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3 Hairway to Steven
ОглавлениеWie erwähnt, bin ich von Beruf Krankenschwester. Weil ich zu blöd zum Medizinstudium war, sagen meine Eltern (sie verwenden natürlich andere Adjektive als „blöd“. Eher so etwas wie „rebellisch“, „aufsässig“, „unkonzentriert“). Weil ich auf einkommensstarke Männer in weißen Kitteln stehe, sagen meine Freundinnen.
Weil ich gerne direkt mit Menschen zu tun habe, sage ich. Menschen, denen man mit kleinen Nettigkeiten große Erleichterungen verschaffen kann. Die ein bisschen mehr Glück in ihrem Leben gut brauchen können. So einer einsamen, eingeschüchterten Oma mit Oberschenkelhalsbruch bedeutet ein Lächeln von mir einen weiteren guten Tag, und ein Kind mit Hüftdysplasie muss vielleicht die ganze Nacht nicht weinen, wenn ich ihm den nass geschwitzten Rücken unter dem Plastikkorsett mit Baktolan aktiv einreibe.
Es ist natürlich nicht immer so einfach. Es gibt nicht nur nette Omas, glückliche Kinder und heiratswütige Scheichmütter, sondern leider auch die grimmigen Alkoholiker-Frührentner, die sich im Suff zum vierten Mal den Knöchel gebrochen haben. Es gibt Frauen mit 250 kg, die vor lauter Fett und kaputten Knien nicht mehr laufen können und es dann an mir auslassen.
Im Großen und Ganzen habe ich aber echt Glück mit meiner Arbeitsstelle. Ich habe mich gezielt bei einer rein orthopädischen Klinik beworben, wo das Allerschlimmste eine unheilbare Querschnittslähmung ist. Klar, das wünscht man sich auch nicht. Wir sind auch noch spezialisiert auf die kniffligen Fälle, wo die Leute froh sind, wenn hinterher unterhalb des Knies noch ein Stück Bein dran ist. Aber trotzdem, das richtige Elend findet sich bei uns selten. Eine Krebsklinik oder Palliativstation ist da eine ganz andere Nummer. Das könnte ich nicht.
Auch unter Orthopädie-Patienten gibt es natürlich Arschlöcher. Oder, um es etwas netter zu sagen, Patienten mit zeitlich-pflegerischem Mehraufwand. Besonders oft wird man von neuen Knien oder Hüftgelenken über 40 angemacht, die sich ihre Männlichkeit beweisen müssen. Nach dem Motto: Ich hab zwar eine neue Hüfte, aber darüber funktioniert’s noch wie bei einem jungen Hengst. Oder: Statt Joggen muss ich mich jetzt halt auf Pimpern beschränken. Alles schon gehört.
Der Typ „geiler Opa“ ist auch weiter verbreitet, als ich es zu Beginn meiner Ausbildung je gedacht hätte. Die Tatsache, von der Schwester mal die Bettpfanne gereicht bekommen zu haben, scheint für viele einen Freifahrtschein zu sämtlichen anderen Intimitäten darzustellen. Dass man hin und wieder einen Patienten beim Onanieren erwischt – geschenkt. Wo sollen sie auch hin mit ihren Trieben, Nächte im Krankenhaus sind lang. Dass man manchmal nachts um halb drei in ein Einzelzimmer geklingelt wird, um stolz eine Latte präsentiert zu bekommen – okay. Da lache ich drüber und geh wieder raus. Den Kerlen ist das am nächsten Tag auch meistens peinlich.
Aber körperliche Übergriffe gehen gar nicht. Ein einziges Mal bisher habe ich einem Patienten eine gescheuert. Das war so ein „geiler Opa“. Mitte 70, Schulterdyslokation. Ich, gerade 20, musste ihn waschen. Er hatte schon den ganzen Tag zuvor nicht mit anzüglichen Sprüchen á la „Wenn ich jetzt so alt wäre wie Sie, wüsste ich schon, womit ich Ihnen die Mittagspause versüße“ gegeizt. Und als ich ihm dann gerade die Haare einshampoonierte, packte er mich mit der gesunden Hand am Arm und zog mich zu sich in die Wanne.
Der Opa war ein schmächtiges Kerlchen mit nur einem funktionstüchtigen Arm, aber weil ich nicht damit gerechnet hatte, rutschte ich voll bekleidet ins Wasser. Der Schaum spitzte nur so. Meine Schuhe, mein Pieper, alles wurde nass. Ich hatte einen Adrenalinschock. Kaum saß ich dem grinsenden Alten in der Wanne gegenüber, holte ich aus und zementierte ihm eine, dass seine Hängebacken und sein Zahnersatz nur so flogen.
Seither weigere ich mich, Männer über vierzig zu waschen. Meine Kolleginnen akzeptieren das glücklicherweise. Es gibt da noch zwei kräftige Schwäbinnen mit erwachsenen Kindern, die ihre resolut-dominante Ader gern an meiner Stelle an den Opas auslassen.
Das führt hin und wieder zu der Situation, dass der eine Patient im Doppelzimmer von mir und der etwas ältere von einer der Schwäbinnen gewaschen wird. Daraus entwickeln sich manchmal lustige Rivalitäts- und Eifersuchtsdramen, weil die Männer ja nicht verstehen, warum sie meine Waschgunst nicht genießen dürfen (Ich würde mich ja auch lieber von mir selbst als von Astrid oder Vroni waschen lassen. Astrid und Vroni sind herzliche Damen, solange man bekleidet ist).
Gerade hatten wir das Problemchen wieder: Das Doppelzimmer neben der Scheichmutter. Zwei Privatpatienten, der eine um die dreißig, der andere zweiundvierzig Jahre alt. Grundsätzlich mag ich Privatpatienten, weil sie sich ein bisschen bevorzugt fühlen (was sie auch sind, da muss man ehrlich sein). Und Leute, die sich bevorzugt fühlen, sind meistens besser drauf als solche, die sich bei jeder Schmerztablette aufs Sparbrötchen reduziert sehen.
Aber diese beiden waren eine Zumutung. Olaf Kaczmarczyk und Nicolas Rammeltsmeier. Ich werde ihre Namen nie vergessen, weil sie so gut zu ihnen passten. Beide schwere Radunfälle – der eine mit dem selbst gebauten Liegefahrrad in einen Bauzaun gerauscht, der andere mit dem Mountainbike verschätzt und gegen einen Felsen gekracht. Sie hatten in derselben Woche vom selben Arzt neue Kniescheiben implantiert bekommen, doch ansonsten hätten die beiden Typen nicht unterschiedlicher sein können. Der Jüngere, der Liegefahrradbastler, war so eine Art Cyborg. Er trug den ganzen Tag eine merkwürdige Brille, die mit einem elastischen Band ganz fest am Schädel saß und aussah wie eine zugeklebte Skibrille. Dazu wackelte er mit dem Kopf und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum wie ein Dirigent. Wahrscheinlich war das so ein Technikspielzeug mit 3D und so. Ich halte nichts von Technikscheiß, ich komme ja mit der echten Welt kaum zurecht!
Der arme merkwürdige Vogel war auch noch mit dem selten holprigen Namen Kaczmarczyk geschlagen. Wenn der sich irgendwo vorstellte, musste er immer erst mal zwei Minuten buchstabieren. Wohl deshalb sagte er kein Wort. Manchmal brummte er kurze englische Befehle, die sich aber an niemanden Speziellen richteten: „Turn left“, „Exit now“. Sonst war er scheinbar wirklich taubstumm.
Der Ältere dagegen, der mit dem Mountainbike, konnte über jede Minute froh sein, in der ich ihn nicht erwürgte. Oder eine andere Schwester. Außer blöde Witze zu reißen konnte der gar nichts. Um die Aufmerksamkeit einer Schwester auf sich zu lenken, machte er sabberige laute Kussgeräusche. Ich war wirklich froh, den nicht auch noch nackt sehen zu müssen.
Mir genügte, dass der Cyborg nicht mal beim Waschen seine Daddelbrille abnahm. Wahrscheinlich war ihm seine Hilflosigkeit mir gegenüber peinlich, oder er wollte nicht erkannt werden. Wegen seiner gigantischen Kniestreckschiene durfte er das Bett nicht mal verlassen, um sich zum Pinkeln zu schleppen. Davon abgesehen war er unter seinem Schlafanzug erstaunlich hot. Unauffälliger, aber eindeutig vorhandener Sixpack, lange, muskulöse Beine, starke Arme. Der musste vor seinem Unfall schon länger Fahrrad gefahren sein. Ein bisschen erinnerte er mich an einen Soldaten in den ersten Wochen der Grundausbildung. Einerseits schon extrem männlich, aber gleichzeitig noch kükenmäßig unbeholfen. Er trug die Haare sportlich raspelkurz, damit sie unter der komischen Brille keine Schwierigkeiten machten. Sie waren mausbraun und wirkten wie Maulwurfsfell. Eigentlich hätte ich gerne mal drüber gestreichelt, um herauszufinden, ob sie sich auch so anfühlten. Aber natürlich streichelt eine anständige Krankenschwester keine Patienten, deren Alter im zweistelligen Bereich liegt.
„Ich radle übrigens auch gern“, plauderte ich beim Waschen, um den Cyborg ein bisschen aufzumuntern. „Und das mit Ihrem Knie, das wird schon wieder. Der Doc, der das operiert hat, ist echt eine Granate. Jedenfalls in dieser Hinsicht.“ Doch auch jetzt sagte er kein Wort. Er wurde nur ein bisschen rot unter seiner komischen Skibrille. Spooky. Aber man kann sich seine Patienten halt nicht aussuchen.
Von einigen Patienten abgesehen ist aber alles paletti in meiner Klinik. Es wird nicht mit der Stoppuhr rumgerannt, und die Schichten kann man notfalls noch im letzten Moment ganz unbürokratisch tauschen. Bei uns sind auch die Kollegen super. Kleines Team, nette Schwestern, entspannte Ärzte. Zermatschte Motorradfahrer zu rekonstruieren ist halt dankbarer, als an Gehirnschlägen und Bauchtumoren herum zu werkeln.
In meiner Klinik bin ich, was ich von meinem Privatleben nicht behaupten kann, in ein gut funktionierendes soziales Netz eingebunden. Regelmäßig kommt sogar Freddy vorbei, um meine Patienten zu quälen. Sie ist als Physiotherapeutin bei uns tätig. Wenn sich meine Schicht mit ihren Einsatzzeiten überschneidet, gehen wir zusammen Mittag essen oder drehen eine Runde im kleinen Klinikpark.
So wie am Tag 0 unseres Experiments. Freddy war wild entschlossen, mich ebenfalls über diese App zu verkuppeln, wo sie ihre ganzen „Fickerles“ her hatte. Luvjah. Die mit dem hübschen Icon. Ja, ich lernte schnell – aber bei der Einrichtung des Profils musste mir Freddy assistieren. Ich hatte es ja kaum geschafft, mich ein paar Jahre zuvor bei Facebook anzumelden; und das ganz klassisch mit Maus und Dödeltastatur. Wir verbrachten also die Mittagspause auf einem abgelegenen Steinblock im Klinikpark, wo wir an einem möglichst unwiderstehlichen Profil für mich arbeiteten.
„Gib nicht zu viel preis“, warnte Freddy. „Du willst ja interessant bleiben. Sonst guckt einer für zwei Minuten in dein Profil und weiß hinterher mehr über dich als deine Mutter. Oder ich. Oder du selbst! Ich hab mich zum Beispiel letzten Monat total gewundert, weil einer unbedingt mit mir äthiopisch Essen gehen wollte. Der hat da ein Mordsbohei drum gemacht, warum er das so gerne mag und dass er Urlaub in Namibia plant und so weiter. Bis ich dann rausgekriegt habe, dass er Zumba für eine afrikanische Musikrichtung hielt.“
Ich warf ihr einen ratlosen Seitenblick zu. „Bin ich jetzt nicht mehr deine Freundin, wenn ich auch nicht weiß, was Zumba ist?“
Freddy fiel vor Lachen fast vom Stein. „Du bist echt gut, du Obergurke“, japste sie. „Wird wirklich Zeit, dass wir dich in die Neuzeit rüberretten. Zumba! Das ist ungefähr der Sporttrend des Jahrzehnts. Sowas wie Aerobic mit südamerikanischer Musik.“
„Versteh ich nicht. Warum gehen die Leute denn nicht einfach so Tanzen? Oder machen sich zum Aerobic Musik an? Reicht das nicht?“
„Oh Icki, du hast ja im Grunde Recht. Zumba ist halt gerade hip, das ist alles. Aber egal. Missverständnisse reduzieren, gell? Also schreib besser nicht: Zur Entspannung mache ich Pilates, Schwimmen, Yoga und Zumba, sondern nur so was wie Bin sportlich.“
„Das wäre bei mir wohl auch noch zu weit hergeholt. Aber dass ich gerne Rad fahre, kann ich schon schreiben?“
„Grundsätzlich schon. Musst du dich halt darauf einstellen, dass dich dann jemand fragt, wieso du kein Auto hast und wovon du eigentlich lebst. Es gibt sehr neugierige und leider auch sehr unfreundliche Leute da draußen. Aber denen musst du ja nicht antworten.“
So vorgewarnt, füllte ich die Felder möglichst mystisch und zweideutig aus. Bei Interessen schrieb ich Enten im Park treten, Cocooning. Und bei Ich suche tippte ich Möglicherweise dich?
Okay, nicht die Neu-Erfindung des kreativen Wortwitzes. Im Großen und Ganzen waren die paar Informationen aber schnell zusammengestellt. Wenn sich etwas nicht bewährte, konnte ich es später immer noch beliebig ändern. Ich wollte ja nicht direkt einen treusorgenden Ehemann, sondern erst mal was für Spaß und Ablenkung finden. Schwanzfotos sammeln. Bilder für meine ganz persönlichen Sex-Workshops. Ein paar Nägel für die Silberflinte. Doch wir hatten ein wichtiges Detail vergessen, bevor es ans Freischalten gehen konnte.
„Ein Foto! Ich brauch doch noch ein Profilfoto!“, rief ich hektisch. „Was für eins nehm’ ich denn da?“
„Irgendwas Hübsches natürlich“, seufzte Freddy. „Aber auch elegant, du bist ja keine Vierzehnjährige, die durch ihre Bikinifotos erst noch Selbstbewusstsein sammeln muss. Trotzdem muss das Bild auch Natürlichkeit ausstrahlen, sonst traut sich am Ende keiner ran. Hast du nicht was mit Busen?“
Nein, das hatte ich nicht. Habe ich schon erzählt, dass meine Figur eher birnenförmig ist? Diese Birne steht richtig herum. Das dicke Stück ist unten. Nicht so wie bei Freddy, deren dickes Stück sich eher oben herum befindet. Oder besser: Die dicken Stücke. Mit ihren – pardon – Riesenmöpsen, die sie immer so aussehen ließen, als würde sie beim Laufen gleich nach vorne umfallen, hatte sie in der Östrogenlotterie das Riesenlos gezogen. Musste ich neidlos anerkennen.
Sie selbst sah das natürlich anders und behauptete im Gegenzug sogar, sie würde mich beneiden. Weil man von A-Körbchen keine Rückenschmerzen bekäme und von den Männern zuerst einmal als Mensch und nicht ausschließlich als Wichsvorlage betrachtet würde.
Aber genau das ist der springende Punkt. Oft hat es doch nur Vorteile, von Männern als Wichsvorlage gesehen zu werden. Jedenfalls so lange man nicht dringend eine ernsthafte Karriere in Wissenschaft und Forschung, einer Konzernleitung oder der Bundeswehr plant.
Freddy muss nie irgendwo anstehen oder einen Tisch reservieren. Meistens muss sie noch nicht einmal Eintritt zahlen. Selbst in die überfüllteste Promi-Loge des Oktoberfestes wurde sie schon hinein gewinkt, nachdem der Türsteher in ihrem Ausschnitt beinahe das Bewusstsein verloren hatte. Im Dirndl sah Freddys Anatomie noch einmal mindestens doppelt so beeindruckend aus. Davon profitierte ich wie bislang von Max auch. An ihrer Seite kam ich einfach überall hinein. Nicht etwa, weil die Veranstalter, Kassenkräfte oder Securitykerle gern zwei scharfe Hasen statt nur einen rein ließen – sondern weil mich neben den Brüsten des Universums einfach keiner bemerkte. Ich war da mehr so die Fliege, die halt auch noch so um den Rieseneisbecher herumschwirrt. Nicht eben gut fürs weibliche Selbstbewusstsein. Wenn ich mit Freddy nicht schon befreundet gewesen wäre, bevor wir sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickelten, wäre das mit uns wohl eher nichts geworden.
Also kurz und gut – ich hatte nichts mit Brüsten. Wir entschieden uns für das Bild, mit dem ich mich vor über sechs Jahren bei der orthopädischen Klinik beworben hatte. Das konnte so falsch nicht sein, mit der Bewerbung damals hatte es ja auch geklappt. Es zeigte mich professionell geschminkt und ausgeleuchtet vor hellblaugrauem Hintergrund, mit hochgestecktem Haar und gewinnendem Lächeln. Ich trug kleine Perlenohrstecker und eine weiße Bluse mit grünen Nadelstreifen. Die Frau auf dem Foto hatte vielleicht nicht allzu viel mit der realen Alltags-Icki zu tun, dafür wirkte sie aber so, als könnte sie jederzeit gut gelaunt aus dem Bild springen und energisch einen Rollstuhl zusammen klappen. Frisch und zupackend sah ich aus. Das sollte doch der ein oder andere Kerl auch anregend finden.
Der Name kostete mich wieder längeres Nachdenken. Cool oder lustig, mysteriös oder einfach nur möglichst Aufsehen erregend? Ein Zitat aus einem Lieblingslied oder vielleicht den Rollennamen einer Hitchcock-Blondine? Das einzige, was ich garantiert nicht wollte, war mein realer Name. Fräulein „Angélique Krüger“ hatte mit dieser ganzen Dating-Geschichte nichts am Hut, die sollte ihre ziemlich jungfräulich weiße Weste bewahren dürfen. Freddy konnte mir in dieser Hinsicht nicht gerade mit leuchtendem Beispiel vorangehen – sie hieß bei luvjah seit Jahr und Tag schlicht und ergreifend Freddy.
„Nenn dich doch einfach Ficki“, empfahl Freddy. „Oder gleich Ficki69.“
Ich war selbstredend sehr empört. „He! Was soll man sich denn da denken?“
„Na ja, im besten Fall finden die Kerle das super selbstironisch und sind erleichtert, dass sie nicht lange um den heißen Brei herumreden müssen.“
„Und im schlechtesten Fall?“
„Nehmen sie es ernst und packen gleich ihren Schniedelwutz aus. Dann weißt du aber wenigstens sofort, woran du bist.“
Wir klickten uns zu Inspirationszwecken durch fremde Profile und stießen auf ein paar Regelmäßigkeiten. Erstens: Englisch fanden die meisten ziemlich gut, auch die, die es noch weniger konnten als ich. Zweitens: Zahlen gingen auch immer, ob als Geburtsjahrgang, satanische Anspielung, Körpermaße oder Liebesstellung. Davon wollte ich mir ein Scheibchen abschneiden, und glücklicherweise kam mir ein passender Geistesblitz.
Einen Teil von Freddys Namensvorschlag beherzigte ich letztendlich doch. Ab sofort beglückte ich die unendlichen Weiten des Internets als
TheHamsterette69.
Das viele Herumdoktern an meinem neuen luvjah-Profil hatte so viel Akku gekostet, dass sich Schorschi nach dem Hochladen des Bewerbungsbildes in den Dämmerschlaf verabschiedete. Ich steckte ihn zuhause in die Aufladestation und hatte es am nächsten Morgen vor Arbeitsbeginn so eilig, dass ich ihn dort vergaß.
Als ich von der Schicht nach Hause kam, spielte ich eine Weile mit meinem Hamster. Er absolvierte zuerst einen Halbmarathon in den Ärmeln meines Wohlfühl-Sweaters, dann knabberte er an meinem Fingernagel wie an einem riesigen Keks, den er mit seinen winzigen rosa Pfötchen kaum festhalten konnte. Er schaffte es, ein winziges Stück Klarlack abzusplittern. Natürlich schmeckte ihm der nicht besonders. Sein flauschiges weißes Fell sträubte sich vor Ärger, und seinen runden Knopfaugen war anzusehen, wie wenig Verständnis er für so eine Verarsche übrig hatte. So ein dummes, süßes Tier! Doof wie Brot, aber unwiderstehlich niedlich. Ich ging in die Küche, um ihm eine Karotte zu schälen.
Ich hatte den Hamster noch in der Kapuze meines Sweaters sitzen, als mein Blick beim Karottenschälen auf den vergessenen Schorschi fiel. Ganz unschuldig steckte er da in seinem Ladegerät. Das Lämpchen blinkte unternehmungslustig. Ob inzwischen wohl schon eine Nachricht eingegangen war? Höchste Zeit nachzusehen! Ich brauchte eine Weile, bis ich das Ding wieder angeschaltet und die richtige PIN-Nummer eingegeben hatte. Dann kam der Schock: Nach Aufrufen der luvjah-Seite ergoss sich eine Kaskade an Kussgeräuschen über mich. Ein Kuss für jede eingegangene Nachricht. Nicht nur der ein oder andere Kerl fand zupackend-energische Frauen mit Perlenohrringen anregend – sondern genau einundvierzig. Einundvierzig! Ich ließ mich auf einen Küchenstuhl sinken, wobei ich fast den Hamster zerquetschte.
Irre. Gleich die erste Nachricht bestand aus nichts anderem als der Zeile Ich mach’s dir, Herrin und einem Schwanzfoto. Einem ziemlich beeindruckenden Schwanz, aber schlecht ausgeleuchtet. Steif und rot wie eine Säufernase. Zur besseren Darstellung der Größenverhältnisse hatte der Besitzer eine leere Beck’s-Flasche daneben gehalten. Der Schwanz verdeckte aber geschickt das Etikett, so dass man nicht erkennen konnte, ob es eine 0,33- oder 0,5-Liter-Flasche sein sollte. Perfide! Danke, ich mag kein Pils, schrieb ich mit spitzen Fingern zurück.
Ich las die nächsten zehn Mails und hörte bald auf, sie zu beantworten. Manchmal gab es mehr, manchmal weniger Text, aber die Grundaussage blieb immer gleich: Ich sollte irgendwelche Unterwerfungsfantasien befriedigen. Bist du die dominante Dame, die ich suche? oder Gerne würde ich Ihnen dienen… Das waren noch die Harmlosen. Die meisten schrieben eher so etwas wie Stopfen Sie mein Loch, ich möchte Ihren köstlichen Blasensaft kosten und Ihre strenge Hand spüren. Bei immerhin sieben von einundvierzig Nachrichten waren explizite Bilder angehängt. Fünf mit Schwänzen in verschiedenen Zuständen und sogar zwei Ganzkörperaufnahmen von knieenden Männern, einer gefesselt, geknebelt und mit verbundenen Augen, der andere im schwarzen Gummianzug, der nur seinen Schritt freiließ.
Ich wusste nicht, ob ich schockiert oder amüsiert sein sollte. Dann trank ich den letzten verbliebenen Schluck Geburtstagsprosecco und entschied mich für Letzteres. Es stimmte also tatsächlich, die Leute kauften sich Smartphones, um sich gegenseitig Schwanzfotos zu schicken! Aber ich wollte ja keinen Sklaven, und wenn er noch so gut bestückt war. Die Idee mit dem energischen Bewerbungsfoto musste dringend überdacht werden. Soo zupackend war ich schließlich auch wieder nicht.
Ein Gedanke stieg in mir auf. Wozu hatte mein neues Telefon eine eingebaute Kamera? Ich schnappte mir das Ding und knipste ein paar Mal mein Haustier, wie es auf mir herumkrabbelte. Einen Schnappschuss von meinen Haaren, die über den Hamster hingen und nahtlos in sein Fell übergingen, stellte ich gleich online. Sah wirklich süß aus, wie der Hamster da aus einem Zelt von Haaren hervor guckte. Er schaute verdutzt in die Kamera. Etwas unscharf zwar, aber das waren die meisten Fotos der Augenaufschlags-Blondinen ja auch. Einen Versuch war es wert.
Tatsächlich meldete sich auf das Hamsterfoto erst einmal kein neuer Sklave. Ich lag schon im Bett und dämmerte gerade weg, als plötzlich ein lautes Schmatzgeräusch durch mein Schlafzimmer hallte. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, was es damit auf sich hatte. Ein Kuss! Meine erste „richtige“ Nachricht war eingegangen! Hellwach griff ich nach meinem neuen Gerät, wischte mit dem Finger drüber und las:
Liebe Hamsterette, wenn du weniger Haare auf den Zähnen als Haare auf dem Kopf hast, würde ich Dich gern näher kennen lernen.
Das schrieb ein Mensch namens Steffen666. Hm. Nicht der intelligenteste Anmachspruch des Universums, aber auch nicht der allerentsetzlichste. Keine Rechtschreibfehler, keine ekligen Anspielungen, kein Foto von seinem Penis. Ich sah zur Sicherheit extra noch mal nach: Nein, kein Schwanzfoto. Fast war ich ein bisschen enttäuscht.
Aber Hey, dafür war die Nachricht offenbar wirklich auf mich gemünzt und enthielt sogar eine objektiv feststellbare Portion Wortwitz! Ich öffnete kurz entschlossen das Antwort-Fenster und beschloss, auf derselben Ebene zurück zu schießen.
Wenn Du in Wirklichkeit nicht der fünfzigjährige Satansrocker bist, den dein Nick vermuten lässt, könnte ich dich glatt treffen wollen. Ich hab zwar schon Haare auf den Zähnen, aber in etwa gleich viele wie auf dem Kopf.
Klar, dass ich mir zu diesem Zeitpunkt schon längst sein Profil angesehen hatte. Steffen666 wohnte in Sendling und war stolze 35 Jahre alt. Beruflich machte er Irgendwas mit Immobilien. Er hörte gern Heavy Metal (klar, dass ihm da meine Haare gefielen) und sah, wenn das Foto nicht log, ziemlich gut aus. Markante Gesichtszüge, strahlend blaue Augen, Kahlkopf. Rasiert. Wohl ein Opfer von Geheimratsecken bis zum Nacken.
Gleich für den nächsten Abend verabredeten wir uns. Er hatte ein kleines orientalisches Restaurant unweit seiner Wohnung vorgeschlagen. Ich willigte gerne ein, obwohl es recht offensichtlich war, welchen Grund es für die Nähe zwischen Restaurant und Wohnung gab. So würde ich, wenn wir uns sympathisch waren, hinterher noch auf „einen Kaffee“ mit rauf kommen können.
Für die Auswahl meines Outfits brauchte ich Stunden: Das neue rote Kleid erschien mir plötzlich viel zu gewagt und die Stiefel nuttig. Als ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg nach Sendling machte, trug ich dann doch die neuen halterlosen Strümpfe zu den Nuttenstiefeln und ein Wickelkleid mit schwarzweißem Karomuster von Freddy. Das Kleid betonte, so hatte mir Freddy tausendmal versichert, meine schlanke Taille bei gleichzeitiger Wegmogelei meiner „starken“ Hüften und der Kaschierung meiner minimalen Oberweite. Allerdings kaschierte es nicht die Spitzenkanten meiner halterlosen Strümpfe, so dass ich bei jedem kleinen Windstoß begeisterte Pfiffe von Passanten kassierte und bei der Ankunft am Restaurant knallrot im Gesicht war.
Glücklicherweise war ich wie immer zehn Minuten zu früh dran und konnte mich am reservierten Tisch in einer halbdunklen Nische wieder erholen, bevor Steffen eintraf und die Kellner begrüßte wie alte Kumpels.
Sein Profilfoto hatte nicht gelogen. Der Mann, der da mit genau zwei Minuten Verspätung auf mich zukam, sah umwerfend aus. Wenn man auf knapp zwei Meter große, leicht trainierte Schlakse mit Glatze und Brille stand. Was ich spontan tat – spätestens, als er mir bei der Auswahl unseres Essens eine kleine Einführung ins Arabische gab. Lässig erzählte er, dass er ein paar Brocken beherrschte, seit er ein paar Monate für einen mittleren Scheich im Oman gearbeitet hatte.
Das einzige, was mich an seiner Erscheinung störte, war das Leinenhemd mit Indianermuster. Es war definitiv mindestens einen Knopf zu weit offen und gab den Blick auf seine breite, muskulöse und komplett haarlose Brust frei. Ob er sich da rasierte? Doch nachdem ich vom Rest des Komplettpakets so angetan war, schob ich das Indianerhemd auf eine seiner vielen Reisen. Wahrscheinlich hingen eine Menge lieb gewonnener Erinnerungen daran.
Er war selbstständiger Architekt mit Home Office. Wie er selbst zugab, hörte sich das nach mehr an, als es tatsächlich hergab. In Wirklichkeit schob er nur Zahlen und Tabellen über den Bildschirm. „Ich mache für zwei große Bauunternehmen das, wofür sich die offiziellen Architekten zu schade sind. Den Ingenieurkram, die Berechnungen. Sozusagen die notwendige, aber lästige Drecksarbeit.“
Selten, aber oft genug, um seine Liebe zum Beruf am Leben zu erhalten, durfte er auf längere Auslandsreisen gehen. Immer dann, wenn eines seiner Bauunternehmen einen Großauftrag an Land gezogen hatte und sich die fest angestellten Familienväter weigerten.
Ich war fasziniert. Gegen diesen freien, unabhängigen Kosmopoliten waren meine bisherigen Urlaubserlebnisse schnöder Mädchenkram. Die zwei Wochen auf Teneriffa, die Max und ich uns im Frühling zu unserem zehnjährigen Beziehungsjubiläum gegönnt hatten, wagte ich gar nicht zu erwähnen, auch nicht den jährlichen Wanderurlaub in Südtirol mit meinen Eltern.
Steffen zeigte sich trotzdem sehr angetan von mir. Er lachte über jeden meiner Witze, erklärte mir geduldig den Unterschied zwischen Architekten und Bauingenieuren, machte mir Komplimente zum „grafischen“ Muster meines Wickelkleids und gab mir ganz nebenbei den besten Lammbraten und den leckersten Weißwein des Jahres aus. Eine ganze Flasche, wirklich nicht die billigste. Er hatte schon gezahlt, als ich vom Pinkeln zurückkam. Selbstverständlich übernehme er die Rechnung, wenn er in Begleitung hübscher junger Damen sei, sagte er. Das fand ich nun ein bisschen schleimig – war das nicht ein Kompliment, das nur noch fünfundsiebzigjährige Päderasten auf dem Spielplatz machten?
Egal. Ich vergaß das sofort, als er unerwartet den Arm um mich legte, mit den Fingern unter mein Haar fuhr und meinen Nacken hinauf strich. Alle hunderttausend Nervenrezeptoren meiner Kopfhaut klingelten Alarm, und von der Stelle der Berührung breitete sich eine Gänsehaut über meine gesamte Körperoberfläche aus. Ich konnte nicht anders, als überrascht und angenehm erfreut zu stöhnen, während er mir den Nacken kraulte und mit meinen Haaren spielte. Er wickelte sich ein paar Strähnen um die Hand und zog meinen Kopf leicht zu sich hinüber, um mir ins Ohr zu flüstern:
„Baby, du hast wunderbares Haar. Davon würde ich gerne noch mehr spüren. Meine Wohnung ist gleich da drüben über die Straße. Ich hab’ extra aufgeräumt, und es gibt eine wirklich gute Espressomaschine. Kommst du mit?“ Er grinste wölfisch.
Ich überlegte. Sexy war für mich immer etwas anderes gewesen: Ein viel sagender Blick, ein schickes Hemd (nicht notgedrungen eines mit Indianermuster). Zeigen, dass man sich für den anderen Mühe gegeben hat. Zusammen auf dem Sofa über denselben Witz kichern. Vertrautheit.
Doch Steffens Unverschämtheit löste zwischen meinen Beinen wider Erwarten eine gewisse Hitzewallung aus. Dass ich diesen Typen trotz des offenen Indianerhemds und der fehlenden Vertrautheit auch mördersexy fand, stand außer Frage. Also überlegte ich nur sehr kurz. „Ja“, wollte ich sagen, aber das Wort blieb auf halber Länge stecken. Mein Mund war zu trocken. Ich nickte stattdessen und stand auf. Das Grinsen meines Gegenübers wechselte von wölfisch zu haifischmäßig.
Noch vor unserem Date hatte ich mir geschworen, nie zu einem Kerl mit einer dreckigen Bude mitzugehen. Leute, die nicht mal ihr eigenes Klo anständig sauber halten können, sind in meinen Augen nicht vertrauenswürdig. Ich habe zu viele Sauereien aus Klinikzimmern geschrubbt, um so was auch noch privat sehen zu wollen. Aber Steffen hatte nicht gelogen. Seine Wohnung war wirklich gleich auf der anderen Straßenseite und nach dem, was ich in den ersten fünf Minuten sehen konnte, tipp topp sauber. Vom Flur bis zum großen Wohn- und Arbeitszimmer. Fast eine Spur unglaubwürdig sauber für einen Junggesellen, eher die Arbeit einer gründlichen Putzfrau. Die er vielleicht sogar von der Steuer absetzen konnte, schließlich arbeitete er auch in seiner Bude. Die Einrichtung bestand in erster Linie aus zweckdienlichen Ikea-Regalen voller akribisch geordneter Unterlagen und einem riesigen Schreibtisch mit einem noch riesigeren Flachbildschirm. Das einzige andere Möbelstück war ein riesiges weißes Ledersofa mit dunkelgrauen Stoffkissen.
„Mach’s dir bequem, Süße!“, schnurrte Steffen, als er mich dort platziert hatte. „Was willst du – klein, stark, schwarz, aufgeschäumt oder gleich eine richtige Latte?“
Für ein paar Sekunden starrte ich ihn an wie ein Auto, bis ich begriff, dass er mir nur einen Kaffee anbot. Bei den ganzen Worten hatte ich direkt an Sexspielzeug gedacht, und als dann auch noch der Begriff „richtige Latte“ fiel… ich schüttelte mich. Ich war eindeutig schon zu lange auf Erotik-Entzug.
„Äh, Cappucino, wenn’s keine Umstände macht“, stotterte ich.
Es machte natürlich keine Umstände. Die drei Minuten, in denen Steffen in der Küche werkelte, nutzte ich für eine genauere Inspektion seiner Bude. Das Bad war ebenso minimalistisch ausgestattet wie das Arbeits-Wohnzimmer. Man hätte vom blütenweißen Fliesenboden essen können. An Metallhaken hingen genau ein Dusch- und ein Gästetuch, auf dem Fensterbord standen weder eine gammlige Orchidee noch ein Zeitschriftenstapel, falls es auf dem Klo mal wieder länger dauerte. Einen Blick in den viereckigen Spiegelschrank konnte ich mir natürlich nicht verkneifen: Deo, Rasierzubehör, Pflaster. Ein paar Ersatzpackungen Zahnbürsten und Shampoo, sonst nichts. Es gab nicht einmal Seife, oder jedenfalls fand ich keine.
Alles, was ich bisher gesehen hatte, war nüchtern und pflegeleicht. Nicht unschick, aber wahnsinnig spaßbefreit. Nach dem Toilettenbesuch schlenderte ich zu Steffen in die Küche, um ihm in der Endphase der Kaffeezubereitung zuzugucken, und fühlte mich in meinen schlimmsten Vorahnungen bestätigt: Der Mann hatte keine einzige Witzpostkarte an seinem Kühlschrank hängen! Dort, wo bei mir alles überquoll von Zeitungsausschnitten, Urlaubspost und Familienschnappschüssen (selbst, nachdem ich alles Max-betreffende entsorgt hatte), besaß er noch nicht einmal einen einsamen Kühlschrankmagneten. In diesem Moment wusste ich, dass das mit mir und Steffen nichts fürs Leben werden würde.
Aber der Cappuccino war sehr gut, und auf dem Ledersofa ging er ganz dreist dazu über, meinen Nacken zu streicheln. Wenn schon nichts fürs Leben, dann wenigstens für die Silberbüchse! Ich atmete tief durch und legte die Hand auf seinen Oberschenkel. Nervosität, dein Name ist Angélique, dachte ich. Meine Ohren fühlten sich mittlerweile an, als ob ich eingefrorene Autoschlösser damit auftauen könnte. Und zwar in der nordsibirischen Taiga, wohin ich mich vor Scham auch am liebsten teleportiert hätte. Sex! Ich! Gleich!
Glücklicherweise schien der zweite Mann in meinem Leben nicht zu ahnen, wie es um mich stand. Er machte einfach weiter, meinen Nacken zu streicheln, als ob meine verschwitzte kleine Hand nicht auf seinem Oberschenkel läge, und steckte mir dann die Zunge ins Ohr. Ich liiieeebe Zungen im Ohr. Dabei ließ er seine Finger wieder durch mein Haar gleiten wie vorhin im Restaurant.
„Du hast eine wundervolle Haarfarbe“, murmelte er, wofür er leider für ein paar Sekunden seine Zunge aus meinem Ohr nehmen musste.
„Woher weißt du, dass die echt ist?“, neckte ich.
„Das sehe ich an deinen Augenbrauen. Die haben genau denselben Ton. Kaffeebohnen. Aber nur ganz leicht geröstet. Mhmm.“ Seine Zunge dippte ein paar Mal in meinen Gehörgang, und eine Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper. Sanft drückte er mich immer tiefer in das weiße Ledersofa, bis ich halb lag. Gleichzeitig spürte ich seine Hand auf meinem Bein, wo sie langsam weiter hinauf wanderte und unter den Saum meines Wickelkleides schlüpfte. Dort blieb sie für ein Weilchen liegen wie ein kleines Raubtier auf der Lauer. Ich hielt die Luft an und war froh, auf Freddy gehört und die halterlosen Strümpfe angezogen zu haben. Sie hatte Recht gehabt – eine Strumpfhose würde in so einem Moment nur zu hektischem Gewurschtel führen.
„Oh, da hat sich ja jemand schick gemacht“, erklang es an meiner Wange. Ich wusste gar nicht, was mich mehr kirre machte – sein warmer Atem in meiner Ohrmuschel oder seine Hand auf meinem Strumpfband. Gehörte das schon zum Vorspiel? Bei Max hatte ich immer genau gewusst, was wann als nächstes kam. Das hatte mir schon auch gefallen. Wahrscheinlich war es nur Steffens Fremdheit, die mich so schnell antörnte, aber trotzdem. Er törnte mich eben an. Um nicht sofort aufzuspringen und ihm meine erregte Körpermitte auf den Schoß zu pressen, fixierte ich die leere Cappuccinotasse auf dem Glastischchen neben uns. Mein Wickelkleid mit dem grafischen Muster, mein neuer BH, aber auch das Indianerhemd und Steffens restliche Kleidungsstücke sanken daneben auf den Boden. Seine schwarzen Boxershorts gaben eine beachtliche Erektion frei, die sich aber sonst nicht weiter in den Mittelpunkt drängte. Doch plötzlich, während das kleine fünffingrige Raubtier wieder in Richtung meines Slips wanderte und sich anschickte, darunter zu verschwinden, schoss mir durch den Kopf, dass ich etwas vergessen hatte.
Die Rasur! Ich war zwar frisch geduscht, gecremt, frisiert, leicht geschminkt und in all meinen schicken neuen Aufreißersachen losgezogen, aber unter dem sündhaften Höschenhauch aus blauem Tüll wucherte der Wildwuchs. Den hatte ich immer ordentlich in Zaum gehalten, wenn ein intimes Aufeinandertreffen mit Max im Raum stand. Das war allerdings schon länger nicht mehr der Fall gewesen. Sonst war ich zum Enthaaren – Gruppendruck und Schönheitsdiktat hin oder her – einfach zu faul. So wie ich mir auch die Beine im Winter nur dann rasiere, wenn ich einen Schwimmbadbesuch plane. Wie hatte ich das vergessen können! So ein unerwartetes Siebziger-Jahre-Hippie-Revival in der Unterhose ist nun wirklich alles andere als schick! Mir wurde glühend heiß, als Steffens Finger sachte meine Höschenkante anhoben. Ich versteifte mich und überlegte fieberhaft, wie ich die Situation retten sollte – aber zu spät. Die Raubtierhand machte einen unvorhergesehenen Satz, und schon lag sie besitzergreifend über meinem Schamhügel. Ich presste die Augen zusammen, biss mir auf die Lippen und wartete auf Steffens Reaktion. Die fiel allerdings ganz anders aus als erwartet.
„Oh, eine Venus im Pelz!“, rief er. „Das sieht man selten. Was für eine Ehre!“ Steffen lachte. Angenehme Überraschung lag in seiner Stimme. Er schnurrte anerkennend. Dann zog er mir den nachtblauen Tupfentüll vom Leib und machte sich über meinen entblößten Unterleib her, so schnell konnte ich gar nicht schauen.
Mein kleiner Busch störte ihn überhaupt nicht. Im Gegenteil, er stöberte mit der Nase durch die dickdrahtigen Löckchen, zupfte mit den Fingern und sogar den Zähnen daran, dass ich vor Peinlichkeitsgefühlen halb verging. Die andere Hälfte meines Hirns war damit beschäftigt, den Geilheitsstrom von meinen intimen Nervenrezeptoren zu genießen. Vor allem, als Steffen sein Gesicht vollends zwischen meinen Beinen versenkte und mit seiner etwas rauen Zunge hingebungsvoll meine Klitoris bespielte.
Nach gefühlten zehn Sekunden sah ich mich schon wieder gezwungen, die leere Cappuccinotasse anzustarren, aber es half nichts. Der Orgasmus brach über mir zusammen wie eine unerwartete Flutwelle. Es war der Wahnsinn. Ich quietschte und zappelte, schlug mit den Armen um mich und kringelte unwillkürlich meine Zehen ein, bis ich einen Wadenkrampf erlitt. Noch niemals im Leben war ich so lange gekommen. Vielleicht lag es nur am Reiz des Neuen. Obwohl, wie gesagt, der Sex mit Max auch nicht der allerschlechteste gewesen war. Hatte ich jedenfalls immer gedacht.
Steffen lag neben mir, hielt mich wortlos im Arm, wickelte sich eine meiner Haarsträhnen (von obenherum!) um den Finger und wartete lächelnd ab, bis ich mein Bewusstsein wiedererlangte. Seine Erektion hielt immer noch unverändert an. Durchaus beeindruckend, aber unaufdringlich lag sein Ständer auf seinem Unterbauch und wartete auf die weiteren Geschehnisse. Irgendwann kam meine klare Sicht zurück, und ich atmete wieder einigermaßen normal.
„Darf ich dich jetzt auch um einen kleinen Gefallen bitten?“, säuselte Steffen dann.
„Na logo. Solange ich niemanden erwürgen muss, schieß los.“
„Du hast Glück, auf Würgen steh ich nicht.“ Er machte eine Pause, also tat ich ihm den Gefallen: „Worauf stehst du denn?“
Er brauchte länger, als mir lieb war, um seine Antwort zu formulieren. Mittlerweile war ich innerlich doch bereits ziemlich alarmiert. Was zur Hölle konnte es denn sein, was er jetzt von mir wollte? Endlich brach es aus ihm heraus, dann aber wie ein Schwall. Die Erleichterung, es endlich ausgesprochen zu haben, machte ihn zum Lyriker.
„Auf Haare. Auf schöne, lange, seidige, weiche, duftende Haare. Wie deine. Untenrum auch, wie du gerade gemerkt haben dürftest, aber vor allem deine Kopfhaare. Die sind toll. Die sind phänomenal. Wie die Wellen schimmern… Loreley hätte es nicht besser hingekriegt. Oder Rapunzel. Echt, ein Traum. Wie die fließen!“ Ehrfurchtsvoll streichelte er die Strähnen, die immer noch über seinem nackten, kahlen Brustkorb lagen. „Kaum zu fassen, wie schön die sind. Wusstest du, dass Haare nur tote Hornpartikel sind? Ohne Nerven, ohne Versorgungsadern? Ein Wunder der Natur. Wir können sein Wachstum fast gar nicht beeinflussen, wir können nur Glück haben oder eine Perücke aufsetzen. Die meisten Leute sind unzufrieden mit ihrem Haar, wo es überall wächst und wo nicht. Und dabei gibt es nichts Schöneres als weibliche Haare an den richtigen Stellen.“ Seine Stimme klang schon etwas brüchig, als würde er vor Respekt vor meinem Haar gleich anfangen zu weinen. Schnell unterbrach ich ihn.
„Äh, Danke. Aha. Haare also. Und was genau soll ich jetzt damit machen?“
„Du sollst… äh, du könntest vielleicht… - würdest du deine Haare um meinen Schwanz wickeln?“
Ich glaube, mein Gesicht in diesem Moment hätte man problemlos fotografieren und als Illustration für ein Englisch-Lehrbuch verwenden können. Und zwar zum Eintrag What the fuck?!
Meine sorgsam gezüchteten, gerade heute wieder aufwendig gehegten und gepflegten Haare um eine fremde Latte wickeln? Oh nein, das würde ich nicht! Aber wirklich nicht – bei allen Birkenwässerchen und selbstgerührten Eier-Bier-Shampoos dieser Erde. Schon allein die Vorstellung gruselte mich zutiefst. Ich stammelte nur ein „Nein, meine Haare sind mir heilig!“ und machte geradezu einen Hechtsprung von dem weißen Ledersofa, das mich abfederte wie ein Sprungbrett im Schwimmbad. In das ich in Zukunft auch immer nur überall gründlichst rasiert gehen würde, man wollte ja keine falschen Hoffnungen bei Haarfetischisten wecken.
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich schneller angezogen. Innerhalb von weniger als einer Minute stand ich wieder unten auf der Straße, atmete tief durch und rannte hinüber zu dem orientalischen Restaurant, vor dem mein treues Rad parkte. In meinem Kopf tanzten Bilder von Cameron Diaz in der Komödie Verrückt nach Mary. Der Film war in meinen Teenagerjahren ganz groß gewesen – aus keinem anderen Grund, als dass die von Cameron gespielte Figur Sperma ins Haar bekommen hatte und deshalb mit steil nach oben stehendem Pony durch die Welt laufen musste. Warum sie das Sperma ins Haar bekommen hatte, wusste ich nicht mehr, aber die Bilder waren unsterblich in mein Gehirn gebrannt. Ich wollte sie nicht durch Bilder von meinem Sperma-Pony ausgetauscht haben.
Es war ein lauer Sommerabend, und viele Menschen waren so leicht bekleidet wie ich. Niemandem fiel bei dem Anblick einer nach Hause radelnden jungen Frau im grafisch gemusterten Wickelkleid etwas Besonderes auf, höchstens die besonders gut durchbluteten Wangen. Wenn ab und zu jemand die Ansätze meiner halterlosen Strümpfe herausblitzen sehen sollte, dann war mir das egal. Ich radelte und radelte wie in Trance. Erst daheim begann mir der arme Steffen ein bisschen leid zu tun. Immerhin hatte er mir (abgesehen von seinem Indianerhemd) nichts angetan, sondern soagr denbesten Orgasmus ever beschert. Nachdem ich mich bei einer halben Flasche Geburtstagsprosecco beruhigt hatte (langsam wurden die Vorräte knapp), schrieb ich ihm eine Mail.
Entschuldige meine geschockte Reaktion, aber ich hatte noch nie was in dieser Richtung. Grundsätzlich bist du ganz in Ordnung. Ich glaub, ich bin wirklich die Falsche für so Fetisch-Zeug.
Er antwortete prompt. Scheinbar saß er, ebenso unzufrieden wie ich mit dem Verlauf des Abends, auch auf seinem Sofa und starrte auf den kleinen Touchscreen in seiner Hand.
Das ist kein Fetisch. Guck mal ins Lexikon. Ein Fetisch definiert sich dadurch, dass man nicht ohne ihn kann. Ich könnte aber sehr wohl ohne, wenn ich nur wollte. Ich hatte zum Beispiel auch schon eine Freundin mit kurzen Haaren.
Ach. Wenn ich darauf hätte antworten müssen, wäre die Antwort notgedrungen ziemlich gehässig ausgefallen. So ungefähr wie Wenn du ohne lange Haare könntest, hättest du doch auch bis zu unserem zweiten Date warten können. Oder Wie kurz waren denn die Haare von deiner kurzhaarigen Freundin, bis zur Lendenwirbelsäule oder doch nur bis zum Schulterblatt? Also ließ ich es lieber bleiben, trank ein weiteres Glas Prosecco und ging ins Bett.