen anlangt, so besteht kein Zweifel daran, dass er dem Christentum mit dem ,Antichrist‘, wie Andreas Urs Sommer verdeutlichte, ein seine Aufhebung erzwingendes Gegen- und Zerrbild entgegenhalten wollte. Was aber die Konsequenzen betrifft, so wird man sich an die Stelle aus ,Ecce homo‘ erinnern müssen, an der er sich zwar nicht als den Doppelgänger Jesu, wohl aber als den seiner selbst bezeichnet, der über ein „zweites Gesicht“ und über den – synoptischen – Einblick in scheinbar „getrennte Welten“ verfüge.25 Denn in der Sicht dieses „Prismas“ kommt, palimpsestartig, der von Nietzsche immer nur angedeutete Gegensinn zu seinem „Todkrieg“ gegen das Christentum zum Vorschein. Wenn auch nicht von dessen Wiederherstellung die Rede sein kann, so doch von seiner durch Nietzsche zwar nicht intendierten, aber doch ermöglichten Rekonstruktion. Es wäre, skizzenhaft angedeutet, ein Christentum ohne Gewalt und machtmäßig gestütztes Ordnungsgefüge, ohne Dogmen und Ämter, ohne die in einem jahrhundertelangen Verfremdungsprozess eingeschleusten Implikate jüdischer, platonischer und asketischer Provenienz und ohne die Zwangsideen von Sünde, Opfer und Entsühnung, das sich als solches um den aufbauen würde, der nun nicht als letzter und einziger, sondern als erster Christ gelten könnte: um einen Jesus jenseits aller Unterscheidungen und Gegensätze und darum der reinen mit dem Wort von der „Gotteskindschaft“ gemeinten Innerlichkeit, um diesen Jesus, der für seinen Verkehr mit Gott keine Formeln und Riten benötigte, wohl aber die Praktik vorlebte, wie man sich göttlich, selig und jederzeit als „Kind Gottes“ fühlen könne, und der gleichwohl, ungeachtet dieses vermeintlichen Quietismus, den großen, die Dinge von ihren Wurzeln her angreifenden Umbruch aller Verhältnisse dadurch bewirkt, dass er ebenso wie in den Seinen so auch in seinen Gegnern und Feinden – der Gegner Friedrich Nietzsche durchaus eingeschlossen – betete, litt und liebte. Das ist zweifellos ein extrem utopisches Bild des Christentums, jedoch ein Bild, das wie alle großen und gültigen Utopien dazu angetan ist, verhärtete Strukturen aufzubrechen und die bestehenden Verhältnisse ihrer größeren Zukunftsgestalt entgegenzuführen.

Nietzsche - Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?

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