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26. Kapitel

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Essen, Ruhrgebiet, 9. März 1923

Sophie kämpfte sich mit Raphael durch die dichte Menschenmenge im Bahnhof. Sie hielt ihren Sohn fest an der Hand, um ihn nicht zu verlieren. Mit der Rechten trug sie den schweren Koffer, in dem sich die notwendigsten Dinge befanden. Auch Raphael hatte einen Koffer bei sich. Vor einer halben Stunde waren sie am Bahnhof angekommen, und seitdem hatte Sophie das Gefühl, die Stadt würde sie verschlingen. Zum ersten Mal fragte sie sich bang, ob Johanna vielleicht doch recht gehabt hatte mit ihrer Warnung. Ob sie auf die Freundin hätte hören sollen. Andererseits war bisher ja alles gut gegangen. Johanna hatte ihr auch von der Zugfahrt abgeraten, gerade im Zugverkehr, hatte sie zu bedenken gegeben, kontrollierten die Franzosen viel. Sie beschlagnahmten Lokomotiven und durchforsteten die Waggons nach Kohle, denn sie hatten den Deutschen verboten, Kohlen ins unbesetzte Deutschland zu liefern, und wollten nun dafür sorgen, dass ihr Verbot auch eingehalten wurde. Und genau deshalb, hatte Sophie argumentiert, durchsuchten sie doch wohl Züge, die das Ruhrgebiet verließen, aber sicherlich kaum welche, die hineinfuhren. Außerdem fahndeten sie nach Eisenbahnern, die ihnen den Gehorsam verweigerten – erwischten sie einen, wurde er eingesperrt und vielleicht sogar erschossen. »Und ich sehe ja nun wirklich nicht aus wie ein Eisenbahner.« Mit diesem Satz hatte Sophie der besorgten Johanna sogar ein Lächeln abgerungen.

Sophie umklammerte Raphaels Hand fester, als der Menschenauflauf sich verdichtete. Sie wurde unruhig.

Was ist denn hier los?, fragte sie sich. Ich muss sehen, dass wir schnell hier wegkommen, womöglich ist das eine Demonstration; um das zu erleben, ist Raphael wirklich noch zu klein.

Plötzlich fingen die Menschen an, wild durcheinanderzurufen. Sie hoben die Fäuste und sangen: »Deutschland, Deutschland über alles …«

Sophies Herz raste. Sie sah sich gehetzt um und versuchte, den Grund für die plötzliche Aggression festzustellen. Auf den ersten Blick konnte sie nichts entdecken, dann aber sah sie einen Zug in den Bahnhof einfahren, aus dem wenig später zufrieden aussehende, aber rußgeschwärzte französische Offiziere quollen. Es war ihnen also wieder einmal gelungen, einen Kohletransport aufzuhalten. Die Menschen im Bahnhof protestierten dagegen und vor allem gegen die Verhaftung des Eisenbahnführers und der Mannschaft.

Plötzlich ertönten Schüsse, Menschen brüllten und kreischten, Panik brach aus. Sophie schrie, als sie von hinten angerempelt wurde und zu Boden stürzte. Dabei verlor sie Raphaels Hand und wurde von ihm getrennt, im Nu war er in der tosenden Menschenmenge verschwunden.

»Nein!«, brüllte sie und versuchte, sich aufzurichten. Doch ihre Hektik war zu groß und der Sturm der wild durcheinanderrennenden Menschen zu stark. Wieder und wieder stürzte sie zu Boden, Schuhe traten auf ihre Hände. Tränen liefen über ihre Wangen, sie brüllte ein ums andere Mal verzweifelt: »Raphael! Wo bist du?«

Neue Gewehrsalven krachten, die Menschen versuchten sich zu retten. Sophie begann zu schreien und hörte nicht mehr auf.

Kornblumenjahre

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