Читать книгу Auf der Suche nach dem Ich - Eva Link-Nagel - Страница 13
ОглавлениеTrauma 1975 (Erster Teil der Lebensgeschichte 1998 von Susanne geschrieben)
Ich vermisse jene ruhige Gelassenheit, mit der ich Rechenschaft ablegen könnte über meine Jugend. Wohl weiß ich, dass eine Zukunft ohne eine Vergangenheit nicht existiert, aber in meinem Leben waren so viele Einschnitte und auch Neuanfänge, war so ein Mangel an Kontinuität von Kindheit an, dass das eine wirklich schwierige Aufgabe ist.
Bis ich neun Jahre alt war, lebten wir in der Tschechoslowakei, eine vierköpfige Familie jüdischen Glaubens. Wir litten ziemlich unter dem Antisemitismus um uns herum. Auf der sozialen Ansehensskala waren wir ziemlich weit unten. Vor allem war das für mich und für meinen Bruder der Fall. Ich hatte kaum Freundinnen. In der Schule war ich zwar recht erfolgreich, aber dennoch stufte ich mein Leben dort als trostlos ein. Ich glaube, es war für mich das höchste der Gefühle, gelobt zu werden. Damit aber ging eher eine passive Haltung einher. Ich selber war eher unbeweglich, wusste nicht, dass ich mich wehren kann und eine häufige Angstvorstellung war, hilflos einer Übermacht ausgeliefert zu sein. Ich fühlte mich auf einer Ebene anders, was von meinen Mitmenschen nicht wahrgenommen wurde, es war eine Ebene aus Angst.
Als wir 1966 illegal nach Israel ausgewandert waren, weinte ich der Tschechoslowakei keine Träne nach. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich akzeptiert, so, wie ich war, und das war ein äußerst wohltuendes Erlebnis. In Israel hatte ich auch eine „beste Freundin“ und ich wäre gern bis an mein Lebensende dortgeblieben. Aber berufliche Gründe zwangen meinen Vater, Israel zu verlassen. Wir sind in die Schweiz ausgewandert.
An einem trüben Novembertag trafen wir in Bern ein. Unser Vater erwartete uns mit Pommes-Chips und Hähnchen und ich war angenehm überrascht, wie gut sich mein Vater als Hausmann machte. Er hatte eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Essecke gemietet und konnte sich auch ein Auto leisten, einen VW Käfer. Das eine große Zimmer war das Schlafzimmer meiner Eltern, in dem anderen schlief ich und meine Großmutter väterlicherseits, die ebenfalls mit uns nach Israel ausgewandert war. Auch in Israel hatte ich ein Zimmer mit ihr geteilt.
Da meine beiden Eltern berufstätig waren, übernahm sie den Haushalt. Sie war energisch und sparsam und sehr stolz auf ihre ungarische Küche. Kontaktfreudig wie sie war, hatte sie es immer leicht, Freundinnen zu finden, auch aufgrund ihrer Hobbies: Tennis und Töpfern, eigentlich Keramik, denn am liebsten modellierte sie kleine Statuen und Vasen.
Unser Leben in der Schweiz verlief in ruhigen Bahnen, mein fünf Jahre älterer Bruder ging ins Gymnasium, ich zunächst in die Sekundarschule, dann ins Progymnasium. Dadurch, dass der Schuljahresbeginn in der Schweiz im Frühjahr stattfindet, gewann ich ein halbes Jahr, und dank des Nachhilfeunterrichts in Mathematik konnte ich schnell Anschluss finden und die deutsche Sprache bereitete mir keine großen Schwierigkeiten.
Ich erlebte die Schweiz so, wie Max Frisch sie in seinem Buch „Wilhelm Tell für die Schule“ beschrieben hatte: als verschneit und demokratisch. Überall begegnete ich der Schweizer Fahne als dem Symbol des Nationalstolzes. Die Schweizer erlebte ich schon sehr als selbstbewusstes Völkchen. Als Ausländerin, als Fremde, bekam ich das sehr oft zu spüren, und ich war dafür auch sensibilisiert, denn schon an unserem ersten Tage in der Schweiz bezeichnete mein Vater die Schweizer als xenophob, ein Fremdwort, dass ich wohlweislich für mich behielt. Aber allenthalben war die Rede von Überfremdung, von der Schwarzenbach-Initiative, einem Versuch, per Plebiszit die Zahl der „Fremdarbeiter“ (nur in Deutschland sagt man „Gastarbeiter“ dazu) einzuschränken. Diese Initiative ist gescheitert, und als nächsten Fortschritt führte die Schweiz das Frauenwahlrecht ein. Von der heutigen Perspektive aus unglaublich, dass die Schweiz vor 30 Jahren noch so rückständig war.
Wenn ich die Schweiz heute betrachte, ich wohne jetzt in Frankreich nahe der Schweizer Grenze bei Genf, so habe ich ein viel moderneres Bild. In der Schweiz meiner Kindheit war ein gewisser Liberalismus auf Seiten der jungen 68iger zu sehen, aber ich war zu wohlerzogen und auch zu jung, um mich ihnen anzuschließen. Ich erinnere mich nur an Schlagworte wie „Manipulation“ und „Establishment“, die ich nicht verstand oder zumindest nicht nachvollziehen konnte. Später, als wir dann nach Deutschland kamen, las ich das Buch über Summerhill, sozusagen das Standardwerk über die antiautoritäre Erziehung. Dieses Buch hatte ich bei meinem Großvater gefunden. Inzwischen war nämlich er mit meiner Großmutter mütterlicherseits und dessen Schwester dank des „Prager Frühlings“ nach Deutschland gekommen.
Mein Großvater interessierte sich für alles: Bei ihm fand sich das „Schwarzbuch Franz-Josef Strauss“ genauso wie ein Buch mit dem Titel „Wer ist Jude?“. Ihn interessierte also die Meinungsbildung. Während ich in meiner Schweizer Zeit fleißig die öffentliche Bibliothek besuchte, um Kinderbücher zu lesen, samstags in die jüdische Jugendgruppe ging und Mitglied im Wasserspringer Club war, ging ich in Deutschland in die öffentliche Bibliothek nur um der Sachbücher Willen, mit dem Wasserspringen war nichts mehr und eine jüdische Jugendgruppe gab es da, wo wir wohnten, nicht.
Die Sachbücher las ich nicht so sehr, weil sie mich interessierten, sondern, um mich damit interessant zu machen. Symptomatisch dafür war, dass um mein Bett herum immer fünf bis sechs offene Bücher herumlagen, die ich in der Regel nicht zu Ende las, weil ich befürchtete, von ihnen enttäuscht zu werden. Ich hatte mir Vorurteile gebildet darüber, was ich lesen wollte, und wenn das Gelesene meinen Vorurteilen nicht entsprach, ließ ich es fallen. Auch wohnten wir in Deutschland zum ersten Mal seit fünf Jahren nicht mehr möbliert. Und ich hatte den Ehrgeiz, meine Bücherregale mit eigenen Büchern anzufüllen. So trat ich dem “Deutschen Bücherbund” bei, der mich verpflichtete, alle drei Monate mindestens ein Buch zu kaufen oder vielleicht sogar mehrere.
Seit wir in Deutschland wohnten, war mein Bruder nicht mehr in der Familie. Er ging auf Wunsch meiner Eltern zum Militärdienst nach Israel. Mir ging dadurch eine Kontrollinstanz verloren, denn mein Bruder war ein großer Kritiker meines Tuns und Lassens gewesen.
So ging ich denn ins 20 Kilometer entfernte Gymnasium, machte die Hausaufgaben noch vor der Heimfahrt während der Wartezeit auf den Bus und verbrachte die Nachmittage allein zuhause mit Illustrierten und sonstiger oberflächlicher Lektüre. Abends saß ich dann vor dem Fernseher. Ich nahm auch Privatunterricht in Englisch, bei einer Engländerin. Einmal hatte mir ihr Mann, der Bridge-Partner meines Vaters, seine Gitarre geliehen, nachdem er mir einige elementare Griffe beigebracht hatte. Die Gitarre war ein exzellenter Freizeitfüller. Ich war Autodidakt. So begann meine Karriere als Komponistin und Gedichte-Schreiberin, aber dazu später mehr.
Während meiner Zeit auf dem Gymnasium ereilte meinen Bruder, der in Israel im Militärdienst war, der Jom-Kippur-Krieg. Er war im Sanitätsdienst und am ersten Abend des Krieges meinten meine Eltern, ihn in den Nachrichten gesehen zu haben, wie er einen Verletzten versorgte. Am darauffolgenden Tag brach ich mitten im Unterricht in Tränen aus und erklärte vor der ganzen Klasse, dass ich Angst um meinen Bruder hatte. Der Lehrer zeigte Verständnis für mich. Das hat mich zwar getröstet, aber Gewissheit darüber, dass mein Bruder wohlbehalten zurückkehren würde, konnte mir der Lehrer nicht geben. Mag es ihm zur Ehre gereichen, dass er mich nicht in einer falschen Sicherheit wiegen wollte. So blieb nur das Beten.
Glücklicherweise ist meinem Bruder während des Krieges nichts passiert. Als er zurückkam, machte er auf mich den Eindruck eines Erwachsenen. Er riet mir dringend davon ab, in den Militärdienst gehen zu wollen, das sei nichts für mich. Er wirkte auch auf unsere Eltern ein, dass sie mich davon abhielten. Es gehörte zwar zu meiner Lebensplanung, nach dem Abitur nach Israel zu gehen, aber das war wohl mein Schicksal, seit wir nach Deutschland gekommen waren, einer größeren Freiheit ausgesetzt zu sein als je zuvor.
Schon mein Erster Schultag in Deutschland war von diesem Geist gezeichnet gewesen: Als der Klassenlehrer und ich das Schulzimmer betraten, lagen die Schüler auf den Tischen herum und machten nicht die geringsten Anstalten, sich beim Eintreten des Lehrers zu erheben oder zumindest die Plätze einzunehmen. An sich war ich immer ein braves Kind gewesen, aber vom Geist der Freiheit (oder war es nur Disziplinlosigkeit?) wurde ich auch erfasst. Als dann nach beendigtem Militärdienst mein Bruder zu uns kam (ich war zu der Zeit schon im ersten Semester), kam ich eines Abends zu spät nach Hause. Mein Bruder erwartete mich schon auf der Straße vor dem Haus, und als er mich erblickte, fragte er mich, ob ich mir denn nicht vorstellen könnte, dass meine Eltern sich um mich Sorgen machten und ob ich nicht zumindest hätte anrufen können. Der Aspekt, dass meine Eltern sich sorgten, hat mich überrascht. Dass ich meinerseits Verantwortung trug für die, die für mich Verantwortung trugen, ging mir offenbar nicht ein.
Noch bevor ich Studentin wurde, habe ich meine Praktikantenzeit begonnen und musste als erstes lernen, wie wichtig das akkurate Einsortieren der Bettwäsche in die dafür vorgesehenen Schränke sei. In den Krankenhausalltag wurde ich von einer drakonischen Oberschwester eingeführt, welche sich in ihrem Temperament unangenehm von den eher fröhlichen und immer zu Späßen aufgelegten Ärzten abhob. Diese saßen etwas, was man nicht an allen Krankenhäusern sieht, mit den Schwestern zusammen zu den Mahlzeiten in der Küche. Ansonsten hatte ich mit den Ärzten nicht allzu viel Kontakt. Ich erlernte das Katheterisieren der weiblichen Blase, das Bettenmachen, das Bettenwaschen und alle Verrichtungen, die der Tagesablauf vorschrieb.
Das Ganze betrachtete ich eher als sportliche Herausforderung, wie ich auch das Studium als Herausforderung und Aussicht auf jede Menge Spaß betrachtete. Mir war es noch nicht darum zu tun, in verantwortlicher Weise Menschenleben verlängern zu wollen oder Krankheiten zu heilen; die medizinische Kunst war für mich vielmehr ein Geschicklichkeitsspiel, bei dem ich dabei sein wollte und außerdem hatte ich eine beachtliche Portion Neugier, den menschlichen Körper betreffend und seine Dysfunktionen.
Kompetent sein zu wollen war noch nicht so sehr mein Anliegen, vielmehr genoss ich es, überall Zaungast sein zu dürfen und wollte erst mal alles sehen, was es zu sehen gab. Die Krankenhaus-Atmosphäre mit ihrer Geschäftigkeit und auch Fremdartigkeit war für mich eine große neue Welt, die ich erst einmal kennen lernen wollte, ohne Berührungsängste. Als Papas Liebling hatte ich auch keine Scheu, mit wichtigen Persönlichkeiten zu reden, vor allem, weil ich mir erlauben konnte, selber Fragen zu stellen oder einfach dumm zu sein.
Ich war nicht nur ehrgeizige Studentin gewesen - allerdings ohne den Ehrgeiz auf den Lernstoff auszudehnen - ich meine, der Status des Student seins war für mich voller Klischees von Aktivismus, Engagement und Progressivität, denen ich gerecht werden wollte. Ich schlief wenig, nicht zuletzt deswegen, weil ich Nachtwachen im Krankenhaus übernahm; dafür erhielt man hundert Mark. Morgens kam ich dann völlig erschöpft nach Hause. Ich wohnte noch bei meinen Eltern, schlief dann bis zwei Uhr nachmittags. In meinem Zimmer herrschte ständig Unordnung Ich weiß gar nicht, wie damals der Kontakt zu meinen Eltern war. Ich erinnere mich nur, dass es auch zu meinem Ehrgeiz gehörte, von zu Hause ausziehen zu wollen.
Ich hatte so viele verschiedene Menschen kennengelernt, denn ich war ja hungrig nach Kontakten. Manchmal entstand eine engere Beziehung, weil mich ein Gesicht an meine Kindheit erinnerte. So hatte ich Gisela kennen gelernt. Bei der ersten Begegnung hatten wir uns einfach länger in die Augen geschaut und schon war der Kontakt hergestellt. Gisela war auf der Suche nach einer Bleibe, und ich lud sie ein, bei uns in unserem Mansardenzimmer zu wohnen. Ich wusste nicht wirklich, was sie über mich dachte, machte mir damals aber wohl keine Gedanken darüber. Gisela war älter und reifer als ich und selbstbewusster. Meine Mutter meinte, dass sie mich ausnützte und mich gegen sie aufhetzte. Ich wollte das nicht wahrhaben. Doch als ich krank wurde, bezeichnete ich sie als eine Hexe.
Mit dem Hexe-Sein hat es so etwas auf sich gehabt. Als ich vier Jahre alt war, behauptete ich von mir selbst, ich könne zaubern, sei also eine Hexe. Die Situation, die dazu Anlass gegeben hatte, war die: Ich schaute durch das Fenster in einen dunstigen Tag hinaus. Die Sonne erschien mir als großer feuriger Ball. Ich hatte das Gefühl, jetzt, in diesem Moment, müsse die Sonne verschwinden. Aber sie blieb. Und das führte mich zu der Überzeugung, dies hätte ich bewirkt. Es war wie im Märchen. Aber Strafe musste sein: Deshalb war ich eine Hexe.
Gisela als Hexe tituliert zu haben, gab Zeugnis ab von meiner Nähe zu ihr, aber auch von meinem Befremden ihr gegenüber. Gisela war sehr von den Anthroposophen begeistert. Sie nahm mich einmal zu einem Vortragsabend mit. Aber ich konnte mich für die Anthroposophie nicht so recht erwärmen. Die Verehrung für Rudolf Steiner hat mich ziemlich befremdet und auch die Theorien, die mir vorgestellt wurden, kamen mir suspekt vor. Ich war ein nüchtern denkender, naturwissenschaftlich orientierter Mensch und war nicht gewillt, mich mit abstrusen Dingen zu beschäftigen.
Auch Giselas Begeisterung für die Anthroposophie führte zur Entfremdung zwischen uns beiden. Auf der anderen Seite wollte Gisela in eine Wohngemeinschaft ziehen und begab sich auf die Suche nach einer passenden Wohnung. Sie unternahm den ersten Versuch, sich von uns abzunabeln.
Ich war sehr begeistert von der Idee, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen. Dabei hatte ich meiner Großmutter hoch und heilig versprochen, niemals in eine Kommune zu gehen. Auch meine Eltern waren sehr dagegen. Ich ließ aber nicht locker und begann schon emsig, mir eine primitive Möblierung zusammen zu zimmern: Einen Schreibtisch fand ich in einem alten, verfallenen Schuppen, ein Schrank war auch irgendwie dazu gekommen und ein Bett wollte ich mir aus Obstkisten zusammenbauen.
Offenbar wollten die Leute, mit denen ich (bzw. Gisela) zusammenziehen wollte, nicht so recht einsehen, warum ich zu ihnen zog, und so teilte man mir mit, dass das Zimmer, in das ich einzuziehen gedachte, ab Herbst für jemand anders reserviert sei. Ich war offenbar nicht in der Lage, daraus meine Konsequenzen zu ziehen, war nicht weitsichtig genug. Ich spürte nur irgendwie, nicht so recht akzeptiert worden zu sein, aber das war für mich kein seltenes Erlebnis.
Auch sonst war ich eher dem Frühling und den Frühlingsgefühlen hingegeben. Ich hatte mich in einen Arzt verliebt. Er wird um die dreißig gewesen sein, ich beinahe halb so alt. Meine Mutter hatte gemeint, wer mit dreißig noch nicht verheiratet sei, hätte Schwierigkeiten mit den Frauen. Ich wollte das alles nicht wahrhaben, beschäftigte mich damit, dass ich wie eine Auster sei und er das Sandkorn, das in die Auster gelangt und wie edel meine Gefühle seien, die aus unserer Liebe eine Perle machten.
Ich hatte schon ziemlich Angst vor der sexuellen Begegnung. Keine Frage, dass dieser Arzt schließlich mit der Feststellung, wir seien zu verschieden, von mir Abstand genommen hat. Sicher hatte ich ihm anfangs gefallen und auch meine schnippischen Bemerkungen dürften das ihre getan haben. Aber das war nur oberflächlich, und als ich das Ganze ernst zu nehmen begann, war ihm wohl aufgegangen, wie schwierig ich sei.
Unterdessen ging der Lehrbetrieb an der Universität weiter, und ich nahm nur bruchstückhaft daran teil. So wurde mir auch bekannt, dass der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagte, dass alles dem Chaos entgegenstrebe. Der Gedanke, selber vom Chaos überrollt zu werden, ängstigte mich. In den Gesprächen, die ich mit Bekannten führte, verlor ich oft den Faden. Manchmal war mein Redefluss nicht zu stoppen, so dass ein Kommilitone mich einmal scherzhaft fragte, wo denn der Knopf sei, an dem man mich abstellen könne. Wenn ich mich unter vielen Menschen befand und eigentlich gar nicht zuhörte, was geredet wurde, hatte ich das Gefühl, man rede über mich.
Mai 1975.
Meine Eltern wollten mich für eine Weile aus dem Universitätsbetrieb herausholen und mit mir drei Wochen Urlaub in Südfrankreich verbringen. Ich war dagegen, mein Studium zu unterbrechen und sah auch nicht ein, dass ich erholungsbedürftig sei, gleichwohl schickte mich meine Mutter mit ihrer Mitarbeiterin in die Stadt, damit ich mich für meinen Urlaub einkleidete. Diese Laborantin war alleinerziehende Mutter, beziehungsweise, an die Einzelheiten erinnere ich mich nicht, sich von ihrem Mann scheiden ließ, weil er Alkoholiker war. Sicher hatte diese Frau eine sehr starke Persönlichkeit und sie hat mich für sich eingenommen.
Als wir mit der Straßenbahn in die Stadt fuhren, fühlte ich mich komisch, hatte Seestörungen und phantasierte, ich würde bei ihr bleiben und einen Ersatzvater für das Kind abgeben. Während wir in der Stadt einkauften, hatte ich ein seltsames Gefühl, als ob ich der Mittelpunkt der Welt sei, als ob sich alles um mich drehen würde. Die Laborantin lud mich ein, zu ihr nach Hause zu kommen. Auch an ihrer Haustür hatte ich ein seltsames Erlebnis. Wir begegneten einem Dackel mit seinem Herrchen. Der Dackel schaute mich ganz traurig an, und ich empfand ein ganz inniges Einvernehmen mit diesem Tier, als ob ich mit ihm reden könnte.
Als wir in der Wohnung der Laborantin angelangt waren, befahl sie mir in eindringlichem Ton, bei mir zuhause anzurufen und zu sagen, ich käme nicht nach Hause, solle aber keinen Kommentar dazu abgeben, auch nicht verraten, wo ich sei. Ich folgte ihr sklavisch und ließ mich nicht einmal von meiner weinenden Mutter erweichen, die wissen wollte, was um Gottes Willen mit mir los sei. Das war der Vorabend meiner Erkrankung.
Die Laborantin hatte mir irgendwas zu trinken gegeben, es war in einer großen Flasche, ich weiß nicht, was es war. Ich kann mich nur erinnern, dass ich in der Nacht unter dem Fenster auf einer Bank lag und Viertelstunde um Viertelstunde den Glockenschlag einer nahegelegenen Kirche hörte. Später stellte sich heraus, dass dies bereits die zweite Nacht in ihrer Wohnung war, an die erste Nacht und den Tag darauf konnte ich mich gar nicht erinnern. Auf der Bank unter dem Fenster phantasierte ich, ich sei Jesus kurz vor seiner Kreuzigung. Am Morgen darauf war selbst für mich alles, was ich sagte, zusammenhangslos. Die Laborantin schickte mich heim.
Zuhause angelangt, nahm ich einen herrischen Ton an, aber stellte fest, dass meine Eltern verständnislos und zutiefst verstört waren. Eine Kommunikation war nicht möglich. Meine Eltern setzten sich und mich ins Auto und wir fuhren in die Schweiz, ein Freund unserer Familie arbeitete dort als Psychiater. Noch immer kam ich mir als der Mittelpunkt der Welt vor. Als mich dann der Psychiater in Empfang nahm und mich bat zu erzählen, war mein erster Satz: “Es gibt Hexen.”
Meine Mutter war überzeugt, dass die Laborantin mich betrunken gemacht und dann eine Orgie veranstaltet hat, bei der ich vergewaltigt wurde. An etwas Derartiges konnte ich mich nicht erinnern, aber offenbar galt mein Misstrauen unbewusst auch dieser zweiten Hexe.
Tagelanges fruchtloses Nachdenken über diese Ereignisse brachte mich nicht weiter. Ist die gesunde Susanne in der Vergangenheit zu suchen? Aus meiner heutigen Sicht bleibt mir ja nichts, als zu all diesen Dingen Stellung zu nehmen, oft eine tadelnde Stellung. Sicher, hätte ich noch mal die Gelegenheit, siebzehn, achtzehn Jahre alt zu werden, ich würde manches anders machen,
In der Psychiatrie sagte man mir, ich sei emotional unreif und diagnostizierte mich zuerst als juvenile Psychose. Aufgefallen war ich durch fehlenden Realitätsbezug, Hexenglauben - wobei ich allerdings eine bestimmte nicht eben gutwillige Kommilitonin im Auge hatte - und dem messianischen Glauben, demnach müsse ich als eine Art heilige Johanna das Volk Israel in den Krieg gegen Russland führen.