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Der Doppelgänger

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Es läge in der Konsequenz dieser Attacke, dass sich Nietzsche mit gleicher Vehemenz auch auf die Gestalt Jesu stürzte. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wie Karl Jaspers beobachtete, ist es bei Nietzsche immer wieder nach dem Kampf, ja schon inmitten des Kampfes, als gebe er ihn auf, indem er den Gegner „mit einbezieht, sich gleichsam in ihn verwandelt“, und das gelte sogar für das Christentum.18 Erst recht gilt das dann aber für sein Verhältnis zu Jesus, den er trotz aller Kritik, die sich einmal sogar bis zu der Bezeichnung „Idiot“ steigert, im Bewusstsein seiner Sonderstellung gleichzeitig aus dieser ausnimmt, um sich schließlich, mit Jaspers gesprochen, in ihn zu verwandeln. Der Umschwung von der Distanzierung zur Aneignung kündet sich an, wenn er für sich ein Wissen um „diesen großen Symbolisten“ in Anspruch nimmt, im Vergleich zu dem sich schon das der ersten Jünger wie eine hilflose Vergröberung ausnehme.19 Und er wird sprachlich fühlbar, wenn er die dogmatischen Leitbegriffe wie „Sohn Gottes“ oder „zweite Person der Trinität“ als „die Faust auf dem Auge“ bezeichnet und wenn er dem den Seufzer „oh auf was für einem Auge!“ hinzufügt. Seinen Höhepunkt aber erreicht dieser Vorgang in seiner Deutung des Gesprächs Jesu mit dem Leidensgefährten, das wegen der irrtümlichen Zuordnung der Personen in der Erstausgabe unterdrückt wurde. Doch an dieser Stelle erreicht es einen Grad der Einfühlung in das Passionsgeschehen, der selbst von Kierkegaard nicht überboten wurde, wenn er von dem Gekreuzigten sagt:

Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses tun.20

Tatsächlich muss man bis in spätmittelalterliche Passionsdarstellungen zurückgehen, um eine Entsprechung zu dem Gedanken, dass die Passion Jesu nicht so sehr das Werk des Hasses als vielmehr seiner die Feinde einbeziehenden Liebe ist, ausfindig zu machen. Auf dieser Aussage liegt auch insofern ein besonderer Akzent, als sie strukturell der extremen Nachlassnotiz nahekommt:

In mir überwindet sich das Christentum.

Damit macht er seinen Kampf gegen das Christentum zu seinem Lebensinhalt, wenn nicht gar zu seiner Identitätsfrage. Formell bezieht er mit diesem Satz die dramatische Gegenposition zu Jesus, der von sich sagen könnte: Aus mir und durch mich entsteht das Christentum. Da sich Nietzsche auf dem Höhepunkt seiner Polemik jedoch als den „Gegensatz eines neinsagenden Geistes“ bezeichnet,21 ist mit dem Satz von der in und mit ihm vollzogenen Überwindung des Christentums keineswegs das letzte Wort gesprochen. Tatsächlich wünscht er nicht nur, wie Jaspers bemerkte, dessen Fortdauer; vielmehr bekennt er sich auch in aller Form dazu, wenn er, sogar im ,Antichrist‘, betont:

Das echte, das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten möglich sein.22

Das setzt freilich einen grundlegenden Wandel in seinem Verhältnis zu Jesus voraus. Bezeichnete er sich zuvor in aller Form als „Antichrist“ und damit als seinen erklärten Widersacher, der mit seiner „ewigen Anklage“ sogar die Position Satans, des unablässigen „Anklägers“ der Brüder (Offb 12,10) übernimmt, so spielt er sich in der Folge, wie erstmals Franz Brentano erkannte, zunehmend in die Rolle des „Nachahmers“ hinein, um sich schließlich nach Art eines „Doppelgängers“ im Sinne gnostischer Vorstellungen geradezu mit ihm zu identifizieren. Wie Jesus zum Glauben an seine Frohbotschaft aufruft (Mk 1,14), nennt er sich zuletzt einen „frohen Botschafter, wie es keinen gab; und wie Jesus im Kolosserbrief die Hoffnung genannt wird (Kol 1,27), versichert er nun: „erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen“.23 Das aber lässt in der mit zunehmender Gehässigkeit geführten Attacke auf das Christentum in diesem wie in einem Palimpsest einen Gegensinn aufscheinen, der die Frage nach seinen letzten Absichten aufwirft.

Nietzsche - Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?

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