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6 Fliegedings

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Wenn man auf der für mich schönsten Bank im ganzen Ostpark sitzt – die zweite von links hinter der japanischen Brücke, gleich neben diesem romantischen Tümpel – hat man einen guten Blick auf die Wohnsilos von Neuperlach Süd. Das lässt sich gar nicht vermeiden. Wie ein Rudel gigantischer Duplosteine stehen sie da herum, einer grauer als der andere. Aus der Perspektive meiner Lieblingsparkbank werden die Hochhäuser nicht von den sanften, bewaldeten Hügeln des Parks verdeckt, sondern eher noch betont. Sie sind weit genug weg, um keine interessanten Details mehr preis zu geben, aber noch nahe genug dran, um den halben Horizont einzunehmen. Ein lieblich grüner Bilderrahmen für die grässlichsten Buden von ganz München.

In dem Tümpel, der wohl ursprünglich als Idyll mit Schwänen geplant war, leben seit Jahren nur noch Algen. In dem neongrünen Wasser kann man große Schwaden aus Enten- oder Fischfutter erkennen. Ein paar trotzige Omas werfen das immer wieder von der japanischen Brücke aus hinein, obwohl für jedermann mit weniger als acht Dioptrien Kurzsichtigkeit sonnenklar ist, dass selbst die hungrigste Ente dieser Welt keine Schwimmhautspitze in diese Brühe stecken würde, geschweige denn ihren Schnabel. Das Wasser bildet leuchtende kleine Bläschen und es stinkt. Es reicht fast bis an die Beine der Bank.

Trotzdem ist es meine Lieblingsparkbank. Denn weil sie eben mit dieser Aussicht und dieser Brühe geschlagen ist, bin ich dort fast immer allein. Die anderen Bänke im Ostpark sind gut besucht – vormittags Rentner, nachmittags trinkende Jugendliche, nachts Penner oder übrig gebliebene Jugendliche. Aber auf die Bank am Stinketümpel setzt sich keiner, man könnte ja hinein fallen.

Immer wenn es in meinem Leben etwas nachzudenken gibt, komme ich hier her. Das mache ich schon seit meinem ersten Jahr in München so. Als ich meine Ausbildung antrat und der Tümpel noch ein tapferes Entenpaar beherbergte, hatte ich noch keine Wohnung mit Balkon. Um ehrlich zu sein, hatte ich das erste Jahr nur ein Zimmer zur Untermiete in einem dieser grauen Duplosteine von Neuperlach. Meine Vermieter, ein uraltes Alkoholikerpaar, waren ebenso schlimm wie die ganze hoffnungslose Atmosphäre im Hochhaus. Jede Minute floh ich auf meine Bank. Zum Lernen, Entspannen, Sonnen und eben Nachdenken. Zum Einfach-mal-alleine-Sein. Es tat mir gut, und ich behielt die Gewohnheit bei, als Max und ich ein Jahr später die Wohnung in der Orleansstraße fanden. Die neue Strecke war mit dem Fahrrad nicht viel länger als vorher die alte zu Fuß.

Es war also kein Wunder, dass ich den Nachmittag nach dem kleinen Arbeitsunfall mit Ivan wieder auf meiner Lieblingsbank am Tümpel verbrachte. Bei einem kurzen Zwischenstopp zuhause hatte ich mir noch eine Tafel Praliné-Schokolade und für den Fall der Fälle auch einen Flachmann mit konzentriertem Wodka-Eistee-Gemisch eingepackt. Ich gedachte nicht eher aufzustehen, bis sich auf dem Grund des Gammeltümpels die Lösung all meiner Probleme herauskristallisierte.

Schon auf dem Weg in den Park fühlte ich mich deutlich besser. Irgendwie freier. Eventuell lag es daran, dass ich Schorschi gleich ganz zu Hause gelassen hatte, um nicht durch die mistige Chatterei abgelenkt zu werden. Kein bimmelndes, küssendes, Dauerverfügbarkeit herauströtendes Gerät in der Tasche zu haben, ergab einen ganz frischen, unverstellten Blick auf die Welt. Denselben Blick, den ich noch sechs Wochen zuvor gehabt hatte: Aufmerksam, neugierig, mit Geduld und Gelassenheit für die fast unsichtbaren Details am Rande.

Fünf Minuten später hatte ich mein Fahrrad an einen Baum gekettet und saß auf „meiner“ Bank am Tümpel in der Sonne. Ich schloss für eine Weile die Augen und atmete tief durch. Doch irgendetwas war an diesem Juninachmittag anders als sonst. Seit ich Platz genommen hatte, lag ein merkwürdiges Geräusch in der Luft. Es war ein an- und dann schnell wieder abschwellendes Sirren wie von einem besonders großen Insekt. Was ja im Juni keine Besonderheit bedeutet hätte, noch dazu an einem romantisch veralgten Tümpel wie diesem. Ich sah mich mehrmals nach einem geflügelten Blutsauger um, konnte aber keinen entdecken.

Gleichzeitig streifte mich immer wieder ein leichter Luftzug, was mich nach einer Weile so irritierte, dass ich meine Strickjacke überzog. Unschlüssig aß ich ein Stück Schokolade. Irgendwie schmeckte sie nicht so gut wie früher. Gerade wollte ich in meiner Tasche nach dem Flachmann suchen und den unperfekten Geschmack mit Wodka herunterspülen, als das Sirren und der Luftzug stärker wurden. Sekunden darauf schoss von links oben ein großer dunkler Vogel auf mich zu, und ich warf mich ein wenig zur Seite und schlug instinktiv die Hände vors Gesicht, um meine Augen zu schützen.

Doch nichts geschah. Auf einmal herrschten wieder Stille und strahlender Sonnenschein am Tümpel. Die Vögel zwitscherten im Gebüsch, wo sie hingehörten, Sirren und Luftzug hatten aufgehört. Vorsichtig richtete ich mich wieder auf und blinzelte zwischen den Fingern durch. Nichts. Erst als ich nach meiner Handtasche tastete, um auf den Schreck einen Schluck Kaffee zu nehmen, stießen meine Finger gegen etwas Hartes, Kantiges. Ich schrie erschrocken auf, beruhigte mich aber gleich wieder, nachdem ich hingesehen hatte:

Neben mir auf der Parkbank war ein Spielzeughelikopter gelandet. Er war quadratisch, ungefähr vierzig Zentimeter lang und hübsch schwarz-rot lackiert. Eigentlich sah er nicht aus wie ein Helikopter, weil er vier Rotoren hatte, an jeder Ecke einen. Er stand auf vier geschwungenen Metallbeinen, die ihm etwas Lauerndes verliehen. Wie eine Art fliegende Spinne. Die doppelten Rotorflügel reflektierten die Sonne, waren aber bereits völlig zum Stillstand gekommen. Das ganze Fluggerät gab keinen Mucks mehr von sich, stand aber auf seinen vier Beinchen, als könnte es jederzeit wieder abheben. Neugierig nahm ich das ferngesteuerte Ding in die Hand, um es näher zu betrachten. Dabei hielt ich ihn aber etwas von mir weg, damit mir die Rotoren nicht plötzlich den Pony umfrisieren würden, wenn ihr Besitzer den Motor wieder in Betrieb nähme. Das Fliegedings war ziemlich schwer, bestimmt zwei Kilo, und fühlte sich stabil an. Ich erinnerte mich, vor Monaten eine Meldung über rasant gestiegene Absatzzahlen von fernsteuerbaren Spielzeughelikoptern gelesen zu haben. Das war er also gewesen, der Weihnachtsschlager 2013.

Als ich das Ding herumdrehte, blitzte es weiß zwischen den Kufen. An einer winzigen, mit Sekundenkleber aufgeklebten Drahtschlaufe war dort eine Büroklammer eingehängt, und in der Büroklammer klemmte ein zusammengefaltetes Stück Papier. Eine Botschaft!

Ich runzelte die Stirn. Wenn das ein Annäherungsversuch sein sollte, wäre es zugegebenermaßen ein ziemlich kreativer. Trotzdem war und blieb es ein Annäherungsversuch, noch dazu ein anonymer. Wenn der Typ mir nicht einmal sein Gesicht zeigen wollte, konnte das ja nichts sein.

Der kleine Zettel flatterte leicht hin und her, als wollte er mir winken, ihn zu öffnen. Ich überlegte, bevor ich ihn von der Büroklammer zog. Da würde mit Sicherheit ein bescheuerter Anmachspruch draufstehen, wenn nicht sogar irgendetwas Perverses. Du hast geile Titten, zieh dich aus oder Wenn du möchtest, nagle ich dich quer über die Parkbank. Ich lachte gehässig. Und dabei wagte er es nicht einmal, mir auch nur eine Zehe von sich selbst zu zeigen. Welcher kranke Stalker machte denn so etwas?

„Bei mir funktioniert so was nicht, ich bin immun gegen Kackmist-Anmache!“, rief ich provozierend, doch nichts rührte sich. Nur eine einsame Rentnerin, die gerade über die japanische Brücke wackelte, blickte erschrocken zu mir hinüber.

Natürlich öffnete ich den Zettel nach kurzem Überlegen trotzdem. Es war ein dreimal gefaltetes Blatt aus einem etwas dickeren Papier, viereckig, mit glatten Kanten. So weiß, dass es leuchtete. Wahrscheinlich von einem dieser Notizblock-Würfel zum Abreißen, wie sie vor Erfindung der Smartphones noch in jedem Haushalt herumgegeistert waren. Der Zettel enthielt nur ein einziges Wort in einer säuberlichen, etwas steilen Handschrift.

Hi.

Mehr stand da nicht. Den Literaturnobelpreis konnte man dafür wohl nicht bekommen. Misstrauisch sah ich mich um, doch natürlich war immer noch nichts zu sehen. Mir kam ein Geistesblitz: Wenn ich den Heimatflughafen dieses viereckigen Hubschraubers beim Anflug nicht zuordnen konnte, dann vielleicht wenigstens beim Rückflug. Ich würde ihm also Grund und Gelegenheit geben, zielgerichtet zurück zu schwirren – und ihm dabei folgen. Wenn das eine Anmache war, interessierte sich der Absender doch bestimmt brennend für meine Antwort. Ich hatte keine Ahnung, was so ein Ding für eine Reichweite hatte, aber mehr als ein paar hundert Meter konnten es eigentlich nicht sein. Ich würde einfach hinterher laufen!

Ich kramte einen Kugelschreiber aus meiner Handtasche und kritzelte auf die Rückseite des Papiers:

Auch Hi.

Behutsam faltete ich das Zettelchen wieder zusammen und befestigte es an der Büroklammer. Erwartungsvoll stellte ich den Hubschrauber neben mich auf die Bank, und tatsächlich – etliche Sekunden später sprangen die Rotorblätter an, und mit einem Sirren verschwand die elektrische Brieftaube in den Himmel.

Ich fackelte nicht lange, raffte meine Umhängetasche an mich, sprang auf und lief hinterher.

Bei meinem Geschick von Anfang an ein aussichtsloses Unternehmen. Ich schaffte ziemlich genau zehn Meter, bevor es mich über meine eigenen Schuhspitzen semmelte, wie der Bayer sagt. In unebenem Gelände mit den Augen in der Luft drauflos zu rennen ist generell keine gute Idee. Bis ich mich wieder aufgerichtet und Staub und Gras von meinen Knien und Handflächen geklopft hatte, war der Heli längst außer Sichtweite.

Frustriert setzte ich mich wieder hin und versuchte, mich zu beruhigen. Mein albernes Herz klopfte schneller, als es der kurze Sprint und der Sturz in die Wiese gerechtfertigt hätten. Was er (denn ich nahm ganz automatisch an, dass mein anonymer Brieffreund ein Mann wäre) wohl antworten würde? Wenn seine elektronische Brieftaube überhaupt zurückkehrte. Vielleicht war die ganze Aktion auch nur ein einmaliges, lustiges Spiel von irgendwelchen Teenagern, die mit versteckter Kamera die Reaktionen der „Angeflogenen“ mitfilmten.

Misstrauisch beäugte ich meine nähere Umgebung genauer, um die eventuelle Kamera zu enttarnen, aber es war alles wie immer. Die genmutierten Kröten quakten leise, die splitterige Holzbank unter mir war angenehm warm von der Nachmittagssonne, im Unterholz um mich herum herrschte der gleiche Wildwuchs wie sonst auch. Wenn dort irgendwo eine Kamera versteckt wäre, würde sie sowieso nichts Aufregendes zu filmen bekommen. Nur den Rücken einer vollständig bekleideten Krankenschwester, die sinnierte und ab und zu einen Keks aß. Wenn sie nicht gerade aufsprang und auf die Fresse flog. Wenn das jemand auf Youtube sehen wollte, sollte er von mir aus…

Der erneute Anflug des Helikopters beendete meine Zweifel. Auf einmal kam er selbstbewusst aus dem Wäldchen hinter mir geschwirrt und schwebte über meinem Kopf auf der Stelle. Diesmal rückte ich extra zur Seite und machte eine auffordernde Handbewegung. Er landete etwas holprig, und ich nahm ihn sofort hoch und sah nach dem Zettel. Es war ein neuer, diesmal mit mehr Text, ebenfalls in der steilen, ordentlichen Handschrift.

Schön, dass du mit mir sprichst. Oder schreibst. Du wirst mich aber erst finden, wenn ich das möchte. Ich bin nicht allzu weit weg, aber gut genug versteckt. Also bitte nicht mehr hinfallen…!

Das klärte die Frage, ob tatsächlich ich gemeint war. Und ob ich gefilmt wurde. Ein Blick auf die Unterseite des Helis bestätigte meine Befürchtung: Die kleine runde Glaslinse musste das Objektiv einer winzigen Kamera sein. Klar, irgendwie musste der Mensch das Ding ja steuern, für einen Blindflug war es viel zu gezielt. Trotzdem. Da saß also irgendwo ein Typ vor einem Monitor, und auf dem sah er jetzt in verpixelter Großaufnahme – mich.

Mein Herz begann wieder schneller zu klopfen. Video-Kommunikation mit einem Unbekannten! Wie im Krimi. Vorsichtshalber lächelte ich in die Kamera.

Jetzt rächte sich, dass meine Lieblingsbank so gut versteckt war. Der Platz öffnete sich nur zum Tümpel mit dem Ghettoblick, nach den anderen drei Seiten hin musste man ein kleines Wäldchen durchqueren, um in die anderen Bereiche des Parks zu gelangen. Natürlich verschwand der Heli zwischen den locker stehenden Bäumen des Wäldchens, wo er nach wenigen Metern hoffnungslos unsichtbar mit dem dunklen Blattwerk verschmolz. Keine Chance, dass ich dem Ding jemals hinterher kam. Wenn ich es mit dem Fahrrad versuchte, würde ich eben am nächsten Baum statt nur im Gras landen, und das auch noch mit Schmackes.

Scheiße. Das war nicht nur wirklich spannend, das war auch wirklich romantisch. Wann hatte mich zum letzten Mal ein Mann im richtigen Leben angesprochen? Außer dem Penner vor dem U-Bahn-Eingang, meine ich? Und dann auch noch auf eine so extravagante Art… Ich liebe Geheimnisse. Alle Frauen lieben Geheimnisse, aber ich ganz besonders. Okay, wie ich am Vormittag zuvor mit dem zweiten luvjah-Benutzer in der Klinik gesehen hatte, war es nicht immer die beste Idee, Geheimnisse sofort aufklären zu wollen. Der feine Herr S. hatte mich beim Vögeln gehört! Ich bekam eine heiße Stirn. Aber trotzdem, vor dieser Peinlichkeit des Jahrtausends hatte ich wenigstens richtig guten Sex gehabt. Und im Moment war ich komplett bekleidet und nüchtern. Nicht einmal Schorschi konnte mich auf dumme Gedanken bringen. Eigentlich war ich auf meiner geheimen Bank so sicher vor meiner eigenen Tollpatschigkeit, wie man es nur sein konnte. Also warf ich der Kamera einen misstrauischen Blick zu und schrieb zurück.

Das heißt, ich schrieb erst einmal gar nichts. Die Spitze meines Kugelschreibers hatte sich schon aufs Papier gesenkt, um ein schwungvolles großes D zu malen. D für Du hast ja Nerven, ich hätte mir sämtliche Knochen brechen können!

Aber ich brach den Schreibvorgang ab. Das hier war kein belangloser luvjah-Chat, bei dem man einfach so drauflos tippen konnte, weil man die interessanten Knackpunkte des Gegenübers schon im Profil gesehen hatte. Erst einmal musste ich in meinem Oberstübchen ausbaldowern, womit ich dem geheimnisvollen Unbekannten am besten auf die Schliche käme. Es dauerte eine Weile, schließlich wollte ich ihn weder verschrecken noch zu stark anlocken – am Ende würde er meine Reaktion zu positiv bewerten und mir wie „Borat“ von hinten einen kasachischen Hochzeitssack über den Kopf stülpen.

Die ganze Zeit über saß das Fliegedings wie eine geduldige dicke Spinne neben mir. Obwohl es keinerlei Geräusche oder Bewegungen machte, kam ich mir doch ein bisschen belauert vor. Das war meiner Konzentrationsfähigkeit nicht besonders zuträglich, aber nach ein paar Minuten hatte ich doch herausgefunden, was ich schreiben wollte: Eine einfache, unverfängliche Frage. Das musste wohl noch erlaubt sein, egal ob Psychostalker oder Quasimodo, damit konnte ich nicht viel falsch machen.

Kennen wir uns?

Kaum hatte ich das Zettelchen an die Büroklammer geklemmt, hoben die vier Spinnenbeine ab. Also hatte mich die Kamera tatsächlich die ganze Zeit scharf beobachtet – oder aber das Ding besaß so eine eingebaute Waage und merkte automatisch, wenn die Büroklammer wieder befüllt wurde. Ich fand mich ganz schön mutig, mich einfach so mit einem fremden Stück Technologie abzugeben. Vielleicht versprühte es auch Wohlfühl-Hormone oder einen tödlichen Giftcocktail, der gleich meine Haare ausfallen und mir die grüne Beulenpest auf die Oberschenkel zaubern würde. Jedenfalls stellte ich noch keine Symptome fest, bis die Rückmeldung kam. Es war ein neuer Zettel, ebenso ordentlich gefaltet und säuberlich beschrieben.

Wir kennen uns noch viel zu wenig. Aber doch, wir sind uns auch im realen Leben schon mal begegnet.

Eine kryptische Antwort. Im realen Leben war ich vermutlich schon ungefähr zwanzigtausend Männern begegnet. Alleine heute ein paar Dutzend. Von meinem grimmigen Hausmeister über den Typen, der mir beim Radeln die Vorfahrt genommen hatte bis zum Kassierer im Supermarkt. Soweit sie Lesen, Schreiben und ein Fliegedings bedienen konnten, kamen die theoretisch auch alle in Frage. Ganz abgesehen von meinen Kollegen und Patienten. Da musste doch mehr heraus zu kitzeln sein! Ich würde ihn schon irgendwie provozieren können. Auf die Rückseite des Zettels schrieb ich diesmal:

Sorry, keine Ahnung. Ich kenne nicht viele Techniknerds, die sich lieber hinter einem Spielzeug verstecken, als sich persönlich mit mir zu unterhalten. Und mit Fremden rede ich eigentlich nicht. Könnte ja sonst was dahinterstecken. Wenn du also weiter anonym bleibst, geh ich halt.

Mit klopfendem Herzen sah ich dem viereckigen Flugobjekt nach. War ich nicht doch zu grob gewesen? Wenn ich ehrlich war, wollte ich gar nicht weggehen. Selbst wenn der Typ noch wochenlang anonym bliebe. Dieses Spielchen war viel zu spannend, um jetzt schon beendet zu werden.

Es dauerte diesmal länger, bis die Antwort einschwebte. Sicherlich eine Viertelstunde. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich versuchte, mich mit ein paar Stückchen Schokolade auf Trab zu halten, lehnte mich auf meiner Bank zurück und ließ mir die Spätnachmittagssonne auf die Schienbeine scheinen.

Du wirst nicht gehen. Dafür bist du viel zu neugierig. Das weiß ich, weil du dieses konzentrierte Funkeln in den Augen bekommst, wenn du etwas Neues vor dir hast. Neugierde ist eine der herausragendsten Eigenschaften. Sie kommt noch vor der Intelligenz. Womit ich allerdings nicht sagen will, dass du nicht auch ordentlich Grips hättest.

Entschuldige, aber bist du sicher, dass du nicht für „Versteckte Kamera“ arbeitest? Wieso überschüttest du mich aus heiterem Himmel mit einem solchen Haufen Komplimente?

Weil ich dich nicht aus heiterem Himmel mit Luxusgütern überschütten kann, ohne dir ernsthafte Verletzungen zuzufügen. Nein, ehrlich: Weil du der beste Mensch bist, dem ich je begegnet bin. Und zufällig auch noch die schönste Frau, die ich mir vorstellen kann.

Oha. Sehr schmeichelhaft. Aber dann ist es ja nicht so weit her mit deinem Vorstellungsvermögen…

Quatsch. Höchstens mit deinem Selbstbewusstsein. Und vielleicht mit meiner Sehkraft. Wobei die allemal ausreicht, um deine Perfektion zu beurteilen.

Ich bin perfekt? Erzähl mir mehr!

Ich dachte, du redest nicht mit Fremden.

Schlagfertig war er, mein Unbekannter. Ich lachte und stellte dabei fest, wie sehr mich unser Zettelkrieg schon in den Bann geschlagen hatte.

Treffer. Eigentlich will ich aber ja auch gar nicht mit dir reden. Ich will nur weiter lesen, warum ich so schön und perfekt bin. Das war mir nämlich bisher gar nicht so klar.

Aber stehen Frauen denn nicht heimlich auf die großen Schweiger mit den breiten Schultern?

Möglich. Wenn sie im richtigen Moment schweigen… Hast du denn breite Schultern?

Könnte man wahrscheinlich schon so sagen. Aber ich bin da vermutlich nicht besonders objektiv.

Beim letzten Satz sah ich meine eigene Hand kaum mehr vor Augen, geschweige denn das, was ich da schrieb. Vor lauter Schreiben und Warten, Lesen und Lachen war mir ganz entgangen, wie die Dämmerung eingesetzt hatte. Der Park war menschenleer; aus einiger Entfernung hörte man die Kabbeleien betrunkener Jugendlicher.

Du, ich muss nach Hause, bevor mich noch die Fledermäuse fressen, schrieb ich. Ich würde einfach morgen wieder herkommen und den witzigen Zettelkrieg weiterführen. Aber was, wenn der Helikopter eine einmalige Sache bliebe?

Das wollte ich auf keinen Fall. Mist, ich war schon total angefixt. Das brillante System mit der elektronischen Brieftaube hatte mich mindestens genauso gepackt wie die eingehenden „Küsse“ in meinem luvjah-Postfach. Ich gab mir einen Ruck und schrieb dazu: Ich habe die Konversation mit dir sehr genossen. Kommst du morgen wieder? Sagen wir, 15 Uhr?

Erst, als das Fliegedings mit dem Zettel davon gerauscht war, fiel mir die Idiotie meines Zeitvorschlags auf. Morgen war ein Donnerstag. Zwar der letzte Donnerstag im Juli und bestimmt immer noch wunderschönes Wetter für einen Nachmittag im Park, aber trotzdem ein ganz normaler Werktag. Menschen, die nicht gerade Schichtdienst arbeiteten, würden morgen um fünfzehn Uhr alles andere zu tun haben als sich mittels eines ferngesteuerten Spielzeugs mit einer Krankenschwester zu unterhalten. Mein anonymer Verehrer würde sicherlich auch wieder in seinem Büro sitzen (wieso hatte ich ihn eigentlich noch gar nicht gefragt, was er arbeitete?), nicht umsonst war seine erste heutige Nachricht auch erst um achtzehn Uhr auf meiner Parkbank eingeschwebt.

Es sei denn, er wäre arbeitslos. Oder auch Krankenpfleger. Von beidem würde ich nicht allzu viel halten... kurz durchlief mich ein Schauer bei dem Gedanken, mein neuer Brieffreund und der heiße Ivan könnten vielleicht ein und dieselbe Person sein. Doch seine nächste und letzte Nachricht verblüffte mich in zweierlei Hinsicht.

Klar. Für dich nehme ich mir einfach frei. Übrigens steht dir die neue Frisur sehr gut. Ciao, Icki!

Ich erstarrte. Höflichkeitshalber wartete ich, bis das Fliegedings verschwunden war, bevor ich an meinen Fingernägeln zu kauen begann.

Icki. Neue Frisur. Der Mann kannte mich. Nicht nur meinen Namen, sondern auch mein altes Mähnenlöwen-Ich. Max, war mein erster Gedanke. Der will jetzt auf diese Art wieder bei dir landen. Es stimmt alles. Technikscheiß, Filmkamera, viel Gelaber. Das ist bestimmt Max.

Crazy Love

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