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2 Ganz schön smart
ОглавлениеMax kam nicht zurück. Nicht am nächsten Morgen, nicht am nächsten Tag, nicht einmal an seinem Geburtstag. Er rief auch nicht an. Ich schaffte es, ebenfalls nicht anzurufen, obwohl ich dreiundzwanzigtausend Millionen und siebenhundertvierundfünfzig Mal sooo kurz davor war. Die drei Kumpels, die am Samstagabend in schon ordentlich vorgeglühtem Zustand zu seiner Überraschungs-Geburtstagsparty auftauchten, vertrieb ich ohne Worte – nur durch die Macht meines Gesichtsausdrucks. Immerhin bedeutete ihre Ankunft, dass Max unsere Trennung noch nicht in der ganzen weiten Welt herumtrompetete. Nicht dass mich das großartig aufgeheitert hätte. Ich schwelgte immer noch in Erinnerungen unserer Anfangszeit.
Alle Mädchen wollten Max. Er hatte soeben die Schule geschmissen und als Übergangslösung ausgerechnet den Job im Pausenhofverkauf meiner Mädchenschule angenommen. Das komplette St.-Hedwig-Gymnasium war scharf auf ihn, von der Mittelstufe bis zu den Referendarinnen. Vermutlich hätte ihn auch die Konrektorin nicht von der Bettkante gestoßen, die war immerhin erst Mitte Vierzig.
Max musste nur aus dem zerbeulten Lieferwagen aussteigen, sich zu seinen Körben mit den belegten Semmeln und Plunderstücken bücken und dabei über seiner lässig zerschlissenen Jeans mit dem Knackpo einen Streifen gebräunter Surferhaut entblößen – schon löste er hinter der Fensterfront des Schulgebäudes zwei Dutzend Eisprünge aus.
Denn natürlich ging Max surfen, wenn er mit seinem Pausenhofverkauf fertig war. Am Eisbach, wo nur die Allercoolsten der Coolen surfen. Und natürlich konnte Max ganz hervorragend Nothing else matters von Metallica auf der Gitarre spielen und sogar einigermaßen dazu singen. Er wusste, wie man in den Isarauen ein anständiges Lagerfeuer mit nichts als einem Feuerzeug und einem alten Tempotaschentuch entzündete. Er beherrschte das Cocktailmixen und Jointdrehen aus dem Effeff und hatte auch entsprechende Quellen. Er konnte Bierflaschen mit dem Eckzahn öffnen und innerhalb von Minuten der Mittelpunkt sämtlicher Partys werden.
Überhaupt gab es in ganz München keine größere Partykanone als ihn. Wenn er in der Warteschlange vor einem Club seine blonden Surfersträhnen nach hinten strich und so guckte, als ob ihn nichts weniger interessieren könnte als dieser Laden, wurde er innerhalb von wenigen Minuten vom Türsteher persönlich untergehakt, umsonst hinein komplimentiert und mit zwei Literflaschen Wodka Absolut „aufs Haus“ versorgt.
Mit achtzehn hatte Max die Ausstrahlung des kommenden Weltstars. Sein unverschämt gutes Aussehen und sein gigantisches Ego öffneten ihm alle Türen. Und das Beste war: Die Einladungen galten immer auch für die schüchterne kleine Brünette an seiner Seite, die glücklicherweise niemand nach ihrem Ausweis fragte – mich. Ich schwebte durch die ersten Jahre mit ihm. Alle waren hingerissen vom Surferboy mit dem Strahlelächeln. Ich begnügte mich damit, den Fels in der Brandung zu spielen und ab und zu das Gefühl zu haben, etwas von seinem Glanz abzubekommen.
Im dritten Anlauf erhielt Max einen Ausbildungsplatz an der begehrtesten Schauspielschule Süddeutschlands. Sobald ich mit Ach und Krach mein Abi geschafft hatte, zogen wir zusammen. Ich absolvierte ehrgeizig meine Ausbildung, fütterte Max mit meinem kargen Gehalt mit durch und hielt mich für glücklich. Bis ich irgendwann aufhörte zu zählen, wie oft ich von der Arbeit nach Hause kam und einen komplett zugedröhnten Kerl vorfand, der seinen eigenen Namen nicht mehr wusste. Längst war Max von Joints und Wodka zu ganz anderen Substanzen übergegangen, die ihm seine sogenannten neuen Freunde von der Schauspielschule besorgten.
Langsam verstand ich, was genau Max damals auf dieser vermaledeiten Abifeier an mir entdeckt hatte. Was das Geheimnis war, das ich besaß und nach dem er verzweifelt suchte. Was ihm fehlte. Die Zauberformel, die die unscheinbare Icki so attraktiv für ihn machte, hieß innere Ruhe. Meine stabile Grundstimmung war es gewesen, die ihn angezogen hatte wie einen Vampir. Ihn, den flatterhaften Gesellen, der sich immer wieder aufs Neue die Bestätigung von Fremden holen musste, weil er trotz seines blendenden Äußeren nicht an sich selbst glauben konnte. Weil er gar nicht wusste, wie er den Hohlraum hinter der hübschen Fassade auffüllen sollte.
Ich dagegen hatte mit meinem Inneren nie große Probleme gehabt. Vielleicht nur deshalb, weil mein Äußeres nicht von klein auf Begeisterungsstürme provoziert hatte. Meine innere Ruhe war für mich selbstverständlich (jedenfalls, solange ich in regelmäßigen Abständen auf die Unterstützung von Wolfgang zurückgreifen konnte). Selbst jetzt war sie noch in Resten vorhanden, meine stabile Grundstimmung.
Am Montagmorgen erwachte ich auf dem hässlichen Sofa in einem Zustand, der jeder Beschreibung spottete. Seit Freitag früh drei Uhr hatte ich weder geduscht noch meine Zähne geputzt oder etwas gegessen. Meine individuelle Art von Liebeskummer-Bewältigungsstrategie hatte sich herauskristallisiert: Heulend alte Max-Fotos angucken und den Geburtstagsprosecco vernichten, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von zwei Flaschen in vierundzwanzig Stunden. Trotzdem herrschte in mir keine ernsthafte Verzweiflung, sondern nur eine enttäuschte Traurigkeit. Ich war in ein Loch gefallen, jawohl, aber es erschien mir nicht so, als ob ich überhaupt nicht mehr herauskommen könnte. Es war eben ein Loch, tief und schwarz, aber es besaß einen Boden und eine kleine Ahnung von Lichtschein über mir. Ich wusste immer noch, wo oben und unten war in meinem Leben.
Draußen regnete es. Der Himmel konnte sich nicht entscheiden, ob er hellgrau oder dunkelgrau sein wollte. Genauso wie ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich noch ziellos angetrunken oder doch schon wieder einfach traurig sein sollte. Wenn ich mein Handy nicht so nahe neben meinem Ohr liegen gehabt hätte, würde ich vermutlich heute noch schlafen und dabei laut schnarchend Proseccosabber auf dem Sofa verteilen. Des is leider so mit dem Alkohol, erinnerte ich mich im Halbschlaf an den Sinnspruch des Paketboten. Doch die SMS, die praktisch direkt in meinem Trommelfell einging, weckte mich problemlos. Alarmiert setzte ich mich auf. Wollte sich Max etwa bei mir entschuldigen? Oder noch einmal mit einer netten kleinen Beleidigung so richtig nachtreten? Zweiteres entsprach eher seiner Art. Doch das Display gab Entwarnung. Die SMS war nicht von Max, sondern von Freddy.
Hab so das Gefühl, du brauchst an diesem freudlosen Vormittag etwas Zuspruch. Hab ich Recht?
So schnell es mein uraltes Tastenhandy erlaubte, tippte ich zurück:
Ja bitte. Max weg, Kater da.
Freddy ist meine beste Freundin. Seit etwas mehr als zwanzig Jahren. Ursprünglich lag das nur daran, dass wir beide so sperrige Vornamen haben. Ihre Eltern hatten sie Friederike getauft, was man trotz der stattlichen vier Silben nur ganz doof abkürzen kann. „Ricky“ kam glücklicherweise nicht in Frage – so hieß eines dieser rappenden Mädchen von Tic Tac Toe, die in unserer Grundschulzeit ganz groß waren. „Freddy“ schien die einzige andere Alternative. Hätten wir mit sechs Jahren schon von der Horrorfilmreihe Freddy Krueger gehört, wäre vielleicht alles ganz anders ausgegangen.
So aber war die Erleichterung, sich am ersten Schultag neben jemanden setzen zu können, der nicht Stefanie oder Michael hieß, für uns beide groß genug, um uns innerhalb von Sekunden anzufreunden. Noch vor Weihnachten der ersten Klasse hatten wir herausgefunden, was uns sonst noch alles so verband. Es war und ist eine Menge. Von den kastanienbraunen Haaren und unseren beinahe identisch großen My little Pony-Sammlungen abgesehen, mochten wir beide am liebsten Pfirsich-Eistee und das Fach Deutsch. Wir hatten schon damals eine ganz besondere Art, unsere Umwelt wahrzunehmen, wenn wir zusammen waren. Wir versetzten uns in beliebige Rollen hinein und unternahmen stundenlange Reisen durch unsere verschrobenen Fantasiewelten.
Obwohl wir uns in der Pubertät körperlich gesehen denkbar weit auseinander entwickelten (ich ging eher unten in die Breite, Freddy ausschließlich oben) machen wir immer noch gerne spannende Reisen zusammen. Mittlerweile auch durchaus zu realen Zielen wie den Kanarischen Inseln oder der nächsten Konzerthalle. Und wir haben ein Standardgetränk, wenn wir uns treffen: Pfirsich-Eistee. On the Rocks. Mit Wodka.
An diesem Tag hatte Freddy jedoch keine Lust auf Eistee on the Rocks, vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Stattdessen sah sie sich in meinem Wohnzimmer um, betrachtete den eingetrockneten Proseccosabber auf dem Sofa, rümpfte missbilligend die Nase und stakste wie ein Storch über die vollgeheulten Taschentücher und leeren Proseccoflaschen zum Balkon. Sie öffnete die Vorhänge und riss die Balkontür weit auf, um die frische Mailuft herein zu lassen. Dann guckte sie auf die Uhr.
„Icki, ist dir die Rebound-Phase ein Begriff?“
„Nein! Und was auch immer das ist, es ist mir auch egal! Scheißegal sogar!“, schluchzte ich.
„Ganz typisch, ganz, ganz typisch“, murmelte Freddy, setzte sich neben mich und streichelte mit etwas spitzen Fingern meinen Rücken. Ich verstand das mit den spitzen Fingern, weil ich immer noch dasselbe Schlaf-T-Shirt mit den Streublümchen trug, in das ich nach Schichtende am vergangenen Freitagnachmittag geschlüpft war. Vor vier Tagen. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, in meinen Ärmel zu rotzen, unterließ es aber im letzten Moment, weil meine beste Freundin mich sowieso schon zu müffelig fand. War ich ja auch. Müffelig und betrunken.
„Typisch Icki, oder?“, murmelte ich. „Die blöde Nuss lässt sich verlassen, und dann sitzt sie rum und besäuft sich. Tut mir leid, aber mir ist nichts Besseres eingefallen. Ist mein erster Liebeskummer.“
„Nein, nicht typisch Icki. Die Icki, die ich kenne und schätze, hat immer gute Laune und einen schnoddrigen Spruch auf Lager. Oder eine abgefahrene Idee. Das, was ich hier vor mir sehe, ist ganz typisch Rebound-Phase.“
„Na gut, du hast gewonnen. Was ist denn diese Phase? Und woher weißt du so was?“
Freddy lächelte und reichte mir einen Superduper-Kaugummi, der so aussah, als wäre er in seiner Wirkung durchaus mit Rohrreiniger vergleichbar. Unter seiner steinharten, blassblauen Kruste mit den zahnreinigenden kleinen Kügelchen schmeckte er auch so. Ich kaute ein paar Mal darauf herum und fühlte mich gleich um ein Promill weniger betrunken.
„Ich hab das letzte Woche im Kurs gelernt.“ Seit einiger Zeit belegte Freddy eine Art Abendschule für Psychologie und Pädagogik, um besseren Zugang zu schwierigen Patienten zu finden. „Es gibt verschiedene Phasen oder Strategien, um mit Einschnitten in seiner Biografie umzugehen. Und die Rebound-Phase ist das, was mit Leuten passiert, die zu lange mit dem falschen Typen rumgedödelt haben. So wie du.“
„Na vielen Dank, du Arschgeige.“
„Gerne. Na komm, du weißt, dass Max und ich nie besonders viel voneinander gehalten haben. Also, kurz zusammengefasst: Wenn der Partner weg ist, müsste man sein Leben eigentlich an die geänderten Umstände anpassen. Man müsste sich fragen, was man eigentlich will, und man müsste eigentlich auch überlegen, was man selbst falsch gemacht haben könnte, um es beim nächsten Mal besser zu machen. Tun aber die wenigsten. Stattdessen verfallen viele erst mal in so ein wildes Rumgebumse nach dem Motto: Jeder Dödel ist besser als gar kein Dödel, und viele Dödel sind noch besser, damit ich mich meinen eigenen Problemen nicht stellen muss. Man will möglichst viel Erfahrung sammeln. Hörner abstoßen. Bei dir längst überfällig, wenn du mich fragst.“
„Ich hab’ aber nichts falsch gemacht!“, brummelte ich beleidigt.
„Ganz typische Reaktion!“, lachte Freddy. „Aber ich geb’ dir Recht. In deinem Fall ist natürlich wirklich nur Max der Arsch. Wobei du dich mit ein paar Jahren Abstand vielleicht mal fragen solltest, wieso du es denn so lange mit dem Depp ausgehalten hast. Da gehören ja doch immer zwei dazu.“
„Noch mal Danke. Und wenn ich aber gar nicht wild rumbumsen will?“
„Du musst. Das ist heilsam. Wenn man das nicht tut, hat man einen an der Waffel und wird ein verkorkster alter Spinner mit komischen Hobbies.“
„Pff! Sagst du!“
Freddy hörte auf, meinen Rücken zu streicheln, stellte sich vor mich und ergriff meine Handgelenke, um mich in Richtung Badezimmer zu manövrieren.
„Jawohl, und in meiner Funktion als deine beste Freundin sage ich dir direkt noch was. Es ist gleich Montagmittag und da draußen wartet eine Millionenstadt auf dich. Ich gebe dir fünf Minuten zum Duschen und zwei Minuten zum Anziehen. Ich mach’ dir in der Zwischenzeit einen achtfachen Espresso, wenn du mich an diese Höllenmaschine in deiner Küche ranlässt. Wir gehen jetzt einkaufen.“
„Aber Max ist weg!“, jammerte ich. „Ich will nicht einkaufen, ich will meinen Max zurück!“
Natürlich brach bei der Gelegenheit auch noch alles andere aus mir heraus – zehn Jahre Beziehung, Jubiläum, hübsche Haare, hässliches Sofa, pingelige Langweilerin, mit der das Leben und vor allem der Sex einfach keinen Spaß machen – aber Freddy fiel mir einfach ins Wort.
„Ach, das weiß ich doch längst. Und ich bin froh, dass du ihn endlich los bist. Und dir werde ich schon auch noch beibringen, dich drüber zu freuen. Aber jetzt ist erst mal Ablenkung angesagt. Wenn du jemals einen neuen Typen abkriegen willst, dann brauchst du ein paar neue Klamotten, und zwar sofort!“
„Was ist denn an meinen alten Sachen auszusetzen?“
„Nichts, sie sind halt alt. Aber wenn du gerne aussiehst wie eine Religionslehrerin, ist das natürlich deine Sache.“
„Eine Religionslehrerin?!“
Freddy hörte auf, meinen Rücken zu streicheln, und zupfte nachdrücklich an meiner Bluse.
„Genau, die Blümchenmuster und das ganze Gedöns. Schau mal, bei dieser Bluse haben sogar die Knöpfe Blumenform. Und sie sind rosa. Wie alt bist du denn, Icki, zwölf?“
„Ich finde das halt mädchenhaft und romantisch!“
„Du suchst aber keinen verwirrten Pädophilen, du bist eine Frau Ende Zwanzig und brauchst dringend einen Kerl. Aber aus dir machen wir schon noch was Flottes. In neuen Lebenssituationen braucht man einfach einen neuen Stil. Komm jetzt, du pingelige Kuh, oder bist du dafür auch zu langweilig?“
Wenn irgendjemand auf der Welt die Diplomatie nicht mit dem Löffel gefressen hat, dann meine beste Freundin Freddy. Ich wundere mich immer wieder darüber, wie sie überhaupt als Physiotherapeutin arbeiten kann, ohne permanent Beleidigungsklagen an den Hals zu kriegen. Bei der Arbeit reißt sie sich zusammen. Bei mir nicht. Mir gegenüber ist sie direkt und unverblümt, da muss sie sich nicht verstellen. Echte Freunde sind ehrliche Freunde. Und genau für diese Ehrlichkeit liebe ich sie auch – denn ich selbst gehe immer viel zu weichherzig in die Welt hinein und bin dann ganz erstaunt, wenn ich eins auf die Nase kriege. Freddy würde das nie passieren, die rollt über alles hinweg wie ein fröhlicher Panzer. Irgendwann, hoffe ich, wird ihre Unverfrorenheit auch ein bisschen auf mich abfärben.
Auch in Sachen Beziehungen zur Männerwelt besteht zwischen Freddy und mir ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Während ich noch nie einen anderen Typen als Max auch nur geküsst habe, herrscht rund um den Unterleib meiner besten Freundin so etwas wie Freibier-Stimmung. Jeder darf mal, jeder ist willkommen, aber niemand sollte allzu lange bleiben, damit er nicht irgendwann vom Wirt rausgeschmissen wird. Keiner ihrer „Freunde“ bleibt länger als zehn Wochen, doch der nächste steht immer schon in den Startlöchern. Manchmal hat sie sogar mehrere nebeneinander. Der Stau auf dem Mittleren Ring ist ein Dreck dagegen. Entschuldigung, dass ich das so ausdrücke, aber Freddy hat eine sehr lockere Einstellung und macht selbst Witze über ihr uferloses Sexualleben: „Wenn man Physiotherapeutin ist, muss man den ganzen Tag Leute zu Bewegung und Sport zwingen. Nach Feierabend will ich dann nicht auch noch selber Sport machen. Nach achtzehn Uhr kann ich kein Theraband, keine Gummibälle und keine Weichschaummatten mehr sehen. Aber irgendeinen Work-out brauch’ ich ja trotzdem, also habe ich eben Sex! Mein Schlafzimmer ist im Grunde nur ein getarntes Fitnessstudio. Wobei die Männer heutzutage ja nicht mehr robust sind. So ein einzelner Trainingspartner hält meistens nicht lange vor. Kein Wunder, ich hab’ das schließlich studiert!“
Freddy kauft auch so ein, wie sie Typen aufreißt. Schnell, zielstrebig und ohne die geringsten Selbstzweifel pickt sie sich heraus, was sie brauchen könnte. Ob Männer oder T-Shirts: Sie findet immer etwas. Nicht unbedingt in der besten Qualität, aber für zwei, drei Mal reicht’s schon…
Auch an diesem Mittag im größten Einkaufszentrum Münchens bestätigte sich ihre Schnäppchenmentalität wieder einmal. Während ich angesichts der drängelnden, laut herumtelefonierenden Menschenmassen um uns herum schon in der U-Bahn zu hyperventilieren begonnen hatte, fand Freddy gleich im ersten Laden ein Paar neuer Stiefeletten und ein atemberaubendes Partykleid. Beides war beschämend tief reduziert und passte ihr perfekt. An der Kasse nahm sie souverän auch die Telefonnummer des ganz ansehnlichen Verkäufers entgegen. Weil mein Gesicht immer noch länger wurde, sah Freddy ein, dass mir durch weitere Vorführungen ihres Schnäppchenglücks nicht geholfen wäre. Seufzend hakte sie mich unter und dirigierte mich durch die Menschenmenge in das nächste Eiscafé. Dort gab es eine weitere Telefonnummer vom süßen italienischen Kellner für sie und (nachdem der Laden zwar Wodka, aber keinen Pfirsich-Eistee führte) einen extragroßen Prosecco für mich. Zusätzlich zwängte mir Freddy drei Viertel ihres Baguettes mit Parmaschinken auf, das ihr angeblich zu viel wurde. In Wirklichkeit hörte sie mein übersäuertes Magenknurren nur deutlicher als ich. Manchmal war sie eben doch diplomatisch, aber nur ganz im Geheimen.
Hinterher war mir etwas wohler. Die fünfzigtausend Teenager, die an diesem Montag ebenfalls das Einkaufszentrum heimsuchten, machten mich nicht mehr ganz so kirre. Und Freddy erklärte sich bereit, meine persönliche Shoppingberaterin zu spielen.
Seltsamerweise wirkte ihr Schnäppchenglück auch bei mir. Innerhalb von weniger als einer Stunde hatte sie mich ebenfalls mit neuen Stiefeletten, einem Kleid und einer passenden Handtasche versorgt. Eigentlich trage ich so was gar nicht, aber in diesem Moment war mir das egal. Darin bin ich bestimmt nicht langweilig, schoss mir durch den Kopf, als ich mich in dem engen weinroten Jerseykleid im Spiegel der Umkleidekabine erblickte. Es war gerade lang genug, um nicht obszön auszusehen, und die Wickeloptik in der Taille ließ meine Birnenhüften vorteilhaft geschwungen wirken. Dazu die Stiefel und das albern kleine Lackhandtäschchen – ein perfektes Aufreißer-Outfit. Freddy war zufrieden.
„Wenn du meinst, dass das irgendwie hilft“, protestierte ich.
„Oh ja, tut es, dafür werde ich schon sorgen“, grinste Freddy und zog mich in den nächsten Laden. „Und was bei akuter Trenneritis auch hilft, ist neue Unterwäsche. So richtig wilde, teure Teile, dass es einem selber peinlich ist.“
„Dass einem was peinlich ist – das Wilde oder das Teure?“, fragte ich, doch Freddy lachte nur und blieb vor einem Regal mit halterlosen Strümpfen stehen. Erschrocken stellte ich fest, dass wir uns in einem Sexshop befanden. Jedenfalls sah es für mich auf den ersten Blick so aus: nichts als Strapsgürtel, durchsichtige BHs, Stofffetzen mit roten Marabufedern und Höschen mit sehr zweifelhafter Textillage im Schritt. Wie ich nach ein paar Schocksekunden feststellte, handelte es sich natürlich um einen ganz normalen Wäscheladen. Nur dass ich mit solchen Läden ungefähr ebenso vertraut war wie mit „richtigen“ Sexshops. Meine BHs besaß ich alle schon seit der Schulzeit oder hatte sie als Fehlkäufe von meiner Schwester bekommen, und meine Unterhosen, die ich bis dahin immer im Kaufhaus erworben hatte, waren alle aus Baumwolle. Eine Unterhose hatte in meinen Augen vorrangig eine Pflicht zu erfüllen: den Popo verpacken und dabei möglichst wenig stören und kneifen.
Das Sortiment dieses Ladens hier spielte in einer ganz anderen Liga. Hier gab es keine Unterhosen, hier gab es Dessous. Doch als sich das Blut aus meinem Kopf zurückgezogen hatte und die erstaunlich wenig modelähnliche Beraterin freundlich sich unser angenommen hatte, kam doch die lang verdrängte Glitzerbarbie in mir zum Vorschein. Das kleine Mädchen, das auch all das haben möchte, was die Mädchen mit den reicheren Eltern haben.
Wir verließen das Dessousgeschäft mit einem Set aus schwarzer Spitze und nachtblauem Tüll. Dazu hatte mir Freddy ein Paar schlichter halterloser Strümpfe aufgeschwatzt, weil das den tollen Eindruck des Wäschesets nicht stören würde und es nach ihrer Erfahrung angeblich keinen Mann gab, der wirklich auf Strumpfhosen stand. Ich war stolz. Es war das erste Mal, dass ich überhaupt den passenden BH zum Slip besaß, und in diesem Slip war sogar mein Popo einigermaßen verpackt. Wenn er auch durchschimmerte.
„Danke für die Schützenhilfe“, sagte ich feierlich zu Freddy. „Jetzt fühle ich mich dem zu erwartenden Ansturm der Männerwelt einigermaßen gewappnet. Stell dir vor, ich hätte das ganze neue Zeug schon an. Würdest du mir einen Drink ausgeben, wenn du ein Mann wärst?“
Freddy sah mich belustigt an. „Mal sehen, mein Shopping-Meisterstück…“ Sie stellte sich vor mir auf und musterte mich gründlich von oben bis unten. „Du kennst deinen Marktwert gar nicht, stimmt’s?“
„Marktwert! Ich will mich doch nicht an der Börse bewerben, ich will mir einen neuen Macker aufreißen!“ Das Glas Prosecco im Eiscafé hatte meinen Liebeskummer-Rausch wiederbelebt und meine Zunge gelockert.
„Aber was anderes als eine Börse ist das Ding zwischen Männlein und Weiblein nicht. Damit man was kriegt, muss man auch was bieten können.“
„Bei dir ist das ja auch einfach“, brummelte ich mit einem Seitenblick auf ihre Brüste.
„Na komm, Süße. Jetzt mach mal halblang, du mit deiner Busenfixiertheit. Dafür kannst du alles tragen, ohne dir bloß wegen der Möpse alles zwei Nummern größer kaufen zu müssen. Was glaubst du, wie ich dich für deine Haare und dein Puppengesicht beneide? Du bist sportlich, hast kein Gramm Fett zu viel und übrigens auch tolle Beine, die du nie zeigst, weil du deinen Hintern in Miniröcken dick findest. Was er nicht ist. Nur rund und knackig! Was ich hier vor mir sehe, ist eine schlanke junge Dame, die Frisuren- und Make-Up-Model sein könnte und nach der sich neunzig Prozent der Männer die Finger lecken. Und die restlichen zehn Prozent können mich mal. Und dich erst recht!“
So schöne Komplimente hatte ich zuletzt von einer gewissen Scheichmutter gehört. Ich hatte Tränen in den Augen vor Dankbarkeit. Wortlos nahm ich Freddy in den Arm und drückte sie.
„Moment, Moment, eins fehlt noch!“, fiel Freddy ein. „Was hast du denn in deinem kleinen schwarzen Lackhandtäschchen alles drin, wenn du auf Aufreiß-Tour gehst?“
„Vorausgesetzt, ich würde mich trauen, auf Aufreiß-Tour zu gehen.“
„Ich zwinge dich einfach. Also, was ist in deiner Handtasche?“
Ich zuckte die Schultern. „Schlüssel, Perso, bisschen Kohle, eine Packung Taschentücher.“
„Reicht nicht.“
„Lippenstift?“
„Der zählt nicht.“
„Ein Kondom?“
„Lobenswerte Idee, reicht aber immer noch nicht.“
„Zwei Kondome? Drei Kondome?“
„Na, so einseitig interessiert bin ja noch nicht mal ich“, grinste sie. „Mir genügen immer zwei, die meisten Kerle haben ja auch welche. Nein, Spaß beiseite“ – mit einem schnellen Griff, der jedem Taschendieb Ehre gemacht hätte, langte sie in meine Jackentasche und zog mein Handy hervor – „Ich meine das hier.“ Anklagend hielt sie mir das verkratzte Stück entgegen und tippte vorwurfsvoll gegen das daumennagelgroße Display. „Das ist dein Problem.“
„Wieso? Funktioniert einwandfrei. Gut, es ist nicht mehr das aktuellste…“
Das war schmeichelhaft ausgedrückt. Ich besaß das Ding seit dem Abi. Der dunkelblaue Plastikknochen trug die Bezeichnung Telefon zu Recht. Das Gerät war zwar unkaputtbar, konnte aber nichts anderes als telefonieren und, wenn man sich auf dem winzigen Einfarbdisplay die Mühe machte, mit etwas Gewaltanwendung auch SMS versenden.
„Dieses Gerät wird dir alles verderben. Damit hält dich jeder Mann, der nicht gerade Biokleinbauer mit Strahlenangst ist, für einen komischen Vogel ohne Technikbezug.“
„Hey, mach mal halblang, ich bin ein komischer Vogel ohne Technikbezug und auch noch stolz drauf!“
Ich holte Luft, um Freddy zu erklären, weshalb ich echte soziale Nähe dem ganzen virtuellen Ersatzkram vorzog, doch sie wischte meine Empörung mit einer Handbewegung beiseite und ließ mich gar nicht zu Wort kommen.
„Ach Papperlapapp. Glaub mir, du willst höchstens so lange den komischen Vogel ohne Technikbezug spielen, bis dir der erste verdammt heiße Typ ein Foto von seinem Schwanz schickt und du es nicht öffnen kannst.“
„Schwanzfotos? Echt, so was machen die?“
Freddy verdrehte die Augen. „Du bist so hoffnungslos, meine Gute! Okay, ich hätte es ahnen müssen, ich musste ja schon wochenlang auf dich einreden, bis du dir überhaupt einen Facebook-Account zugelegt hast. Icki, du Kind der Neunziger, weißt du eigentlich schon, dass man heute keine Ersatzteile für seinen Walkman mehr kaufen kann? Wir sind digital, Mäuslein! Was glaubst du eigentlich, wie ich meine ganzen Fickerles aufreiße? Bestimmt nicht in der Pommesbude an der Straßenecke. Dafür gibt es Dating-Apps!“
Ich zuckte misslaunig die Schultern. „Ich will aber gar keinen neuen Freund. Und schon gar kein Fickerle. Ich will allerhöchstens Max.“
„Ach komm, Icki, das ist doch nur so ein Reflex von dir! Ich verstehe ja, dass du dich an den Typen gewöhnt hast, du kennst schließlich kaum andere. Aber wenn du ehrlich bist, war er nie besonders nett zu dir. Was gedenkst du überhaupt zu tun, um ihn zurück zu kriegen?“
„Äh, abwarten und Alkohol trinken?“
„Nein. Lass dir was Besseres einfallen.“
„Eifersüchtig machen und Alkohol trinken?“
„Genau! Und wie stellst du dir das so vor?“
„Ich könnte mit einem Anderen schlafen und ihm dann eine SMS schicken.“
„Keine schlechte Grundidee. Aber du musst noch nicht mal so weit gehen, wenn du nicht willst. Es reicht ja vielleicht schon, wenn du ihm ein Schwanzfoto schickst! Und die kriegst du bei so einer Dating-App frei Haus.“
Ich gab mich geschlagen. „Ein Foto von so einem Mörderding würde vielleicht tatsächlich helfen. Das würde ihn bestimmt bei seiner Männerehre packen.“
Dass Max nicht gerade der Schwertfisch unter den Schwanzträgern war, wusste Freddy als meine intimste Vertraute natürlich längst.
„Na also. Problem gelöst!“ Sie hielt mir mein altes Handy mit spitzen Fingern hin, als wäre es ein vor zwei Wochen im Kühlschrank vergessener Cheeseburger. „Komm, wir kaufen dir ein Smartphone. Jetzt!“
Freddy zog mich auf den blinkenden, bunt leuchtenden Eingangsbereich eines Großfilialisten für Elektrokram zu, doch ich protestierte.
„Also wenn ich mir unbedingt so ein Teil zulegen muss, dann bitte in einem netten kleinen unabhängigen Laden! Ich hasse diese großen Ketten, die den ganzen anständigen armen Schweinen das Geschäft kaputt machen.“
Wir liefen das halbe Einkaufszentrum ab, bis wir einen netten kleinen unabhängigen Laden fanden. Eine sehr freundliche, aber in Sachen Telekommunikation vermutlich noch weniger als ich beschlagene Dame im gefühlten doppelten Renteneintrittsalter erklärte uns, dass sie uns leider nicht mehr bedienen könne, weil sie gleich schließen müsse. Ihr Hund sei nämlich etwas unpässlich und ihr Großneffe, der sie nach dem Tod ihres Mannes hin und wieder im Geschäft vertrete, könne heute auch nicht.
Traurig und unverrichteter Dinge zogen wir davon. Als wir doch die strahlend erleuchtete Filiale des Elektro-Riesen ansteuerten, fühlte ich mich, als hätte ich der armen alten Dame eigenhändig die spärliche Witwenrente halbiert.
Mein neues Telefon entschädigte mich für die schlechten Gefühle. Ein superfreundlicher, supergut aussehender Typ mit Elvisfrisur beriet uns (natürlich gab er hinterher Freddy seine Nummer, aber immerhin, er redete mit mir).
Nachdem ich auf einigen viel zu riesigen und einigen popelkleinen Kästen herumgewischt hatte, entschied ich mich für ein ganz schlichtes Modell eines bekannten asiatischen Herstellers. Es konnte Musik spielen, Videos, Fotos und Audiodateien aufnehmen, hervorragend im Internet herumsurfen, notfalls auch das nicht vorhandene Navigationsgerät meines nicht vorhandenen Autos ersetzen und natürlich auch telefonieren. Vor allem aber besaß es angeblich eine lange Akkulaufzeit und lag gut in der Hand.
Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie günstig man an so ein Smartphone kam. Klar, der Vertrag war nicht komplett geschenkt und hatte eine Laufzeit von zwei Jahren, aber die monatliche Rate war alles in allem halb so teuer wie der Uralt-Vertrag meines Beißknochens, der sich seit ungefähr zehn Jahren immer automatisch von selbst verlängert hatte.
Ich hatte auch gar nicht gewusst, dass es so viel tolles Zubehör für Smartphones gab. Die wieder auferweckte Glitzerbarbie in mir ließ sich kaum davon abhalten, eine mit Straßsteinchen besetzte Hülle aus rosa Pfauenlederimitat zu erwerben.
„Das brauchst du nicht, du Zwölfjährige“, seufzte Freddy. „Das Einzige, was du bei deinem Geschick vielleicht noch abschließen sollest, ist eine Versicherung gegen Runterfallen.“
Das tat ich. Die Versicherung kostete nur einen Euro pro Monat zusätzlich. Ich verließ den Laden glücklich und in dem Gefühl, gerade noch den Anschluss an den Zeitgeist geschafft zu haben. Vielleicht, ermahnte ich mich, sollte ich neuer Technik (und neuen Bekanntschaften!) nicht von vorneherein immer gleich so negativ gegenüber stehen. Der Verkäufer zum Beispiel war ja schon mal gar nicht so übel gewesen.
„Ich werde es Schorschi nennen“, sagte ich feierlich zu Freddy, während wir mit unseren Tüten und Päckchen behängt auf der Rolltreppe der U-Bahn entgegen schwebten.
Wenn das auf der Rolltreppe möglich gewesen wäre, wäre Freddy entsetzt stehen geblieben. So aber fiel ihr nur eine Tüte mit Schuhen herunter. Abrupt wandte mir Freddy ihre weit aufgerissenen grünen Augen zu, während die Rolltreppe gelassen weiter ratterte. „Wen? Was? Schorschi? Bist du etwa… schwanger?!“
„Aber Nein! Ich bin Krankenschwester, da weiß ich doch, wie man die Pille nimmt!“ Jetzt fiel mir eine Tüte herunter, ausgerechnet die mit den Dessous. Prompt rutschte das Päckchen mit den halterlosen Strümpfen ein paar Stufen weiter und einem älteren Herrn vor die Füße, der es erst stirnrunzelnd betrachtete und mir dann mit einem dreckigen Grinsen nach oben reichte. Mit knallroten Ohren verstaute ich es wieder und erklärte der schockierten Freddy meine Idee: „Ich will einfach nicht immer Smartphone sagen müssen. Smartphone ist doch ein blödes Wort, das holpert so. Aber Telefon trifft es ja auch nicht ganz. Also nenne ich das Ding halt Schorschi!“
Ich gebe den Dingen in meiner Umgebung gern Namen. Vor allem griffige, männliche Namen. Normalerweise sage ich das nur in Gedanken, weil Max mich sonst für total plemplem gehalten hätte. Igor will mal wieder gefüllt werden, und für Wolfgang ist auch kein einziges Böhnchen mehr da. Hätte ich das bei unserem finalen Streit so ausgedrückt, hätte Max immerhin einen Grund zum Gehen gehabt. So bleiben mir aber wenigstens ein paar Kerle, die auf mich hören.
„Schorschi, das Smartphone.“ Freddy ließ die Silben auf ihrer Zunge zergehen. „Klingt gut. Da bin ich aber erleichtert. Wobei ich natürlich dringend Patentante werden möchte, wenn du in der Zukunft doch noch mal etwas anderes Kleines Schorschi nennen möchtest. Nur für den Fall. Aber kannst dir damit auch noch etwas Zeit lassen.“
„Keine Angst, im Moment käme ich ja gar nicht erst in die Verlegenheit.“
„Das werden wir schon ändern! Und zwar mit Schorschis Hilfe“, sagte Freddy und klaubte ihre Sachen zusammen, weil wir das Ende der Rolltreppe erreichten.
Wir fuhren eine Station mit der U-Bahn, bis ich Lust auf frische Luft bekam und Freddy überredete, auf die Trambahn umzusteigen. Am Horizont zeichnete sich schon rosa die Dämmerung ab. Auf Freddys Frage, was ich heute noch tun würde, antwortete ich mit einem Schulterzucken.
„Wahrscheinlich koche ich mir was und geh dann ins Bett. Jetzt hab ich all die schicken neuen Sachen, aber immer noch keine Lust auf Ausgehen“, gab ich zu.
„Weißt du, ich glaube auch gar nicht, dass beim Ausgehen heutzutage noch viel geht. Da schleppen sich doch nur noch die Opas zum Tanzen hin und die, die sich lieber in Gesellschaft von Fremden besaufen. Das liegt an der modernen Welt“, sinnierte Freddy. Wir setzten uns an der Trambahnhaltestelle neben einen glücklich betrunkenen Fußballfan, der seinen wackeligen Blick sofort dankbar auf Freddys Brüste heftete.
„Kommunikation zwischen Männlein und Weiblein findet einfach nicht mehr im realen Leben statt. Beim Ausgehen auf Mr. Right zu hoffen, ist eine veraltete Strategie. Da könnte man genauso gut versuchen, seinen Kartoffelacker mit einem Pferd durchzupflügen.“
„Ich würd’ dich sofort durchpflügen!“, rief der besoffene Fußballfan neben uns begeistert. „Von vorne, von hinten, mit allen Finessen!“
„Ach ja…?“ Interessiert wandte sich Freddy zu ihm und unterzog ihn einem gründlichen Check von oben bis unten. Dann zuckte sie die Schultern. „Ich kann im Moment leider nicht beurteilen, ob ich von dir durchgepflügt werden möchte. Dafür hast du zu viel Farbe im Gesicht und zu viele bunte Schals an. Aber wenn du magst, kannst du mir ja mal deine Handynummer aufschreiben.“
Mit professionellem Lächeln reichte sie ihm einen Zettel und einen Kugelschreiber. Natürlich kam der Kerl der Aufforderung eifrig nach, worüber er die gerade einfahrende Tram verpasste. Freddy riss ihm den Zettel mit der unleserlichen Nummer aus der Hand und stieg kichernd ein. Er starrte ihr so selig auf die Beine, dass sich die Türen vor ihm schlossen. Seiner Begeisterung tat das keinen Abbruch. Er winkte uns mit allen verfügbaren Schals.
„Ruf mich morgen an, Süße! Ich schick’ dir auch n’ Schwanzfoto!“, brüllte er der Trambahn hinterher.
„Immer diese Schwanzfotos“, sagte ich, als wir uns auf eine freie Bank quetschten. „Das ist echt so ein Ding heutzutage, oder?“
Freddy sah mich mitleidig an.
„Du, das wird schon noch, Übung macht die Meisterin. Aber ich hab da auch meine geheime Theorie. Na ja, so mittelgeheim. Schon die Urmenschen werden doch als Jäger und Sammler beschrieben, gell? Da geht man ganz automatisch davon aus, dass eben die Männer jagen und die Frauen sammeln. Im Grunde stimmt das ja auch. Aber meine Meinung dazu ist – und die gründet auf jahrzehntelangen Fallstudien – dass sich die Jobs mit der Zeit ändern. Bis sie dreißig, vierzig sind, machen alle Männer einen auf Jäger. Irgendwann ist ihnen das mit den Säbelzahntigern und den Faustkeilen zu anstrengend und sie bleiben zuhause, suchen noch ein paar Blaubeeren oder so was und kümmern sich um ihre Kinder. Oder die Bälger, die sie dafür halten.“
„Ja, und was ist jetzt das bahnbrechend Neue an deiner Theorie?“
Freddy lachte. „Die Rolle von uns Mädels! Frauen sind auch Jäger, und zwar die besseren. Weil wir uns nicht draußen die Köpfe vom Mammut einschlagen lassen, sondern uns zuhause am Lagerfeuer hübsch machen, bis die Männer zurückkommen. Dann schnappen wir uns die stärksten, lassen uns von denen ein paar Kinder machen und von den alten, ehemaligen Jägern versorgen. Genial, oder? Wir jagen keine Mammuts, wir jagen Jäger. Ich verrate dir jetzt einen Trick, meine liebe Icki: Wir sind zwar in Wirklichkeit die Jäger, aber das dürfen die Kerle nie erfahren. Die geschickte Frau legt kein Netz aus, sie legt sich ins Netz! Ins Internet, meine ich. Ich krieg’ meine Fickerles auch schon lange nicht mehr aus der echten Welt. Du solltest dir wirklich auch mal ein Profil anlegen, ist superpraktisch, ich hab dir da auch schon was installiert…“
Für eine Weile hörte ich ihr gar nicht mehr zu. Das hatte sie mir doch schon mal erzählt. Bei Technikkram schalte ich schnell ab. Nur Freddys Theorie hing mir nach. Bei jedem Mann, der ein- oder ausstieg, fragte ich mich, ob er wohl auch ein Jäger war, den man jagen sollte. Mit dem Smartphone. Und ob ich das wollte.
„Kennst du eigentlich die Silberbüchse?“, riss mich Freddy aus den Gedanken.
„Das ist das Gewehr vom Winnetou. Also vom echten Winnetou, dem von Karl May. Der haut immer, wenn er einen Schoschonen oder so was erlegt hat, einen Nagel in seine Knarre. Deshalb ist das die Silberbüchse. So was brauchst du unbedingt auch, aber in Bezug auf Männer. Damit du weißt, wo du stehst. Für jeden Fick einen Nagel!“
Ich nickte nur mit gesenktem Kopf und hoffte, Freddy würde endlich aufhören, die halbe Trambahn mit dem F-Wort zu unterhalten. Sämtliche Leute im Umkreis von zehn Metern drehten sich schon interessiert zu uns um.
Freddy kramte ihr Smartphone heraus und zog es aus der dunkelroten Lederhülle, in der es sonst immer verborgen war. Die Rückseite des Geräts funkelte vor klaren Glitzersteinchen im Diamantschliff. Es war eine ziemliche Menge Steinchen. Erinnerte etwas an die Milchstraße.
„Ich zum Beispiel hab da ein ganz lustiges Belohnungssystem mit Straßsteinchen und Sonnenbrillen entwickelt. Also ich meine, eigentlich ist ja das Ficken selbst schon eine Belohnung, sollte es zumindest sein, hehe. Aber mit meinem System behalte ich immer den groben Überblick. Über meine Erfolge sozusagen. Für einen mittelmäßigen Fick mit einem mittelmäßigen Typen kleb’ ich mir einen kleinen Swarowski-Kristall auf mein Telefon, für einen anständigen Fick mit einem anständigen Kerl kleb’ ich mir einen großen drauf, und für einen Spitzenfick mit einem Spitzentyp kauf’ ich mir eine neue Sonnenbrille!“
Mittlerweile hatten alle Leute im gesamten Waggon ihre Gespräche eingestellt, was Freddy nicht dazu veranlasste, ihre Lautstärke zu senken. Wer wie sie mit solchen Möpsen herumlief, war wohl schon optisch genug durchsexualisiert, um sich noch mit Schamgefühl herumzuschlagen. Ich wurde trotzdem immer noch röter.
Ungerührt fuhr sie fort. „Und du weißt ja, wie viele Sonnenbrillen ich habe. Mich motiviert so was halt. Damit ich noch lieber bei der Stange bleibe, höhöhö. Aber dir läuft schon auch noch was Passendes über den Weg. Ja ja, denn wer vögeln will, der muss säen!“, schloss Freddy ihren Vortrag und nickte freundlich in die Runde, bevor sie ausstieg und mich alleine ließ.
Freie Bahn also für mich und die schöne weite digitale Welt der Schwanzfotos. Nachdem ich die Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte, nahm ich erst einmal ein langes Bad mit so viel Schaum, dass er überschwappte. Max hätte das gehasst! Er war immer schon, das muss man einfach so sagen, ein Warmduscher gewesen. Und ich hatte mich des lieben Friedens wegen angepasst, obwohl ich in meinem vorherigen Leben eine Art Sumpfkröte gewesen sein muss. Die Badewanne ist doch die schönste Erfindung der Menschheit! Und zwischen Badern und Duschern – nein, da herrscht einfach keine Harmonie. Vielleicht war auch das einer der grundlegenden Fehler in unserem Beziehungssystem gewesen.
Nach dem Baden verzog ich mich mit einer großen Tasse Kakao ins Bett. Doch diesmal war ich nicht alleine. Meine neue Errungenschaft, das Smartphone, leistete mir Gesellschaft. Freddy und der nette Verkäufer hatten es mir dankenswerterweise schon ausgepackt, zusammengesetzt und eingerichtet. Bevor ich mich in die Badewanne gesetzt habe, hatte ich es sorgfältig in seine hübsche kleine Aufladestation gestellt, und jetzt wartete es mit grün leuchtender Akku-Anzeige auf mich und war bereit für all die Dating-Abenteuer, die wir hoffentlich zusammen erleben würden.
Seufzend starrte ich auf den großen, hoch auflösenden Bildschirm in meiner Hand. Noch im Laden hatte Freddy eine ganze Weile daran herumgewischt und getippt, um mir allerhand Apps zu installieren. Diese sagenhaften Apps, von denen ich ja schon viel gehört hatte, bräuchte ich angeblich ganz dringend. Ein zögerlicher Wisch, und da waren sie schon: Dutzende kleine Bildchen, gleichmäßig angeordnet. Das meiste war für mich völlig unerklärlich und sinnfrei, und mir sank das Herz ein wenig in die Schlafanzughose. Spontan erkannte ich nur das Telefon-Symbol und den Brief, der die SMS-Funktion symbolisierte. Der Rest sah aus wie ein merkwürdig formatiertes Kinderbuch. Wie sollte ich mich in diesem Wust aus bunten Blasen und winzigen Details jemals zurechtfinden? Freddy hatte mir zwar eine kurze Zusammenfassung über die Funktionsweise eines Smartphones gegeben, aber besonders viel gemerkt hatte ich mir nicht. Der Verkäufer hatte mir ungefähr fünf Mal erklärt, dass ich bestimmt keine Bedienungsanleitung bräuchte, weil so eine Dingsbums-Oberfläche mit Dingsbums-Betriebssystem sowieso selbsterklärend sei.
Wie ich von Freddy gelernt hatte, hießen die einzelnen kleinen Bildchen Icons. Eins dieser Icons immerhin fand ich besonders hübsch: Ein schlichter Stern, der in der Mitte eine schwarze Fläche in der Form eines Herzens freiließ. Mir gefiel, dass das Herz einfach nur schwarz und eigentlich gar nicht da war. Es ergab sich nur aus dem darum herum tanzenden Stern. Grafisch sehr reduziert, ziemlich unaufdringlich. Fast schon elegant. In Kleinbuchstaben stand darunter das Wort luvjah. Ah, das musste diese Datinghilfe sein, von der Freddy mir ständig vorgelabert hatte. Neugierig tippte ich mit der Fingerspitze darauf.
Ein Fenster öffnete sich, in dem ich zur Eingabe meiner Kreditkartenummer aufgefordert wurde. Erschrocken schloss ich das Menü wieder. Zu viele Geschichten aus meiner Schulzeit waren mir noch in Erinnerung, in denen sich Siebtklässler mit Klingelton-Abos in fünfstelliger Höhe verschuldet hatten. Wenn Freddy wirklich glaubte, dass mein nächster Traummann ausgerechnet in den endlosen Weiten des Internets auf mich wartete, dann sollte sie mir dabei helfen. Sie war schließlich die Expertin, die mich zu diesem Experiment überreden wollte.