Читать книгу Auf der Suche nach dem Ich - Eva Link-Nagel - Страница 6

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nötig - und eine Diagnose, die da war, aber an der ich stets zweifelte.

Zwei Fragmente ihrer Lebensgeschichten kannte ich, im ersten erzählte sie den Anfang ihres Lebens, das zweite schrieb sie am Ende ihres Lebens, als sie an Krebs erkrankte. Ich hatte die ungefähr dreißig Tagebücher nie angerührt. Jetzt war es nicht einfach sie zu lesen. Ich fand das Lesen dieser Tagebücher als Wühlen in ihrem Leben und ihren Gefühlen. Ich fand das inkorrekt, schmerzhaft und geschmacklos. Doch ich wollte verstehen, warum sie krank war. Ich fand, was ich von Anfang an geahnt hatte. Die Tagebücher enthüllten heimlich, verabreichte Drogen, Kuppelei und Vergewaltigung. Sie verheimlichte es, und das hatte schwere gesundheitliche Folgen. Sie nahm ihr Geheimnis mit ins Grab.

Das Schicksal eines Menschen ist so vielschichtig eingebettet in etwas, was man Zeitgeist nennt, man muss zum Überleben feste Wurzeln, einen Kompass haben. Beides hatte sie verloren. Warum? Wie komplex die Ursachen sein können, wie viele pathogene Faktoren zusammenkommen in einer Krankengeschichte, ist schwierig zu eruieren. Das Ergebnis ist Tragik, geschrieben in Prosa und Gedichten. Die Diagnostik ist komplex, es spielen verschiedene Ursachen zusammen. Bei ihr spielte vermutlich auch die Toxikologie eine Rolle, die oft belächelte Amalgamtoxikologie, dafür sprechen wesentliche Laborergebnisse.

In den folgenden Seiten wird der Leser Bekanntschaft machen mit Susanne. Sie war ein ungewöhnlicher und begabter Mensch, dessen hoffnungsvoller Lebensanfang abrupt verändert wurde. Als Ärztin kam ich lange nicht von der Frage weg, was die Ursache ihres Krankheitsbildes war, die in den üblichen Beschreibungen der psychischen Erkrankungen nicht richtig eingereiht werden konnte. Die Entdeckung und wissenschaftliche Bearbeitung der Krankengeschichten von vergewaltigten Kindern und Frauen brachte Beweise über Hirnveränderungen bei den Traumatisierten.

Zum besseren Verständnis der pathologischen Veränderungen bei dem posttraumatischen Stress-Syndrom muss ich auf die evolutionäre Entwicklung des zentralen Nervensystems zurückgreifen. Der älteste Teil des Gehirns in der Evolution sind der Hirnstamm, bestehend aus dem oberen Teil des Rückenmarks, aus dem Kleinhirn und die basalen Ganglien. Diese drei Teile formen das sogenannte Reptiliengehirn, weil es vom Aufbau identisch ist mit dem der Vögel und Reptilien. Funktionsmäßig beherrscht das Stammhirn die wichtigsten Lebensfunktionen wie Atmung, Blutdruck, sexuelle Funktionen mittels vorprogrammierter Regulatoren und Reflexe.

Die nächste Stufe der Entwicklung entspricht dem des primitiven Säugerhirns. Es befindet sich in der mittleren Region des Gehirns, umringt von oben das Stammhirn und hat deshalb den Namen Limbisches System (Limbus lat. Ring). Teil des Systems sind

a.) der Hypothalamus (Seepferdchen genannt durch seine Form) speichert die Erinnerungen und erkennt Strukturen,

b.) der Mandelkern (Nucleus Amygdala), doppelseitig angelegt an der Unterseite des limbischen Rings. Er ist der Sitz der negativen Emotionen, impulsiven Gefühle wie Wut und Angst, bewahrt die Erinnerung an massive emotionale Reaktionen. Der Mandelkern hat Verbindung zum

c.) Thalamus, aber auch direkte Verbindungen zur Zentrale in der Hirnrinde. Der Thalamus (griechisch Kammer) ist die Verbindung und Umschaltzentrale von den sensitiven Organen zur Cortex-rinde.

Die Rinde gehört zum Neocortex, in der Evolution der jüngste Teil des Gehirns, es ist die äußere Schicht von grauer Substanz, vier paarige Lappen, die sensorische Signale verarbeiten. Der Stirnlappen liegt hinter der Stirn, dessen vorderer Teil, der präfrontale Cortex, ist verantwortlich für logisches Denken, bewertet Informationen, urteilt, entscheidet, beherrscht. Er entwickelt sich vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter, deshalb ist er bei Jugendlichen durch Traumata sehr verletzbar.

Ich erwähne nur kurz die Beschreibung des posttraumatischen Stress-Syndroms (PTSD) nach Goleman: Es ist die aufdringliche Erinnerung an das zentrale gewaltsame Geschehen.

Tatsächlich sind die Symptome Anzeichen eines übererregten Mandelkerns. Die Spur des Grauens im Gedächtnis und die daraus resultierende Überwachsamkeit hält sich manchmal ein Leben lang. Das PTSD ist auf Veränderungen in den limbischen Schaltungen zurückzuführen, in dessen Mittelpunkt der Mandelkern steht. Die Erinnerungen können im Mandelkern gespeichert werden und zu Flashbacks (Rückblenden), plötzliche ungewollt auftretende Erinnerungen, führen. Der Hypocampus dient als Zwischenlager aktueller Ereignisse, die Langzeiterinnerung ist im kortikalen Bereich gelagert. Der Hypocampus kann durch die vom Trauma ausgelösten Stresshormone so geschädigt werden, dass Erinnerungslücken verursacht werden.

Neuere Untersuchungen von Christine Heim an der Charité beweisen strukturelle Veränderungen in der Hirnstruktur bei in der Kindheit und Jugend missbrauchten Frauen. In einigen Hirnregionen ist die Hirnrinde um ein Drittel bis ein Viertel dünner als bei den gesunden Vergleichspersonen. Diese Veränderung ist im somatosensorischen Bereich der Hirnrinde zu finden, wo die Wahrnehmung von Körperempfindungen reguliert wird.

Gewalt führt zur Persönlichkeitsverletzung, zur Veränderung des Selbstwertgefühles und kann zur wesentlichen Schädigung der Persönlichkeit führen, mit schweren Beziehungsproblemen mit Partnern und im sexuellen Bereich.

Ein Angriff auf den Körper eines Individuums im Intimbereich ist ein Angriff nicht nur auf seine materielle Substanz, es ist ein Angriff auf die Persönlichkeit, die man durch diesen Akt in Besitz nimmt, entmachtet und zerstört. Dieser Akt zerstört auch Hirnsubstanz materiell und zerstört das Immaterielle, das Ich-Gefühl, die Identität.

Susanne Link hatte für den Titel ihrer Gedichte „Auf der Suche“ gewählt. Eines ihrer Gedichte hat den Titel „Auf der Suche nach dem verlorenen Ich“. Im Tagebuch von 1999 schreibt sie darüber, wie das verlorene Ich zu Negativismus, zum Hang für Irreales führt – weil man die Realität nicht ertragen kann. Es ist nicht nur die Angst des Mandelkerns, die ihr Schaffens- und Lebensgefühl überschattet, es ist auch die Identitätssuche, die Trauer nach der verlorenen Identität. In diesem Buch sind Auszüge von fast unübersichtlichen Material, die dazu dienen, ihre Krankheit, ihren Charakter, ihre Reaktion auf die Erkrankung besser zu verstehen, und ihre Gedichte, die sicherlich in der deutschen Literatur Platz haben werden. Sie zeigen die Entwicklung auf vom zerstörten, traumatisierten, pubertären Mädchen zur kranken kritischen Erwachsenen, die ihre Identität sucht.

Auf der Suche nach dem Ich

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