Читать книгу Auf der Suche nach dem Ich - Eva Link-Nagel - Страница 19

Studentenzeit, stürmische Jahre.

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Nach der Erkrankung, konnten wir sie überzeugen das Studium nicht aufgeben, aber in der Studienstiftung wollte sie nicht mehr mitwirken. Sie lernte mühsam Anatomie, war ja vollgestopft mit Haldol, doch sie schaffte die Prüfung. In dieser Zeit machten wir Spaziergänge am Ufer der Iller, es war eine gute Gelegenheit zur Wiederholung des Lernstoffes. Am Ufer des Flusses war ein zerrissenes Kleidungsstück. Sie bemerkte: “Da wurde jemand vergewaltigt” Es war ein Signal, auf offene Fragen kam dann die Verneinung, mit dem Satz, die Frau N. hätte ein Kind, als Erklärung ihres Schweigens.

Wir siedelten im Jahre 1978 nach Bad Abbach bei Regensburg um. Susanne bekam ein Zimmer im Studentenwohnheim in Ulm. Im Wohnheim fand sie gute Freundinnen, und einen Freund, einen Außenseiter, intelligent, megaloman, mit manischen Charakterzügen.

Es beginnt eine wechselnde Beziehung, von zwei psychisch angeschlagenen Außenseitern. Es ist anfänglich eine harmonische eheähnliche Beziehung, mit der Vereinbarung, dass keiner gebunden ist. Im Internat ist Partnerwechsel üblich. Es war die Zeit der grenzenlosen sexuellen Befreiung nach der Pille. Die Beziehung der Beiden ist oft scheiternd, dann in tragischen Situationen - nach Susannes Selbstmordversuch oder nach dem Tod meines Mannes - erneut auflebend. Der Kontakt dauert bis 1990, dann wird der Kontakt endgültig abgebrochen, sie ist schon krebskrank.

Nicht betrachtend diese Beziehung verliebt sie sich oft, diese Beziehungen entwickeln sich nach einem bestimmten Muster. Sie wählt jemanden, der auf sie anziehend wirkt, als zukünftigen Partner aus. Sie wirbt mit Gedichten und wünscht sich Anerkennung, Wellen von Resonanz und Verständnis für ihre Emotionen. Die Emotionen, das sind Stimmungen, Träume von Liebe, gemischt mit latenter Angst und Schmerz, die sie auskostet und in Gedichte und Texte umwandelt. Sie kostet das Verliebt-zu-sein mit allen Höhen und Tiefen aus, sie leidet, dichtet und diskutiert.

Sie flüchtet von ihrer primitiven Urangst in die Illusion großer Gefühle, in die Illusion der Schönheit des nicht Alleinseins und das Gefühl, Verstanden zu sein. Doch am Ende bleibt sie allein mit ihrer Angst und Aggression in einer fremden Welt.

Bei diesem Verhalten geht es um physischen Kontakt selten. Anfänglich hat sie Erfolg, später verjagt sie mit ihrem Verhalten fast jeden. Sie ignoriert das Versagen und kämpft weiter für die vermeintliche „Liebe“. Das Ergebnis ist schlaflose Nächte und die enden in einer psychischen Krise, so zwei, dreimal im Jahr. Wir bringen sie nach Hause, die Medikation wird geändert und nach drei Wochen kann sie zurück nach Ulm ins Wohnheim. In Situationen der Krise erleben wir Ambivalenz und Aggression, es scheint manchmal so, dass sie ihren Krankheitsbonus ausnützt. Es ist ein viertel- bis halbjährlich wiederkehrendes Schema.

Schematisch ist es auch, wie sie mit Partnern, die in sie verliebt sind und dauerhafte Beziehung zu ihr haben wollen, umgeht. Manchmal ist ihr Verhalten grausam. Damals nahmen wir es ihr übel, heute ist es bekannt, dass dieses Verhalten bei sexueller Gewalt traumatisierter Jugendlicher oft vorkommt.

M. war die nächste schwere Enttäuschung, nach einer kurzen Glücksphase wird sie mit Macho-Methoden weggeschoben. L. möchte sie trösten, ihr Hunger nach Gefühl wird mit dieser Beziehung nicht gestillt. Die Barriere aus nicht verarbeiteten Erlebnissen, Angst und das Herrschen von primären Emotionen sind schlechte Vorzeichen auch für diese Beziehung. L. ist ein kurzer Ersatz mit einem unschönen Ende.

Dieselbe Problematik in einer neuen Situation mit einem sehr kritischen Partner, der sie stark neurotisiert. Die Problematik ist aber eine lebenslang sich wiederholende Beziehungskonflikt bedingt durch Angst, Unsicherheit, Irrealität. Sie lebt in einer Phantasiewelt. Normalerweise beendet sie die Beziehung, wenn sie es nicht tut, tut es der Andere. All dies führt zu kleineren Krisen oder zur Psychose.

Wiederkehrend ist in ihrem gesamten Leben, wie sie mit ihrer Krankheit kämpft. Sie betreibt übertriebene Selbstkontrolle, mit unzähligen selbst aufgestellten Verhaltensweisen und Direktiven. Es kostet, wie sie selbst schreibt, eine Menge Energie gegen Unsicherheit und Hemmungen zu kämpfen. Die latente Angst, ausgehend vom Mandelkern und limbischen System in vielen Formen, ist ihr größtes Problem.

Das Schlimmste ist die Angst, dass ihre Krankheit entdeckt wird. Auch wenn in den normalen Phasen alles in Ordnung schien, ist es ein labiles Gleichgewicht. Die Erkrankung hat sie verändert, der Wandel scheint, wie sie im Gedicht: „Wenn der Abend kommt“ schreibt, irreversibel. Sie hofft, dass ihre Maske, hinter der sie ihr wahres Gesicht verbirgt, mal durchbrochen wird.

Aus dem Chaos ihrer Gefühle hilft ihr in den Jugendjahren und auch später der Glaube. An Gott zu glauben gibt ihr ein Gefühl des Haltes, glaubt an ihr eigenes, besseres ich und an eine bessere Welt. Ihre Verbindung zur Gott ist in vielen Gedichten und Gebeten zu erkennen, bei ihr wird das Gedicht Gebet und das Gebet Gedicht.

Ihre Beziehungen und Stimmungen beschreibt sie in den Tagebüchern. Im Dickicht der im Internat üblichen freien Liebe, protestiert sie dagegen, als Sexobjekt behandelt zu werden. Sie reagiert mit dem „Kurtisanenlied“.

Das Schreiben bringt ihr Erleichterung. Es entstehen viele Gedichte und auch Lieder für ihre Gitarre. Nach der Studienzeit, in der Zeit in der sie wissenschaftlich arbeitet, versiegt ihre literarische Aktivität, aus dieser Zeit fand ich keine Tagebücher. Zeigt das eine stabilere Lage, wenn sie mit wissenschaftlichen Problemen abgelenkt wird?

Im Jahr 1977 beginnt sie eine Doktorarbeit über Suizid an dem Gerichtmedizinischen Institut. Sie macht eine weitgehende Recherche mit hunderten von Literaturangaben und psychiatrischen Analysen. Als emotionelle Wirkung entsteht das Gedicht „Letzter Augenblick.“ Beim Lesen von Psychoanalyse von Adler kommt es am Ende Juli 1978 zu einem Flash-Erlebnis.

Sie schweigt, hat Angst vor Selbstanprangerung. Mit Reue und Sozialarbeit möchte sie einen Weg aus der Krise finden und ihren Konflikt bewältigen. Sie meint mit individueller Sozialarbeit eine Korrektur des Irrtums zu erreichen und dass es ein Gewinn ist, das man am Ende nicht allein bleibt. Es ist ein Ringen ohne Ende, weil sie beharrlich schweigt und leidet ohne richtige Therapie.

Sie realisiert den Bruch ihrer Persönlichkeit in einem erschütternden Text. Ich fand es nach ihrem Tod, und erfahre so die Wahrheit. Nach dem Flash Juli 1978 schreibt sie die Gedichte „Bewältigungsversuch“ und „Caro luxurians“ sowie die Eintragung „Gewissen und Irrtum“. In diesen Gedichten blitzen Scherben auf, Scherben mit zeitlosem Schmerz. Es ist ein erschütterndes tragisches Gedicht. Ihr Selbstbild ist geschädigt, es sind die Scherben ihrer gebrochenen Identität.

Die Realität ist enttäuschend, sie flüchtet in Träume und Träume sind schön. Die Wirklichkeit lehrt das Maß, das Hier und Heute und das Wie und Was. „Tröstung“, „Frühling“ und „Im kühlen Licht des Morgens“ sind drei schöne Gedichte in diese Richtung.

Ich glaube, die Eintragungen und Analysen die folgen, sprechen für sich, es ist eine Identitätssuche, Suche nach Zufriedenheit, Suche nach neuen Aspekten und positivem Blickwinkel. Es ist Suche nach der Schönheit, die relativ und flüchtig ist. Es ist Selbstfindung im Prozess des Schreibens, wo sich die Seele über das Papier ergießt. Das Elternhaus bedeutet für sie Sicherheit, es gibt da eine zu-Hause-Welt und ein draußen-Welt, die Realität draußen erzeugt Angst. Gegen die Angst kriegt sie Medikamente, die ihre Kreativität blockieren.

Die nächste unglückliche Liebe endet am ersten April 1980 mit einem nicht ernst gewollten Suizidversuch. Sie spielt mit Suizidgedanken am Treppengelände des vierten Stockes, schläft ein und fällt in die Tiefe. Das Gedicht Pattmeisterung, Knochenbrüche und ein nicht bemerktes Aortenaneurisma sind die Ergebnisse des Suizidversuchs. Sie ist froh, dass sie am Leben geblieben ist. Sie wird zusammengeflickt, das Aneurysma wird erst später entdeckt und operiert. Es folgen die klinischen Semester an der Kinderklinik. Die bewusst freundschaftliche Beziehung zum Chef ist emotional gefärbt, aber ohne weitere Probleme.

Die Prüfungen machten ihr keine größeren Probleme, Ausnahme war nur die zweite Staatsprüfung, als sie starke Prüfungsängste und Depressionen bekam. Im Jahr 1982 machte sie ihr drittes Staatsexamen.

Aus dieser Zeit stammen auch die Gedichte über ihr soziales Umfeld, positive und negative Beziehungen zu Leuten. Gedichte wie „An Hannelore“, „Psychosomatik“ und „Irgendwo“.

Das alte Trauma begleitet sie lebenslang. Der Schatten der Vergangenheit verfolgt sie. In den folgenden Gedichten „Mein Schatten“, „Der Arzt als Schriftsteller“ und „Der Schriftsteller als Arzt“.

Im zweitem Teil dieses Kapitels lasse ich den Leser mit ihren Aufzeichnungen und Gedichten alleine. Der Leser muss selber ein Urteil über sie und ihre Krankheit fällen. Bei wesentlichen Änderungen unseres Lebens wird wieder ein neues Kapitel von mir eröffnet, mit nachfolgenden Schriften meiner Tochter in der betreffenden Epoche.

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