Читать книгу Auf der Suche nach dem Ich - Eva Link-Nagel - Страница 9
Die Anfänge
ОглавлениеDer Geburtsort des Mädchens war Bratislava (Preßburg) in der Slowakei, in einer jüdischen Ärztefamilie, Überlebende des Holocaust.
Sie war ein braves Kind, oft meinte ich, sie sei zu brav. Schon als Baby wollte sie alles allein machen, ohne Hilfe. Sie war das zweite Kind, der Bruder fünf Jahre älter. Weil Hausmädchen und meine Schwiegermutter nur ungarisch sprachen, holten wir Tante Rosenzweig. Die Tante war klein wie ein Kind und zerbrechlich und hatte eine große Tasche voll mit winzigen Puppen. Sie sollte Laci, Susannes Bruder, Deutsch beibringen. Das Mädchen, fast noch im Babyalter, wollte mitspielen und sie wurde nicht weggejagt. Am Hof lernte sie von den anderen Kindern slowakisch, so hatte sie auch später mit Sprachen und dem Lernen keine Schwierigkeiten. Ihr Streben war perfekt zu sein und durch Leistung Lob und zusätzliche Liebe zu erhalten. Motivation gab auch der Wettbewerb mit dem Bruder.
In der Kindheit hatte sie zwei angsterregende Erlebnisse: Ein Fremder wollte sie vom Spielplatz weglocken und in einen Keller zerren. Sie schrie so laut, dass er sie los lies und sie konnte fliehen. Jahre später, als wir in der Schweiz wohnten, erwachten wir von einem furchterregenden Angstschrei. Mein Mann stand auf, eilte ins Kinderzimmer und stieß von dort eine wankende Gestalt durch die Wohnungstür, die nie abgeschlossen war, ins Treppenhaus. Ein schwedischer Student, der die Gelegenheit nutzte, sich in der Schweiz volllaufen zu lassen, verwechselte die Wohnungstür und landete im Kinderzimmer.
Diese zwei beängstigenden Ereignisse hatten keine negative Wirkung auf ihr Verhalten. Susanne hatte ein ruhiges ausgeglichenes Wesen, diszipliniert, ohne Hektik. Mit vierzehn Jahren fuhr sie allein nach Israel, und als sie die auf sie wartenden Verwandten verpasste, konnte sie die Situation lösen. Sie schien damals keine Angst zu haben, oder konnte die Angst verarbeiten und beherrschen. Ihre Motivation war, einerseits den älteren Bruder, der auch Vorbild war, zu überholen, ein gewisser Kampf um Anerkennung spielte mit. Sie lernte mit einer Leichtigkeit und Präzision, mit Sprachen hatte sie nie Probleme. Wohin uns unser Lebensweg führte, nach Israel, in die Schweiz oder Deutschland, mit wechselnden Sprachen und Lernstoff wurde sie spielend fertig.
Sie war überall beliebt, besonders bei Kindern, immer ausgeglichen und lieb. Mit zwölf Jahren beherrschte sie sechs Sprachen. Deutschland war das vierte Land nach der Slowakei, Israel und der Schweiz, wo sie in die Schule ging. Deutschland kurz nach achtundsechzig bot eine andere Qualität als die mehr konservativen anderen Länder. Sie war mit fünfzehn Jahren die jüngste in ihrer Klasse. Sie hatte in fast jedem Land, so auch in Deutschland, eine Klasse übersprungen. Sie wollte Mitglied bei den Falken sein, aber nach kurzer Zeit hörte sie dort auf. Im Sommer nach dem Abitur wurden ihre Zähne mit Spange reguliert, und der Zahnarzt hatte mit einer neuen Mischung von Amalgam die Löcher saniert. Es waren ungefähr vierzehn bis sechszehn Zähne, die so behandelt wurden. Als sie mit sechzehn Jahren etwas zu spät die Periode bekam, hörte sie auf zu wachsen, bei einer Größe von 172 Zentimetern. Emotionell blieb sie aber noch lange in der Pubertät.
Nach dem Abitur war sie mit siebzehn Jahren in die Studienstiftung aufgenommen worden. In dieser Zeit begann sie zu schreiben. Die Kinder und der Vater waren durch ihren Sinn für Humor verbunden: Die Kuckucksuhr, die ja dreidimensional ist, symbolisiert die gelangweilte, resignierte Susanne, die von anderen Dimensionen träumt. In dieser Zeit fängt sie an ein Tagebuch zu führen, die Eintragungen sind etwas kindisch.
Sie kam als 18-jährige in den Universitätsbetrieb in Ulm und damit traten die ersten Auseinandersetzungen auf. Sie wollte in eine Wohngemeinschaft, aber die ganze Familie war dagegen. Die Frage damals war, entweder Wohngemeinschaft oder Familie. Am Ende stand ein Kompromiss: Während des Tages war sie in der Wohngemeinschaft, aber sie schlief zu Hause. Aus dieser Zeit sind die folgenden Gedichte.