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22. Kapitel
ОглавлениеÜberlingen, Bodensee, 5. Februar 1923
Sie suchten Raphael überall. Im Stall, an seinen Lieblingsplätzen im Garten und natürlich auch im Haus. Er war nicht zu finden.
»Warum habe ich ihn nur alleine gelassen?«, jammerte Johanna. »Ich habe doch gemerkt, dass er völlig verstört war. Ich hätte bei ihm bleiben müssen.«
»Er wollte alleine sein«, sagte Sebastian beruhigend. »Und er ist alt genug, dass man diesen Wunsch respektieren muss. Das war schon ganz richtig, Johanna.«
»Aber er ist nicht alt genug, um um diese Zeit draußen herumzulaufen«, sagte Johanna nervös. »Vor allem nicht nach all dem, was geschehen ist. Fällt dir noch ein Ort ein, wo er sein könnte?«
Sebastian dachte angestrengt nach. »Den Schuppen durchsucht Sophie, obwohl sie eigentlich noch im Bett bleiben sollte. Aber ich glaube nicht, dass er dort ist.«
Plötzlich hatte Johanna einen Geistesblitz. »Ich weiß, wo er ist!«, stieß sie hervor und packte Sebastian am Arm.
Sebastian sah sie fragend an. »Wo?«
»Er hat mir neulich eine Stelle am See gezeigt, in Richtung Goldbach. Dort sitzt er gerne.«
»Das wäre eine Möglichkeit!«, rief Sebastian erleichtert. »Lass uns gleich nachsehen.« Er ließ Johanna nicht los, als er durch den dunklen Garten rannte. »Sebastian«, keuchte Johanna, »einer von uns muss bei Susanne und Robert bleiben. Großvater ist doch in der Schule, um mit Raphaels Lehrer zu sprechen.«
»Du hast recht.« Sebastian strich sich das dunkle Haar aus der Stirn. »Aber da ich Raphaels Lieblingsstelle nicht kenne und du unmöglich allein durch die Nacht laufen kannst …«
Aber Johanna hörte ihn schon nicht mehr. Ehe ihr Gatte sie aufhalten konnte, war sie zum Gartentor hinaus.
Sebastian blickte ihr hilflos hinterher und überlegte, ob er ihr nachlaufen sollte. Dann aber hörte er im Haus Susanne weinen und ging hinein.
Johanna ist schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden, sagte er sich, sie wird auch diese meistern.
Im Haus traf er auf eine völlig hysterische Sophie, die damit beschäftigt war, die einzelnen Schränke nach ihrem Sohn zu durchsuchen.
»Das hat doch keinen Sinn, Sophie«, erklärte Sebastian. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Raphael seit Stunden in einem der Schränke hockt.«
»Ich kann einfach nicht untätig herumsitzen«, schluchzte Sophie. »Und die wahrscheinlichen Möglichkeiten habe ich schon alle durch.«
»Johanna ist zum See runter, um ihn an seinem Lieblingsplatz zu suchen.«
Sophie starrte Sebastian an und schlug sich gegen die Stirn. »Der Felsen am See!«, rief sie erleichtert. »Warum bin ich darauf noch nicht gekommen?«
Sie machte sich von Sebastian los und rannte in Richtung Tür.
»Wo willst du hin?«, fragte er, obwohl er es genau wusste.
»Zum See, wohin denn sonst?«
»Sophie, du kannst nicht alleine dort hin. Nicht mitten in der Nacht.«
»Hast du Angst, dass einer der Überlinger mich überfällt?«, fragte Sophie spöttisch und ging eilig in den Garten hinaus. »Außerdem hast du deine Frau doch auch gehen lassen«, rief sie über die Schulter.
»Auf Johanna ist auch kein Anschlag verübt worden«, argumentierte Sebastian. »Denk daran, was neulich geschehen ist.«
»Umso gefährlicher ist es für Raphael, draußen herumzulaufen. Ich muss zu ihm.«
»Du kannst ihn nicht schützen und du hilfst ihm nicht, indem du dich selbst in Gefahr bringst. Wenn dir etwas zustieße, dann müsste er auch noch damit fertig werden.«
»Aber er ist ganz allein da draußen.«
»Er ist nicht allein. Johanna sucht nach ihm und die kann ihn im Moment besser schützen als du.«
»Ich werde trotzdem gehen«, sagte Sophie verzweifelt. »Ich muss.«
Sebastian stellte sich ihr in den Weg. »Ich lasse dich nicht gehen. Du solltest lieber hierbleiben und deine Sachen packen.«
Sophie starrte ihn wütend an. »Immer muss alles nach deinem Kopf gehen.«
»Sophie, was du vorhast, ist unvernünftig.«
»Es ist mir egal.« Sie stieß Sebastian zur Seite. »Ich mache, was ich will.«
Dann öffnete sie das Gartentor und trat auf die dunkle Straße hinaus.