Читать книгу Im Tempel des Amun-Re - Eva Hauser - Страница 8
Ningal
ОглавлениеIna weilte seit einiger Zeit zu einem längeren Besuch in Bel-shalti-Nannars Palast in Ur. Als sie an diesem Morgen schließlich ausgeschlafen hatte, schritt sie, die Augen dunkel umrahmt und viel Gold über dem weißen, plissierten Kleid, zu ihrer Schwester. Moiria war es sicher auch langweilig heute Morgen.
Ina war früher immer lebhaft und lustig gewesen. Doch das war vorbei, mit einem Mal, von einem Tag auf den anderen. Sie sagte nicht viel und starrte oft vor sich hin, so als ob etwas sich immer mehr nach innen richtete und an ihr fraß.
Wenn Moiria sie danach fragte, dann wollte Ina nicht darüber sprechen. Mit keinem redete sie darüber, nicht mit Moiria, nicht mit Bel-shalti-Nannar und nicht mit Vater. Vater fragte nicht, wann Ina von ihrem nunmehr schon sehr langen Besuch aus Ur nach Uruk zurückkommen werde, und Ina sagte nicht, dass sie nach Hause zurückwolle. So war Ina nun schon seit geraumer Zeit zu Gast bei Bel-shalti-Nannar.
Ina fand ihre Schwester auf dem Ruhebett liegend vor. Enki war bei ihr. Moiria hatte ihn zum zweiten Mal an diesem Morgen rufen lassen. Tee war verschüttet und von einer Stelle an der Wand tropften zerplatzte Früchte herab. Eine Dienerin putzte und wischte und tilgte die Spuren des Missgeschickes, das für einen bloßen Ausrutscher oder ein Zittern der Hand zu weit oben lag. Ina zog die Augenbrauen empor und setzte sich. Wer hatte das wohl getan? Moiria?
Enkis Kunst tat Wunder. Wiederum war Moiria von Wohlbehagen erfüllt. Die Sorgen der Nacht waren weggewischt. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie ebenso außer sich geraten war, noch warum sie jemals wegen irgendetwas Tränen vergossen hatte. Alles würde sich von selbst lösen, dessen war sie ganz gewiss.
Ina schlug die Beine übereinander und blickte abwechselnd von ihren Hand- zu ihren Fußnägeln, auf die ebenfalls Blattgold aufgelegt war. Dann sah sie Enki schweigend zu. Er lächelte, während er seine Arbeit tat. Als die Heilbehandlung abgeschlossen war, ging er zur tagtäglichen Massage über. Eine Stimmung wohliger Entspanntheit und Zufriedenheit hüllte Moiria, Enki und Ina ein. Für eine Weile ging das so, da wurde plötzlich das Portal zu Moirias Gemach geöffnet. Bel-shalti-Nannar nahte. Die Goldblättchen klirrten und die Robe schien schwer zu sein. Sie beachtete Moiria und Enki gar nicht, sondern ging direkt auf Ina zu.
»Nun, mein Kind und was machen wir mit dir?« Ina sah überrascht auf. »Wollen wir dich einem Manne geben oder bilden wir dich auch zur Priesterin aus, wie deine Schwester Moiria?« fuhr Bel-shalti-Nannar fort. Ina blickte Bel-shalti-Nannar fragend an. »Nun, was möchtest du, sage es mir, jetzt kannst du dich noch entscheiden«, forderte Bel-shalti-Nannar Ina auf.
Ina hob unschlüssig die Schultern. »Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Wenn du dich nicht entscheidest, werde ich es bald für dich tun«, erwiderte Bel-shalti-Nannar, »also was willst du, sprich, Kind, noch hast du die Wahl!«
Ina war es sehr unbehaglich. »Das kann ich jetzt nicht sagen. Ich will mir das erst überlegen – außerdem, Priesterin möchte ich eigentlich nicht werden«, meinte sie.
»Warum nicht, mein Kind?« wollte Bel-shalti-Nannar wissen.
»Weil ich nicht Entu sein kann, denn Moiria wird es sein und ich wäre im Rang unter ihr. Nur eine untergeordnete Priesterin, das wäre mir zu wenig!«
Bel-shalti-Nannar sah Ina prüfend an und sagte: »Angenommen, du könntest nach mir die Hohepriesterin sein, würdest du es dann sein wollen?«
Ina fühlte sich erneut in die Enge getrieben. »Ach«, sagte sie, »ich weiß es noch nicht. Es wäre so viel Verantwortung. Ich will es mir noch überlegen.«
»Gut«, meinte Bel-shalti-Nannar, »überlege es dir! Doch viel Zeit lasse ich dir für deine Entscheidung nicht, weil es dann sowohl zu spät ist, dich einem Manne zu geben, als auch die lange Ausbildung zur Priesterin zu beginnen.« Dann rauschte Bel-shalti-Nannar, so schnell wie sie hereingekommen war, wieder hinaus.
Moiria sah Ina beunruhigt an. Mit Bel-shalti-Nannars Feststellungen war nicht zu spaßen. Ina sah ungerührt auf den Fußboden. Als Enki gegangen war, blieb Ina weiterhin, ohne einen Ton von sich zu geben, auf ihrem Platz sitzen.
Moiria fragte sie: »Hat Bel-shalti-Nannar schon einmal etwas in dieser Art zu dir gesagt?«
»Nein, ich weiß auch nicht, was das auf einmal soll.«
»Hast du Vater gestern gesehen, hat er irgendetwas davon angedeutet?«
»Ach, er war schon wieder hier, das wusste ich gar nicht.« Inas Stimme klang sehr gelangweilt.
Moiria brachte das auf. »Du hast also nicht mit ihm gesprochen?« rief sie ungläubig.
»Nein, du hast es doch gehört!«
»Ina, du musst eine Botschaft nach Uruk senden.«
»Ich wüsste nicht warum.«
»Du musst aber mit Vater sprechen. Er ist der einzige, der dir helfen kann, falls du nicht willst, was Bel-shalti-Nannar möchte.«
»Wozu, ich wüsste nicht, was wir uns zu sagen haben.«
Moiria war entsetzt. Ina war sich offensichtlich der Tragweite von Bel-shalti-Nannars Worten nicht bewusst.
»Wenn Bel-shalti-Nannar sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann lässt sie nicht davon ab. Weißt du das?«
»Ja.«
»Sie verlangt eine Entscheidung von dir!«
»Ja.«
»Weißt du dann wenigstens, was du willst, wenn du hier bleibst?«
»Nein.«
Moiria wurde immer ärgerlicher: »Dann wäre es das Beste für dich, wenn du nach Hause zurück gehst.«
»Nein, das möchte ich nicht.«
»Bel-shalti-Nannar verfügt dann aber über dich. Du kannst hier nicht sitzen und warten.«
Ina sagte gar nichts, sondern sah nur stumm gerade aus.
Moiria suchte nach weiteren Erläuterungen. Ina hatte schließlich nicht diese Erfahrungen mit Bel-shalti-Nannar. Also wollte sie ihr das noch einmal begreiflich machen. »Du weißt noch nicht, wie das ist mit Bel-shalti-Nannar, sie fühlt sich für alles verantwortlich. Je länger du hier bleibst, umso mehr glaubt sie sich für dich zuständig. Sie tut es ja bereits, wie du gehört hast!«
Ina sah Moiria mit abweisendem Gesichtsausdruck an. »Lass mich in Ruhe damit. Du verstehst es nicht, keiner kann es verstehen. Lass mich!«
Moiria gefiel das gar nicht. Sowohl Bel-shalti-Nannars plötzlicher Übergriff auf Inas Leben als auch Inas unbeeindruckte Haltung. Es war beängstigend, wie teilnahmslos sie Bel-shalti-Nannar mit ihrem Geschick umspringen lassen wollte. Moiria spürte, dass sie Ina aus dieser eigenartigen Laune herausholen musste. So durfte ihre Schwester nicht bleiben, denn das führte zu nichts, und schon gar nicht dazu, dass sie eine Entscheidung traf. Ina musste unbedingt aufgemuntert werden.
»Komm, lass uns in Bel-shalti-Nannars Empfangsraum gehen und schauen, wer heute alles da ist! Vielleicht sind neue Gesandte gekommen.« Moiria stand mit Schwung auf. »Ich meine, weil Bel-shalti-Nannar so plötzlich die Idee hat, dich zu verheiraten, obwohl du erst dreizehn bist.«
Jetzt lachte Ina. Moiria lachte auch, erleichtert. Ein prüfender Blick über ihr Äußeres, die Füße in die zierlichen Sandaletten, dann hakte sie ihre Schwester unter. Unter Gekicher und voll Unternehmungslust zogen sie los.
Als sie Bel-shalti-Nannars großen Empfangsraum erreichten, toste es bereits von Stimmenlärm. In der Luft war milchiges Dämmerlicht, gespeist von den vielen Öllampen und Rauchbecken. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen fielen vom großen Haupthof herein und beleuchteten die eine oder andere Szene. Der Thron war leer, aber sicher war Bel-shalti-Nannar irgendwo in der Nähe, ihre Gegenwart lag förmlich in der Luft.
Moiria nahm ihren erhöhten Platz auf der Estrade, auf der sich auch Bel-shalti-Nannars Thron befand, ein, und Ina setzte sich neben sie. Die Mädchen ließen ihre Blicke über die Menge schweifen. Die Dauergäste, die üblichen Gesichter, die Nutznießer, die Großsprecher und Wichtigmacher, sie waren alle da. Persönlichkeiten jedoch, wie Jesed oder Tamkaru, die Langeweile hätten vertreiben können, waren nicht vertreten.
Inas Miene begann sich wieder zu verdunkeln.
Moiria wies mit den Augen auf einen Mann mit einem außergewöhnlichen Turban: »Sieh mal, der. Was hältst du von ihm? Ob er eine Prinzessin für seinen Herrn sucht? Bel-shalti-Nannar will dich nach Indien verheiraten!«
Inas Miene erhellte sich nicht, sie gab auch keine Antwort auf Moirias Frage. Sie sagte nur: »Es macht keinen Spaß hier. Nichts Besonderes heute. Ich gehe wieder.«
Moiria kannte so etwas von Ina. So war es oft mit ihr, ganz eigenartig. Dabei hätten sie es doch zu zweit so lustig haben können. Sie versuchte nicht, Ina aufzuhalten, es hatte heute wohl wirklich keinen Sinn mit ihr. Morgen wollte sie mit ihr reden, vielleicht war sie dann zugänglicher.
Moiria war nun wieder allein mit sich. Es gab nicht nur Inas Sorgen, schließlich hatte sie selbst auch welche, erhebliche, die größten, die schlimmsten. Eine Lösung war zu finden, jetzt, da die Zeit schon verstrich, da ein halber Tag und eine Nacht und bereits fast wieder ein halber Tag seit Nebukadnezars Besuch vergangen war. Sie sah durch die Menschenmenge hindurch, während ihre Gedanken nach Uruk eilten. Was konnte Nebukadnezar unternehmen? Wie würde er weiter vorgehen? Konnte er einen Menschen finden, der eine Priesterin, Herrin, Göttin töten würde, und das vor aller Augen? Es musste jemand sein, der weder Abscheu davor hatte, eine Gotteslästerung zu begehen, noch Furcht davor, seine Tat sofort mit dem Leben zu bezahlen.
Falls es so einen Menschen überhaupt gab, wie wollte er in Bel-shalti-Nannars unmittelbare Nähe gelangen können? Je mehr Moiria überlegte, umso mehr kam sie zu dem Schluss, dass es nahezu unmöglich war. Bel-shalti-Nannar war nicht in Gefahr. Die Personen ihrer Umgebung waren sorgfältig ausgewählt und schon sehr lange bei ihr. Was also würde Nebukadnezar schon bewirken können? Er konnte nichts tun, gar nichts, und wenn, dann nicht viel. Es war nur eine Möglichkeit, eine winzig kleine Möglichkeit, die zu bedenken war. Moiria redete sich gut zu. Sie musste nur ruhig bleiben und sich genauso verhalten wie immer. Nebukadnezar konnte nichts tun und Bel-shalti-Nannar würde niemals merken, was er zu verlangen versucht hatte.
Das Leben im heiligen Bezirk war auch durch die Phasen des Mondes geprägt. Bel-shalti-Nannar achtete streng darauf, Reinigungsrituale in Zeiten des abnehmenden Mondes durchzuführen, ging es darum, die Gedanken und Herzen ihrer Priesterinnen und aller ihr Anvertrauten zu reinigen oder Gebäude und Gegenstände von anhaftenden unliebsamen Schwingungen zu befreien. Besonders geeignet waren dazu die Stunden kurz vor dem Neumond, wo die Sogwirkung am größten war und die guten Vorsätze dann sogleich, wenn der Mond wieder zunahm, in die Tat umgesetzt werden konnten.
In der Nacht des Vollmondes wurde eine besondere Zeremonie gefeiert. Mit Fackeln zogen die Priesterinnen durch den heiligen Bezirk. Bel-shalti-Nannar wurde auf einem sänftenartigen, schwindelerregend hohen Thron getragen. Dabei war sie in eine Robe gekleidet, in der sich das Licht des Vollmondes irisierend und schimmernd fing. Die hohe und ausladende Haube, die sie dabei krönte, stand dem Thron um nichts nach. In jeder Vollmondnacht vermählte sich Bel-shalti-Nannar aufs Neue mit Nannar, wenn sie unter den Gesängen der Priesterinnen die Zikkurat emporstieg, um sich in seinem Hochtempel mit ihm zu vereinigen. Die größeren Edelsteine ihres Gewandes und des Kopfputzes sandten stechende Lichtblitze aus, wenn sich das Licht der Fackeln oder des großen Feuers, das entzündet worden war, darin brach.
Moiria durfte bereits als kleines Mädchen an diesem Fest teilnehmen. Wenn Bel-shalti-Nannar es auch mit der Zeit des Zubettgehens bei ihrem Adoptivkind sehr genau nahm, so bildete die Nacht des Vollmondes doch eine Ausnahme, und dementsprechend aufgeregt war Moiria jedes Mal.
Es schien, als ob Bel-shalti-Nannar entrückt sei, doch ihre Achtsamkeit war hellwach und ihre spirituellen Fähigkeiten ausgeprägter als sonst. Es war dann nicht notwendig, dass sie einen ihrer Kristalle nahm, sie wusste auch so. Die Priesterinnen mussten ihre Gedanken besonders gut in Zaum halten, denn es geschah nicht selten, dass die eine oder andere wegen flatterhafter Gedanken gerügt wurde. Wie sehr erschraken besonders die jungen Priesterinnen, wenn Bel-shalti-Nannar ihnen am nächsten Tag, wenn sie zu einer Art Beichte antreten mussten, auf den Kopf zu sagte welche Gedanken sie während des Vollmondes gehabt hatten. Glaubten sie doch, dass wenigstens in dieser Nacht Träume erlaubt seien oder Bel-shalti-Nannar zumindest diese nicht bemerken würde. Besonders Philomena, die nach wie vor große Schwierigkeiten hatte, sich mit dem Zölibat abzufinden, bekam dies zu spüren. Ihre erotischen Phantasien, die sie in den Vollmondnächten an Männer aus Fleisch und Blut denken ließen, nachdem Nannar nicht zu ihr herabstieg, wurden von Bel-shalti-Nannar an Ort und Stelle mit einem Seitenblick und emporgezogener Braue geahndet. Am nächsten Morgen hatte Philomena dann zum Rapport anzutreten. Als Buße hatte Bel-shalti-Nannar sie schon einmal während eines gesamten Mondzyklus einmauern lassen.
Wenn Moiria es wollte, dann konnte sie sich schon konzentrieren und besonders während der Vollmondnächte tat sie es, denn die Bußen die auferlegt wurden, waren doch zu abschreckend. Zum Zeitpunkt des Neumondes fanden sich ebenfalls alle Priesterinnen zu einem schweigenden Ritual im Tempel der Ningal ein. Absolute Stille hatte zu herrschen. Bel-shalti-Nannar verlangte von ihren Zöglingen genau die Qualität der Energien, des abnehmenden und des zunehmenden Mondes und des exakten Augenblicks des Wechsels zu erspüren.
Wehe eine der Priesterinnen menstruierte nicht zum Neumond, sondern vielleicht gar zum Vollmond oder überhaupt nicht. Sie musste sich dann einem aufwendigen Reinigungsprozess unterziehen, der ihr Innerstes nach außen und ihr Oberstes zuunterst kehrte, bis sie wieder im Einklang stand mit den Zyklen des Mondes.
War gar eine der Priesterinnen schwanger, dann wurde sie ohne Gnade aus dem Orden verstoßen. Um jedoch das ungeborene Kind zu schützen, ließ Bel-shalti-Nannar insofern Barmherzigkeit walten, als sie das Mädchen, welches gefehlt hatte, bis zur Geburt bei einer zuverlässigen Familie in Ur unterbrachte. Dann erst wurde sie davongejagt. Das Kind blieb unter Bel-shalti-Nannars Obhut und wurde je nach Eignung und Geschlecht als Priesterin, Weberin, Küchenmagd, Schreiber, Handwerker, Viehhirte oder Soldat für die Garde ausgebildet.
Sanaa, das war auch ein Name, der Moirias Träume entfachte. Sanaa, das war die Stadt, aus der Jesed kam. Bel-shalti-Nannar hatte ihre Nachforschungen angestellt, als Jesed zum ersten Mal zu Gast in ihrem Palast war. So war es ihre Gewohnheit. Über jede Person, die in ihre Nähe kam, verschaffte sie sich alle Informationen, derer sie habhaft werden konnte.
Jesed war bekannt in Sanaa, das war richtig, er hatte auch ein Anwesen dort und hielt sich ab und zu da auf. Aber geboren war er nicht in Sanaa. Das war die Auskunft, die Bel-shalti-Nannar erhielt. Eine unbefriedigende, ungenaue Angabe, mit der sie nichts anfangen konnte. Dafür bezahlte sie den Informanten nicht. Denn Jesed selbst hatte ihr das auch gesagt, bis auf die Tatsache, dass er nicht aus Sanaa stammte. Er hatte lediglich den Eindruck erweckt, dass er da geboren sei. Eine Angelegenheit, der es nachzuspüren galt.
Wieder verging viel Zeit, bis Bel-shalti-Nannar von einer ihrer Kontaktpersonen näheres in Erfahrung bringen konnte. Diesmal war die Information etwas umfassender. Jesed, hieß es, weitere Namen waren nicht bekannt, sei eines Tages in Sanaa, in dem ihn bis zu diesem Tag keiner kannte, erschienen. Er habe Gold bei sich gehabt und davon das Anwesen gekauft. Nun, die Angaben waren zwar jetzt genauer, aber für Bel-shalti-Nannar warf das nur neue Fragen auf. Woher hatte er das Gold, welcher Abstammung war er, woher kam er und was war sein Tun?
In ihrem Palast war er eingeführt worden als Abenteurer und Mann von Bildung zugleich. Zuverlässige, voneinander unabhängige Quellen wussten Bel-shalti-Nannar zu berichten, dass Jesed es fertigbrachte, jede Situation zu meistern und dass er von einer außerordentlichen Ortskundigkeit war. Auf der arabischen Halbinsel und allen angrenzenden und benachbarten Gebieten schien er jeden Reiseweg und jeden Hinterhalt zu kennen. Er konnte sich in widrigen, aussichtslosen Lagen durchsetzen und überleben. Dabei half ihm ein sicheres Gespür für die Gunst oder die Brenzligkeit einer Gegebenheit, wie es oft Gassenkindern zu eigen ist.
Aber ein Gassenjunge war er nicht, dazu war seine Sprache zu gewählt und zu beredsam. Und ein Sohn der Wüste war er auch nicht, wie die weiten, weißen, arabischen Gewänder, in die er mit Vorliebe gehüllt war, und der Krummdolch, den er stets bei sich trug, glauben machen wollten. Der Mann mit der hohen – und nach manchem Abenteuer oft hageren – Gestalt und den stechend blauen Augen musste ein anderer sein als der, für den er sich ausgab. Seine Fähigkeiten machten ihn für die verschiedensten Personenkreise hochbegehrt und hochbezahlt. Jesed führte militärische Spezialaufträge als Berater und Führer von Truppen aus. Er kannte die Wüste und konnte sowohl völlig auf sich allein gestellt handeln als auch größeren Verbänden befehligen.
Bel-shalti-Nannar musste herausfinden, wer Jesed wirklich war. Denn die Gewänder, in die er sich kleidete, die sollten verbergen, vernebeln. Dieser Eindruck – und es war der erste, den sie von ihm bekam – hatte sie auf eine Spur führen wollen. Wenn sie alles über ihn wüsste und seiner sicher sein konnte, dann wäre er eine Person, die außerhalb von Ur besondere Aufträge für sie ausführen konnte.
Ihre üblichen Informationsquellen begannen sich zu erschöpfen. Wohl erfuhr sie noch diese oder jene Einzelheit über die Unternehmen, die Jesed schon ausgeführt hatte, aber über seine Herkunft hörte sie nichts. Wenn sie all ihr Wissen über ihn zusammenfasste, dann ergab sich das Bild eines Mannes, mit dem die Zusammenarbeit zwar sehr reizvoll, aber nicht ohne Gefahr war. Er war schon in so vielen Häusern ein- und ausgegangen und war an so vielen Orten der Entscheidung und der Macht gesehen worden, dass sie ihm nicht ohne weiteres vertrauen konnte. Sie musste durchaus damit rechnen, dass er sein Wissen auch an die Gegenseite verkaufte. Solange sie nicht die wirklichen Beweggründe dieses Mannes kannte, aus denen heraus er handelte, wollte sie sehr vorsichtig sein.
Bel-shalti-Nannar beschloss, Jesed selbst zu fragen, und sie würde es ganz harmlos anfangen, damit er nicht merkte, worauf es ihr ankam. Eines Abends, während eines Festgelages in ihrem Palast, bat sie ihn, doch etwas über die Erlebnisse zu erzählen, die ein Kind hat, wenn es in der Wüste aufwächst. Und Jesed tat das und schilderte sehr anschaulich, bis die Zuhörer die Dünen mitten in Ur vor sich zu sehen glaubten.
Bel-shalti-Nannar hörte sich das eine Weile an und als sie feststellte, dass sie so nicht weiter kam, fragte sie ihn, ob er denn auch Abenteuer zusammen mit seinem Vater erlebt habe. In Jeseds Augen blitzte es etwas. Für Bel-shalti-Nannar war das Anlass, sich noch mehr zu konzentrieren. Vielleicht war jetzt etwas herauszuhören. Jesed erzählte, dass er gar nicht wisse, wer seine Eltern seien. Als Säugling sei er in einer Oase ausgesetzt worden, wo ihn ein Beduinenstamm gefunden habe, als er schon am Verdursten war.
›Und von den einfachen Beduinen hast du wohl auch deinen umfangreichen Wortschatz, die Kenntnis mehrerer Sprachen und deine Beredsamkeit gelernt‹, dachte Bel-shalti-Nannar, während sie mit gerührter Miene sagte: »Ach, ist das eine zu Herzen gehende Geschichte.«
Jesed berichtete weiter, wie ihn ein alter Beduine an Kindes Statt angenommen und aufgezogen habe. So sei die Wüste sein Zuhause und sein Lehrmeister geworden. Was Jesed erzählte, klang sehr überzeugend, und es gab keinen vernünftigen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Aber für Bel-shalti-Nannar war die Angelegenheit klar: er verbarg etwas im Zusammenhang mit seiner Herkunft.
Weiter nach der Vergangenheit eines Jesed zu forschen würde zwecklos sein, denn sie war nun sicher, dass er den Namen angenommen hatte und sehr wohl wusste, wer seine Eltern waren. Alle Informationen, die sie bisher über Jesed bekommen hatte, lagen nach der Zeit, zu der er das erste Mal in Sanaa aufgetaucht war. Vorher schien es diesen Jesed nicht gegeben zu haben. Irgendwann im Leben dieses Mannes hatte es einen Grund gegeben, eine neue Identität anzunehmen. Und dieser Grund musste ein dunkler sein. Warum sonst verschleierte er seine Herkunft und seine Familie, die demzufolge auch nicht in der Wüste ihr Zuhause haben konnte, sondern eher fernab von dieser zu suchen war?
Bel-shalti-Nannar vermutete eine Adels- oder Kaufmannsfamilie. Jetzt würde ihr nur derjenige weiterhelfen können, der in diesen Kreisen am besten Bescheid wusste. Sie beschloss, Tamkaru zu Rate zu ziehen. Sobald er von seiner nächsten Handelsreise zurückgekehrt war, sich zur gewohnten Besprechung eingefunden hatte und sie die gemeinsamen Geschäfte abgerechnet hatten, fragte sie ihn, ob er schon einmal darüber nachgedacht habe, ob Jesed ein anderer sein könne als der, für den er sich ausgab.
Tamkaru sah sie erstaunt an und antwortete: »Hast du Anlass zu einem Verdacht? Jesed ist ein Sohn der Wüste, er kennt sie wie ein Zuhause, warum sollte er ein anderer sein als der, der er ist?«
»Das stimmt, er kennt die Wüste außerordentlich gut, aber ich glaube, dass er ursprünglich ein anderer war«, sagte Bel-shalti-Nannar und erzählte ihm ihre Vermutungen und wie sie dazu gekommen war.
Tamkaru nickte beipflichtend und entzückt über jeden ihrer folgerichtigen Schlüsse. Ihr Spürsinn und ihr angeborenes Geschick, Verborgenes zu entlarven, suchte seinesgleichen. »Zuzutrauen wäre es Jesed, dass er in Wirklichkeit ein anderer ist. Warum nur ist bisher niemand darauf gekommen?«
»Weil noch niemand darüber nachgedacht hat«, lächelte Bel-shalti-Nannar, »ich bin eben noch misstrauischer als andere, wenn mir das Misstrauen nicht gegeben wäre, dann säße ich heute nicht hier. In dieser Hinsicht hat Moiria noch viel zu lernen. – Doch nun lass uns gemeinsam überlegen, wann das Ereignis gewesen sein könnte, das zu unserer Geschichte passt. Ich schätze, wir haben zu suchen, einige Jahre, vielleicht drei bis fünf, bevor Jesed sozusagen aus dem Nichts nach Sanaa gekommen war.«
»Diese Zeit könnte ihm ausgereicht haben, um sich Kenntnisse über die Wüste und Stammesgebräuche anzueignen«, stimmte Tamkaru zu.
»Über den Zeitraum sind wir uns also einig«, meinte Bel-shalti-Nannar, »jetzt brauchen wir nur noch der Reihe nach die großen Städte und Handelsplätze durchzugehen und haben uns dabei vorzustellen den fünfzehn- bis zwanzig-, sagen wir einmal siebzehnjährigen, Sohn einer hoch angesehenen Familie.«
»Keiner arabischen Familie natürlich«, warf Tamkaru ein, »sonst hätte er sich keine arabische Identität zugelegt.«
»Ganz recht, du nimmst es mir aus dem Munde, aus einer arabischen Familie kommt er nicht. Deshalb können wir die Stadt Teima schon vernachlässigen.«
»Aus der Persis oder weiter östlich kann er auch nicht sein, dazu ist er nicht dunkel genug«, meinte Tamkaru.
»Vielleicht«, so gab Bel-shalti-Nannar dazu, »sollten wir in Ägypten suchen.«
»Ägypten, das könnte sein, blaue Augen sind dort zwar auch selten, aber es gibt sie. Obwohl, so ganz gefällt es mir nicht. Palästina, was hältst du davon?«
»Nein, nein, auf gar keinen Fall. Ich stelle mir eher vor, Phönizien, oder wie wäre es mit Assyrien?«
»Assyrien sagst du, Assyrien ... Harran, da war doch etwas, in der Stadt Harran ...« Tamkaru konnte es selbst kaum glauben, so vollendet passte die Begebenheit, die ihm soeben in den Sinn kam, zu Bel-shalti-Nannars Vermutung.
»Nun erzähl schon!« Bel-shalti-Nannar begann ungeduldig zu werden.«
»Also«, begann Tamkaru, »Jesed muss aus Harran sein, in Harran treffen sich die großen Karawanenstraßen ...«
»Ich will nichts über Harran wissen«, unterbrach sie ihn, »meine Großmutter hat schließlich dort gelebt. Also was war nun?«
»In einer sehr reichen und angesehenen Kaufmannsfamilie in Harran wurde in der fraglichen Zeit ein Sohn verstoßen.«
»Aha«, sagte Bel-shalti-Nannar, »nun sieh mal einer an, da haben wir es ja schon!«
»Dieser Sohn, der genau das Alter hatte, in dem Jesed damals gewesen sein muss, führte bereits selbständig Unternehmungen seines Vaters. Da er außergewöhnlich geschäftstüchtig war und eine hervorragende Nase für ertragreiche Handelsquellen hatte, ließ ihm sein Vater schon in jungen Jahren freie Hand.«
»Das ist er!« Bel-shalti-Nannar schlug in die Hände, »besser könnte es nicht passen!«
»Es geht noch weiter«, rief Tamkaru, »eines Tages verkaufte der junge Mann minderwertige Waren zu überhöhten Preisen. Als die Sache bekannt wurde, geriet der gute Ruf der Familie ins Gerede. Die Ehre des Handelshauses konnte nur dadurch wiederhergestellt werden, dass dieser Sohn zeitlebens verstoßen wurde. Die Familie musste sich von ihm lossagen. Es hieß, er habe damals über Nacht Harran verlassen, seitdem hat man nie wieder etwas von diesem jungen Mann gehört.«
»Aber von Jesed«, sagte Bel-shalti-Nannar, »wie er sich nannte, nachdem er sich in arabische Gewänder gehüllt und mit einem Krummdolch umgürtet hatte.«
»Er könnte es sein«, meinte Tamkaru, »aber beweisen können wir es ihm nicht, er müsste es selbst zugeben.«
»Das wird er nicht tun, dazu lügt er viel zu geschickt«, erwiderte Bel-shalti-Nannar, »selbst wenn ich es ihm auf den Kopf zusage, wird ihm etwas Schlagfertiges einfallen. – Aber, mein Freund, braucht er es denn zuzugeben, wir werden unser Wissen doch ganz allein für uns behalten, nicht wahr?«
»So ist es. Wir werden darüber schweigen.«
»Genau«, pflichtete Bel-shalti-Nannar bei, »bis wir unser Wissen einmal nutzen können.« Bel-shalti-Nannar war es zufrieden. Ihr unnachgiebiges Forschen hatte sich gelohnt. Wie recht sie doch wieder einmal gehabt hatte!
Jesed, das war die neue Identität eines Mannes, der einmal alles in seinem Leben zunichte gemacht hatte und dem viele Werte gleich geworden waren. Manches tat er deshalb, mit dem andere sich nicht die Finger schmutzig machen wollten, und er tat es, um reich zu werden. Mit Reichtum wollte er fernab von seiner Heimat wieder Ansehen gewinnen.
Das war es. Reichtum und Ansehen um jeden Preis. Danach handelte Jesed. Damit konnte sie ihn locken. Nun wusste sie, womit er zu fassen war.
Moiria saß noch in Bel-shalti-Nannars großem Empfangsraum, als diese erschien. Reglos und in Gedanken war Moiria und sie nahm das Leben nicht wahr, welches um sie herum brandete. Die Empfangshalle geriet in größeren Aufruhr. Moiria bemerkte es nicht. Erst als Bel-shalti-Nannar vor ihr stand, erwachte sie aus ihren Gedanken.
»Nun, mein Kind, und was gedenkst du heute zu tun?«
Moiria zuckte zusammen. Bel-shalti-Nannar hatte Moiria wieder einmal erwischt und genoss es offensichtlich. Zu allem Überfluss wurde Bel-shalti-Nannar auch noch von Philomena, ihrer Lieblingspriesterin begleitet. Die beiden schienen heute wieder einmal sehr einer Meinung zu sein und tauschten einen vielsagenden Blick. Ganz so, als ob sie sich soeben über Moiria beraten hätten und nun wie zum Hohn ihre Meinung, in der sie sich offensichtlich gegenseitig bestärkt hatten, bestätigt fanden.
Philomena war Bel-shalti-Nannars Stellvertreterin im heiligen Bezirk und tat und dachte alles nur in Bel-shalti-Nannars Sinne. Moiria wusste nur zu gut, dass Bel-shalti-Nannar in Philomena eher die ideale Nachfolgerin für sich gesehen hätte – und Philomena wusste das auch. Sie wurde Moiria ständig als Beispiel vorgehalten. Dabei fand Moiria, dass Philomena keine eigene Meinung hatte. Die Worte, die aus Bel-shalti-Nannars Munde kamen, die waren für sie der reine unverfälschte Wille Ningals und Nannars, der dementsprechend befolgt werden musste, ohne im leisesten angezweifelt zu werden.
Bel-shalti-Nannar gefiel das natürlich. Moiria mochte Philomena durchaus, und vielleicht hätten sie sogar Freundinnen werden können, wenn sie nur nicht so sehr Bel-shalti-Nannar nach dem Mund geredet hätte. Als Moiria einmal vor Bel-shalti-Nannar erwähnte, dass Philomena keine eigene Meinung habe, hatte Bel-shalti-Nannar geantwortet:
»Die braucht sie auch nicht zu haben, mein Kind, denn sie lebt den höheren Willen!«
Nun wusste Moiria es wieder ein Mal.
»Und da du sie gerade erwähnst«, fuhr Bel-shalti-Nannar fort, »du könntest eine ganze Menge von ihr lernen, zum Beispiel Bescheidenheit.«
Moiria ärgerte sich. Statt recht zu bekommen war sie zurechtgewiesen worden. Warum hatte sie auch so dumm sein müssen, etwas über Philomena zu sagen. Bel-shalti-Nannar war taub auf diesem Ohr.
Warum merkte sie, der doch sonst nichts entging, eigentlich nicht, wie oft Philomena und Sin-Asarid, einer der Verwaltungsbeamten, die gegenseitige Nähe suchten. Moiria hatte die beiden einmal im heiligen Bezirk in einer leidenschaftlichen, eindeutigen Umarmung überrascht und Philomena darum beneidet. Nicht dass Sin-Asarid, der ein hübscher junger Mann war, ihr auch gefallen hätte, aber ihr war in diesem Augenblick schmerzlich bewusst geworden, dass sie nie Liebe und Leidenschaft erfahren und niemals wissen würde, wie die Hände eines Mannes sich auf ihrem Körper anfühlten, außer den Händen Enkis, der kein richtiger Mann war.
Moiria hatte alle gehasst, die von ihr dieses keusche Leben forderten, Bel-shalti-Nannar, Nannar selbst, Nebukadnezar und ihre leibliche Mutter, die sie hergegeben hatte. Alle erlebten Leidenschaft, alle, die Dienerinnen, selbst die Priesterinnen, und sogar Bel-shalti-Nannar selbst sollte in ihrer Jugend einen Liebhaber gehabt haben. Nur sie sollte nie Liebe erleben. Und bei ihr nahm Bel-shalti-Nannar es wie immer besonders genau, übergenau. Nicht die winzigste Freude gönnte sie ihr in dieser Hinsicht. Jedes Mal wenn Jeseds Hand ihre Wange berühren wollte, musste Bel-shalti-Nannar aufgebracht dazukommen.
Wie wollte Bel-shalti-Nannar den höheren Willen, den Philomena angeblich lebte, mit Sin-Asarid vereinen, oder wie wollte gar Philomena selbst das tun?
Als Bel-shalti-Nannar und Philomena jetzt vor ihr standen, glaubte Moiria, so etwas wie ein feines Leid in Philomenas Gesicht zu erkennen, und sie empfand auf einmal Mitgefühl für dieses Mädchen. Da merkte sie, dass sie bereits wieder ihren Gedanken nachging und Bel-shalti-Nannar eine Antwort erwartete. An ihrem Blick war zu sehen, dass sie mit nichts Erbaulichem rechnete, sondern eher mit einer neuerlichen Ausrede.
»Nun sprich, mein Kind, sage mir, was du dazu sagen möchtest!« ließ sie sich vernehmen.
Was weißt du denn schon von mir, außer dem was dir an mir missfällt, was weißt du denn wirklich von mir, wollte Moiria sagen, aber sie schwieg wie immer.
»Ich bin ganz Ohr!« Spöttisch spitz war Bel-shalti-Nannars Stimme.
Am liebsten wollte Moiria überhaupt nichts sagen. Zumindest solange Philomena noch da war.
»Oder möchtest du nicht mit mir sprechen?« fragte Bel-shalti-Nannar jetzt.
Moiria war es leid, so unendlich leid. Alles war sie leid, das Ertapptwerden, die Ausreden, die sie dann gebrauchte, ihre Traurigkeit und ihre Unfähigkeit, etwas daran zu ändern.
Als Philomena, die feinfühlig genug war, sich entfernte, sagte Moiria: »Eigentlich wollte ich heute zu Amiris gehen, um von ihr zu lernen.«
»So«, sagte Bel-shalti-Nannar gedehnt »hast du denn schon etwas von ihr gelernt?«
»Nein, es sollte heute das erste Mal sein.«
Bel-shalti-Nannar ließ sich die Worte richtig auf der Zunge zergehen. »Weiß Amiris denn schon davon, dass du deine Ausbildung bei ihr jetzt wirklich beginnen willst?«
Moiria hasste Bel-shalti-Nannar dafür, während sie sich um einen gleichmäßigen Tonfall bemühte. »Nein, noch nicht, ich wollte jetzt gerade mit ihr darüber sprechen.«
»Aha«, sagte Bel-shalti-Nannar, »nun denn.«
Dann drehte sie sich um und ging. Moiria hatte sehr wohl verstanden, was Bel-shalti-Nannars beleidigtes »Aha« bedeutete. Bel-shalti-Nannar war gekränkt und glaubte ihr nicht. Mit gutem Grund, das gab Moiria jetzt vor sich zu. So oft schon hatte sie Bel-shalti-Nannar versprochen, ihre Ausbildung bei Amiris zu beginnen. Sie hatte auch heute nicht wirklich zum Üben zu ihr gehen wollen, höchstens zu einem Besuch, wie sie es manchmal tat.
Da sie es aber nun einmal gesagt hatte, wollte sie ihr Wort halten. Bel-shalti-Nannar hatte sehr verletzt ausgesehen. Moiria kam sich schlecht vor, ihr wehgetan zu haben. Bel-shalti-Nannar meinte es ja nur gut, wenn ihre Wünsche auch immer gar zu aufdringlich und nachdrücklich waren. Ich will zu Amiris gehen, so sagte sie sich, ich will wirklich von ihr lernen, Bel-shalti-Nannar zuliebe.
Es war seit langem schon Bel-shalti-Nannars ausdrücklicher Wunsch, dass Moiria sich Amiris Können erwerbe. Oft schon hatte sie zu Moiria gesagt: »Geh zu Amiris, mein Kind, lerne von ihr, lasse dich von ihr in die Mysterien des Hafentempels einweihen. Lerne solange du jung bist. Hole dir auch ihr Wissen, dann wirst du eines Tages die ganze Macht haben.«
Amiris war die Priesterin des zum Palast gehörenden Hafentempels, dem Haustempel des Palastes. Aber Amiris unterstand Bel-shalti-Nannar nicht. Sie hatte Eigenständigkeit und etwas, auf das Bel-shalti-Nannar keinen Einfluss hatte. Etwas, das sie hinnehmen musste und auf das sie angewiesen war. Amiris sagte die Zeitpunkte voraus, zu denen der Euphrat über die Ufer trat und das Land überschwemmte, sowie die Orte, an denen sich der Flusslauf oder seine Seitenarme einen neuen Weg suchen würden.
Die Überschwemmungen waren lebensnotwendig für das Land, aber sie kamen nicht in regelmäßigen Abständen und waren unberechenbar. Mit großer Dankbarkeit und Ehrfurcht nahm daher die Bevölkerung Urs das Orakel von Amiris auf, das sich immer als zuverlässig erwiesen hatte. Die Tage, an denen Amiris ihre Vorhersagen kundtat, waren Festtage. Die Organisation des Ereignisses oblag Bel-shalti-Nannars Palastverwaltung und auch die öffentliche Verkündung der Einzelheiten, die das Orakel hatte erkennen lassen. An der Befragung selbst nahm die breite Bevölkerung Urs nicht teil. Bel-shalti-Nannar selbst, Moiria, die Ehrengäste des Palastes, höhergestellte Bürger aus Ur, mehrere Schreiber, die Spitze der Palastverwaltung und die Verantwortlichen der Tempelländereien waren zugegen.
Bel-shalti-Nannar hätte es gefallen, wenn sie selbst auch diese Voraussagen hätte geben können. Aber es war schwierig und auch nicht ganz ungefährlich, Zugang zu der Gottheit zu erhalten, von der Amiris ihre Eingebungen erhielt, ohne vorher von Amiris oder einer anderen Person, die dieser Gottheit diente, eingeweiht worden zu sein. Aber Bel-shalti-Nannar wollte sich dennoch daran wagen. Sie war mit Magie vertraut und hatte allein schon weit Größeres unternommen.
Amiris gab die Botschaften, die sie in Trance erhielt, durch einen Tanz wieder. Bel-shalti-Nannar wollte nun versuchen, ob auch sie die Eingebungen, die Amiris leiteten, empfangen und umsetzen konnte. Sie hatte vor, im Stillen zu üben und ihre Arbeit insgeheim mit der von Amiris zu vergleichen. Erst wenn sie sicher sein konnte, dass sie genauso gut wie Amiris war, oder vielleicht sogar besser, wenn Amiris einmal einen Fehler machen sollte, dann wollte Bel-shalti-Nannar ihre Aussagen der Öffentlichkeit kundtun.
So versuchte sie es also. Sie zog sich in einen Raum ihrer Gemächer zurück, den nur sie allein betrat und zu dem sonst niemand Zugang hatte. Sie versetzte sich in Trance und suchte Verbindung aufzunehmen mit der Gottheit, von der Amiris ihre Eingebungen erhielt. Jedoch Bel-shalti-Nannar vernahm nichts, nichts was den Fluss und damit zusammenhängende Überschwemmungen hätte betreffen können. Bel-shalti-Nannar öffnete sich noch weiter und wartete.
Traumlandschaften taten sich auf vor ihrem inneren Auge. Flüsse und Seen sah Bel-shalti-Nannar. In diesen spiegelten sich die Gesichter von Menschen, Menschen, die sie kannte und Gesichter von Menschen, die sie niemals zuvor gesehen hatte, Bilder ohne Belang. Zu den Gesichtern gehörten auch Körper. Sie kamen empor und stiegen herauf. Dann auf einmal, ohne Vorwarnung, veränderten sich die Gesichter. Sie verzerrten sich und wurden zu Fratzen, die auf sie zukamen. Riesenhaft wurden sie. Einen Hauch nur mehr waren sie von ihr entfernt.
Dank ihrer großen Erfahrung wusste Bel-shalti-Nannar, wie sie damit umzugehen hatte. Sie schenkte den Fratzen keinerlei Aufmerksamkeit mehr, sondern lenkte ihre Wahrnehmung auf ihre eigene innere Mitte. Die Fratzen tobten noch eine Weile um sie herum und versuchten sie, aber es gelang ihnen nicht. Bel-shalti-Nannar war unangreifbar, sie ruhte fest und sicher in sich selbst.
Ihr erster Anlauf war fehlgeschlagen, doch sie ließ sich nicht entmutigen. So etwas konnte vorkommen. Sie hatte sich sehr weit öffnen müssen, da sie ohne genaue Anhaltspunkte beginnen musste. Dabei war wohl einiges Gesindel der jenseitigen Welt angelockt worden. Sie wollte es noch einmal wagen.
Nach erneuter sorgfältiger Vorbereitung und Anrufung mehrerer Schutzgeister begann sie. Sie wollte über den Fluss selbst einen Zugang bekommen. Ruhig und friedlich war das Bild, das sich nun vor ihr ausbreitete. Wasser war da. Nichts als Wasser, das Meer. In vollendeter Schönheit schwangen seine Wellen auf und ab. Dieses Meer war stark, stärker als alles andere konnte es sein und zugleich auch von Nachgiebigkeit. Bel-shalti-Nannar genoss die Wogen dieses Ozeans und schwelgte in seiner Vollkommenheit.
Plötzlich bildete sich auf der Oberfläche des Meeres ein feiner Strudel. Bel-shalti-Nannar betrachtete ihn aufmerksam. So klein er war, drehte er sich doch eilig. Schnell wurde er größer, und die Wasser flossen zu ihm hin, sachte erst, dann immer flinker. Ein Trichter war er, der sich rasend drehte. Alle Fluten um ihn herum strömten in ihn hinein und er weitete sich. Ein sich drehender schwarzer Abgrund war er jetzt, der sich mit jeder Umdrehung weiter auftat. Bel-shalti-Nannar erschrak. Sie musste schleunigst heraus. Doch ehe Bel-shalti-Nannar ihre Aufmerksamkeit abziehen konnte, hatte der Mahlstrom sie schon erfasst. Mit einer Kraft, die die ihre um ein Gewaltiges überstieg, riss er sie in seinen Schlund. Der Sog in den Abgrund zog zugleich an ihrer Energie. Tiefer ging es hinunter und das Licht war nur noch ein Schimmer am obersten Rand des Mahlstroms. Bel-shalti-Nannars Kraft war am Verlöschen. Bevor der letzte Funke des Lichtes weit über ihr verschwand, rief sie mit einem inneren Aufschrei die Göttin an.
Sowie Bel-shalti-Nannar in höchster Not den Namen der Göttin ausgerufen hatte, streckten sich strahlend weiße Hände aus Licht hinab in das schwarze Loch des Mahlstroms und hoben sie empor. Bel-shalti-Nannar war gerade noch zurückgekehrt. Sie war so gut wie auf der anderen Seite gewesen. Es war knapp gewesen, so knapp wie noch nie. Sie fühlte sich leer, ausgesaugt und zu Tode erschöpft. Ningal, die Göttin, hatte sie errettet.
Langsam kam ihre Energie wieder, doch es brauchte Stunden, bis sie in der Lage war, sich überhaupt zu bewegen. Licht liebkoste Bel-shalti-Nannar und nährte sie, bis sie sich stark genug fühlte, sich zu erheben. In ihr war die Stimme der Göttin, die ihr sagte, dass ihr noch einmal nicht geholfen werde, dass sie an einem Wendepunkt stehe, an dem sie die Wahl habe, zurück zum Licht zu gehen oder noch tiefer in den Abgrund hinunter. Wenn sie den Weg ins Dunkel weitergehen wolle, dann solle sie wissen, dass es mitten auf diesem Weg keine Umkehr mehr geben würde. Sie werde ihn gehen müssen bis zu seinem äußersten Ende. Erst wenn sie am entferntesten Punkt angekommen sei, führe der Weg wieder zurück.
Lange blieb Bel-shalti-Nannar noch in ihrem Gemach und dankte der Göttin. Welch eine Warnung war ihr da aufgezeigt worden! Der Grat, auf dem sie ging, er war so schmal!