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18. Kapitel
ОглавлениеÜberlingen, Bodensee, 5. Februar 1923
Als Johanna die Treppe zur Küche hinunterstieg, sah sie durch das kleine Fenster am Treppenabsatz ihren Großvater und Raphael durch den Garten auf das Haus zukommen.
Seltsam, wunderte sie sich. Es ist doch erst zehn Uhr und der Unterricht müsste in vollem Gange sein! Beunruhigt lief sie die Treppen ganz hinab und öffnete die Tür. Erst jetzt bemerkte sie, dass Raphael völlig verstört war.
»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?«, rief sie erschrocken.
Als sie ihren Großvater anblickte, erschrak sie noch mehr, denn das sonst so gütige, ruhige Gesicht war wutverzerrt und die stets humorvollen Augen glühten vor Zorn.
Raphaels Miene hingegen schien regelrecht erstarrt, und an der Rötung seiner Augen konnte sie erkennen, dass er geweint hatte.
»Raphael, was ist denn los?«, fragte Johanna und wollte ihn in die Arme nehmen. Aber der Junge riss sich los und rannte ins Haus.
Johanna sah ihren Großvater irritiert an. »Nun sag doch endlich, was passiert ist!«
»Diese Schweine!«, zischte Friedrich durch die Zähne. »Diese gottverdammten Schweine!«
Johanna zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Schimpfwörter aus seinem Mund waren selten.
»Wer, Großvater? Wer?«
Doch der alte Mann schüttelte nur den Kopf und sah sie an, als bemerke er sie jetzt erst. Er schien nicht fähig, in Ruhe zu berichten.
Johanna nahm ihn beim Arm. »Großvater«, sagte sie eindringlich. »Willst du mir nicht endlich sagen, was geschehen ist?«
»Sie haben auf Raphaels Schulbank ›Franzosenschwein‹ geschrieben«, berichtete Friedrich mit bebender Stimme. »Alle seine Hefte waren zerrissen oder mit Tinte beschmiert. Als er ins Klassenzimmer kam, haben seine Kameraden ihn angespuckt und getreten, so berichtete jedenfalls der Klassenlehrer. Er hat mich dann gleich geholt.«
»Oh nein«, flüsterte Johanna. »Also doch. Der arme Junge.«
»Ich habe es auch schon befürchtet«, gestand Friedrich. »Aber ich habe mich damit zu beruhigen versucht, dass ich mir sagte, die Leute können nicht so blöd sein, ihre Kinder in diese Angelegenheit mit hineinzuziehen.«
»Aber wusste Raphael denn überhaupt, wie ihm geschah? Ich meine, er denkt doch bis heute noch, dass sein Vater ein deutscher Soldat war, der im Krieg gefallen ist.«
»Nein, er versteht die Welt nicht mehr.«
»Was soll jetzt nur werden?«, flüsterte Johanna hilflos.
»Die Sache ist klar«, erklärte der alte Schuldirektor. »Sophie muss mit dem Jungen die Stadt verlassen.«
»Aber wenn sie nicht will?«
»Sie wird. Verlass dich drauf«, beharrte Direktor Seiler grimmig. »Ich werde nicht zulassen, dass sie sich und meinen Enkel aus purem Trotz in Gefahr bringt.«
Johanna schwieg und dachte an Raphael.
»Und was wird aus dem Jungen?«, fragte sie schließlich. »Ich meine, er muss jetzt die Wahrheit erfahren und diese wird ihn treffen wie ein Schlag.«
»Er ist nicht feindlich gegen die Franzosen eingestellt. Er hat nur ein paar Mal die Sprüche der anderen nachgeplappert.«
»Das nicht, aber nur, weil wir es nicht sind. Von der Außenwelt bekommt er immer wieder eingetrichtert, wie schlecht sie sind.«
»Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn du mit ihm reden würdest«, sagte Friedrich nachdenklich. »Raphael vertraut dir und du hast eine bemerkenswerte Fähigkeit, solche Gespräche zu führen.«
»Du meinst, ich soll ihm beibringen, dass …«
»Ja.«
»Vielleicht hast du recht«, lenkte Johanna ein. »Sophie ist zu sehr in diese Geschichte verwickelt.« Sie straffte die Schultern. »Ich werde mit ihm reden. Aber nur mit Sophies Segen. Ich werde sie fragen.«
»Tu das«, sagte der alte Schuldirektor. »Aber erst gehe ich zu ihr.«
Johanna starrte ihm nach, wie er das Haus betrat und mit schweren Schritten die Treppe hinaufging. Mit einem Mal stieg Ärger in ihr auf. »Warum muss immer ich die schwierigen Gespräche führen?«, murmelte sie wütend. »Gerade erst habe ich das mit Sophie hinter mich gebracht und jetzt steht schon wieder eines an … Ich weiß nicht, manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mich ganz schön ausnutzen lasse.«