Читать книгу Tatort Bodensee - Eva-Maria Bast - Страница 11
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ОглавлениеDer Tag im Strandbad Ost von Überlingen war traumhaft schön verlaufen. Urlaub, wie er idealer fast nicht sein konnte, nur – ganz ehrlich – zu zweit, also mit Claudia, wäre alles doch noch viel schöner gewesen. Das gestand sich Horst ehrlicherweise ein, wie er da alleine auf dem Rasen liegend dem bunten Treiben um sich herum im Ostbad zuschaute. Vor allem die Pärchen oder die Familien mit Kindern erinnerten ihn nachdrücklich immer wieder daran, dass er zum Single halt doch nicht geschaffen, sondern in Wirklichkeit – aller ärgerlichen Beteuerungen dann und wann zum Trotz – ein ausgesprochener Familienmensch war, dem allein zu Hause oder im Urlaub recht schnell die Decke selbst da auf den Kopf fiel, wo – wie im Strandbad – gar keine Decke vorhanden war.
Dennoch, bei solch schönem Wetter am See, auf dem penibel kurz gemähten saftig-grünen Rasen seines Lieblingsbades in Überlingen war sich Horst wieder mal bombensicher: Nirgendwo konnte Urlaub schöner sein als am Bodensee – sofern natürlich das Wetter mitmachte. Kein unangenehm schmeckendes Salzwasser im Mund, kein lästiger Sand, der sich in alle Poren setzte, eine picobello gepflegte Anlage mit Süßwasserdusche, Rasen, ein schönes Baderestaurant mit Currywürstchen, Schnitzel, Pommes und Hefeweizen: Herz, was willst du mehr?
Beschwingt radelte Horst am Abend die paar Meter zurück nach Nußdorf zum Wohnwagen, der sich ihm bei seiner Ankunft am Vormittag schon in angenehm gutem Zustand präsentiert hatte. Der Landwirt, auf dessen Platz Frieders mobiles Feriendomizil abgestellt war, war bereits von seinem bevorstehenden Eintreffen unterrichtet gewesen und hatte ihn schon erwartet. Schnell war der Koffer ausgepackt und der noch benötigte Proviant besorgt gewesen, sodass einem gemütlichen Abend am See eigentlich nichts mehr im Wege stand.
Horst beschloss, sich zunächst einmal sommer-ausgehfertig umzuziehen: weiße Jeans, gelbes Polo T-Shirt und die Wildledermokassins – genau der richtige Dress, um noch ein oder zwei Stunden auf der Überlinger Uferpromenade entlangzubummeln und sich dort hinterher noch im »Faulen Pelz« ein oder zwei Spätburgunder-Weißherbst zu gönnen. Einen vielleicht vom Überlinger Spitalweingut und den anderen – mal sehen, was auf der Karte stand – entweder vom markgräflichen Weingut auf der Birnau oder aber einen Hagnauer von der dortigen Winzergenossenschaft. So ein richtig schöner gemütlicher Absacker mit einem kühlen, erfrischenden Weißherbst vor sich und die an der Promenade auf- und abflanierenden Menschen – das gehörte für ihn einfach zu einem Sommerurlaub in Überlingen dazu, wie das Wasser zum Bodensee.
Während er so gemütlich im »Faulen Pelz« saß, dessen an die Fassade gemalten Wahlspruch »Faul ist und bleibt der Pelz« er bei jedem Besuch aufs Neue wieder mit einem zufriedenen Lächeln quittierte, blätterte er im neuen »Bodensee-Magazin«, das er vorher am Kiosk an der Uferpromenade erstanden hatte. Mal schauen, welche Angebote in der näheren Umgebung er noch nicht kannte und wohin man vielleicht mal an einem nicht ganz so schönen und sonnigen Tag einen lohnenswerten Ausflug unternehmen konnte. Der Rahmen war ja mittlerweile ganz schön weit gespannt: fast hundert Kilometer im Umkreis, da gab es sicher noch manches zu entdecken, während er das Seeufer und das unmittelbare Bodensee-Hinterland halt doch schon fast flächendeckend abgegrast hatte.
Jetzt begann die Sonne allmählich tiefer zu sinken und das gleißend-helle Licht, das diesen Tag so warm und strahlend gemacht hatte, ging allmählich in zarte Rottöne über. Es war ein Sonnenuntergang am Wasser wie aus dem Bilderbuch: die Sonne, die ihre letzten Strahlen nun glutrot an den mittlerweile von einigen Wolken strukturierten Himmel schickte, während sich auf dem Wasser ein kilometerlanger roter Teppich vom Ufer bis zur Sonne zu spannen schien. Eine Sicht, wie sie klarer nicht sein konnte: im Hintergrund die zum Greifen nahen Alpen, ein allmählich aufkommendes warmes Lüftchen, das den zahllosen Segelbooten draußen auf dem See ermöglichte, etwas schnellere Fahrt in Richtung Hafen aufzunehmen, ein orangefarbener Reflex am gegenüberliegenden Ufer bei der Mainau drüben, einige Sekunden später noch mal einer. Nein, halt, Horst setzte sich auf und blinzelte mit den Augen. Das konnte doch eigentlich gar nicht sein, oder doch? Das war kein Reflex, es war vielmehr das orangene Blinklicht der rings um das ganze Seeufer aufgestellten Sturmwarnleuchten. Horst zählte langsam mit: ungefähr alle anderthalb Sekunden ein Blitzlicht, das bedeutete Sturmvorwarnung, also zunächst einmal eine Vorsichtsmeldung. Wären die Blitze im Abstand von weniger als einer Sekunde ausgesandt worden, hätten sie unmittelbare Sturmgefahr signalisiert, also die dringende Aufforderung an alle Boote auf dem See, sofort den nächsten Hafen anzusteuern. Auch die Kapitäne der Segelboote hatten die Warnlichter registriert – es war deutlich zu erkennen, wie die meisten von ihnen nun auch reagierten und schneller als ursprünglich geplant Kurs auf den Hafen und ihre Liegeplätze nahmen.
Eigentlich fast nicht vorstellbar, dass an diesem angenehm-milden Sommerabend von irgendwoher Sturm aufkommen sollte, doch Horst kannte »seinen« See in der Zwischenzeit gut genug, um zu wissen, dass Gewitter – gerade bei der momentan vorherrschenden Föhnwetterlage – von jetzt auf nachher praktisch wie aus heiterem Himmel von den Alpen herunter über den See jagen konnten, ohne dass man eine Viertelstunde zuvor als arglos auf dem Wasser dahinschippernder Segelbootslenker im Entferntesten an eine derart schnelle Änderung der Wetterverhältnisse geglaubt hätte. Aber genau diese tückische, sich blitzschnell ändernde Wetterlage war in der Vergangenheit schon so manchem Freizeitkapitän samt seinem Boot zum Verhängnis geworden, und nicht zuletzt aus je-
nem Grund waren vor vielen Jahren schon die orangenen Sturmwarnleuchten rings um den gesamten See installiert worden.
»Na, was sagst du dazu? Würde man doch im Traum nicht für möglich halten, dass wir heute noch Sturm bekommen sollen!« Horst schreckte aus seinen Gedanken auf und blickte hoch. Er hatte vor lauter Sinnieren überhaupt nicht bemerkt, wie sich jemand seinem Tisch genähert hatte.
Um so verblüffter war er jetzt, nachdem er den vor ihm Stehenden erkannte. »Thomas! Was tust du denn da? Wie hast du mich denn gefunden?«
Thomas Grundler, ein sympathischer, leger gekleideter braun gebrannter Mann Anfang 40, lächelte leise. »Na – ich bitte dich! Wo muss man denn den Hotte schon suchen, wenn man ihn am Wohnwagen in Nußdorf nicht finden kann? Entweder im Ostbad – aber dazu war es meiner Meinung nach schon fast zu spät am Tag – oder aber im »Faulen Pelz« in Überlingen, wo er sich noch einen kleinen Absacker-Weißherbst gönnt! Andere Möglichkeiten sind um diese Uhrzeit bei diesem Wetter fast auszuschließen! Du siehst also, mein Lieber«, und nun zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht, »du bist ganz schön leicht auszurechnen mit deinen Gewohnheiten! Also gerate ja nie auf die andere Seite: Dich hätten wir nämlich unter Garantie blitzschnell geschnappt – wetten?!«
Ebenfalls lachend hob Horst abwehrend die Hände: »Hab ich auch gar nicht vor. Ich tauge, glaub ich, nicht so sonderlich gut zum Al Capone. Außerdem müsste ich dann ja Zigarren rauchen – wär nix für mich und meine Lunge! Aber komm«, er beugte sich vor und zog einladend einen Stuhl an den Tisch, »setz dich endlich hin! Ist ja eine tolle Überraschung, dass es doch noch geklappt hat mit uns beiden. Prima! Dann können wir ja doch noch einen draufmachen heute Abend!«
Thomas Grundler ließ sich bedächtig auf dem ihm angebotenen Stuhl nieder. Er warf den Kopf in den Nacken, streckte die Beine aus und ließ einen lang gezogenen Seufzer hören. »Brrr – tut das gut. Endlich mal ein bisschen Entspannung.« Er beugte sich vor und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf Horsts noch halb volles Weinglas. »Darf ich mal? Ich hab’s wirklich dringend nötig!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sich Thomas das Glas und nahm einen ausgiebigen Schluck von dem kühlen Weißherbst zu sich. »Ahhh – fantastisch! So schnell geht’s einem besser, wenn das richtige Getränk auf dem Tisch steht! Hallo!« Mit diesem Ruf drehte er sich in Richtung der Kellnerin, die gerade am Nebentisch bediente, und deutete mit dem Zeigefinger auf das Glas. »Noch zwei, bitte – vom selben!« Er setzte das Weinglas ab und rieb sich mit der einen Hand heftig den linken Unterarm, dann den Unterschenkel. »Verdammt, da juckt was furchtbar. Mir scheint, ich hab die Krätze! Da guck mal hin!«
In der Tat war der Arm, den Thomas gerade so heftig gerieben hatte, krebsrot geworden – eine ungesunde Farbe, die sich durch das Kratzen mit den Fingernägeln nun noch verstärkte.
Horst schüttelte den Kopf. »Dann lass doch die Kratzerei sein und hol dir eine Salbe aus der Apotheke. Das ist sicher irgendeine Allergie, da hast du vielleicht was gegessen, das du nicht verträgst, und da machst du es mit Kratzen nur noch schlimmer. Es ist schließlich Sommer, da schwirren jede Menge Pollen durch die Luft, da ist man empfindlicher gegen irgendwelches Zeugs als im Winter!« Horst als jahrzehntelanger Heuschnupfenkandidat wusste haargenau, wovon er sprach. Gott sei Dank war die Heuschnupfensaison bei ihm für dieses Jahr aber vorüber: sie dauerte alljährlich – man konnte regelrecht die Uhr danach stellen – immer sechs Wochen, von Mitte Mai bis Ende Juni.
»Wahrscheinlich hast du recht«, nickte Thomas zustimmend. »Aber das ist grade erst gekommen, einfach so! Wird schon wieder verschwinden!« Sprach’s – und kratzte sich nun am Hinterkopf und danach intensiv am rechten Oberarm.
In Horst regte sich allmählich Unmut. »Mensch, hör bloß auf! Die Leute gucken schon! Das sieht ja aus, als ob du Flöhe hättest!«
Thomas verzog das Gesicht. »Du hast leicht reden, dich juckt’s ja nicht!«
»Und wie oft habt ihr alle über mich und meine Heuschnupfenattacken gelästert und behauptet, das sei alles nur psychisch – ich solle mit Claudia zur Eheberatung oder so und schon würde der Schnupfen aufhören? Jetzt weißt du mal, wie das ist – von wegen psychisch!« Horst erinnerte sich an mehr als ein Beispiel, wo er am liebsten an die Decke gehüpft wäre, wenn die Kollegen auf irgendeinem Lehrgang im Sommer mal wieder über seine ständig laufende Nase gelacht und ihm hämisch grinsend den Gang zum Psychologen angeraten hatten.
Sein Gegenüber lächelte gequält. »Gar nicht mal so falsch mit der Psyche! Aber was ist denn nun mit dem Wein? Fräulein! Hallo!« Suchend blickte er sich um, bis er die Bedienung entdeckte. »Ja, genau! Denken Sie noch an unseren Weißherbst? Okay – wir sind nämlich grade am Verdursten!« In gespielter Verzweiflung die Augen rollend drehte er sich wieder zu Horst. »Ich sag’s dir, die Bedienungen am See sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren! Lauter Ausländer und von nichts eine Ahnung. Nur wenn’s ums Trinkgeld geht, da sind sie fit wie ein Turnschuh – fürchterlich!«
Horst blickte seinen Kollegen verwundert an. Thomas, den er bisher nur als die Leutseligkeit in Person gekannt hatte, schien mit einem Mal ein ganz anderer geworden zu sein. Nervös, fahrig, sich ständig hastig umblickend, kratzend, polternd: So hatte er den Kriminalkommissar aus Meersburg noch nie erlebt! Er beugte sich leicht vor und sah Thomas direkt ins Gesicht: »Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so nervös, wie ich dich noch nie vorher gesehen habe! Stimmt irgendetwas nicht?«
Thomas schoss erkennbar die Röte ins Gesicht. Verlegen schaute er zur Seite, senkte den Kopf und sagte gar nichts. Horst spürte, dass da etwas war, mit dem Thomas innerlich kämpfte. Am besten, er wartete ab und ließ ihn den Kampf mit sich allein ausfechten. Erst nach einer ganzen Weile hob Thomas den Kopf und öffnete zögernd den Mund. »Ja also, weißt du, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen …«
Doch gerade in diesem Augenblick kam die Bedienung mit zwei Gläsern Wein und unterbrach die Unterhal-
tung. »Bitte schön, zwei Kaiserstühler Gutedel. Sehr zum Wohl!«
Verwundert blickten die beiden erst sich, dann die Bedienung an. Horst fand als erster die Sprache wieder: »Wer hat denn hier Weißwein bestellt?«
»Na, der Herr da neben Ihnen!« Für die Bedienung schien alles glasklar zu sein. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Thomas.
Der reagierte mit einem zornigen Schnauben. »Also, jetzt glaub ich das auch noch! Ich und Weißwein, und dann noch«, er nahm einen vorsichtigen Schluck aus dem Glas. »Dachte ich’s mir doch! Honigsüß! Also, dass das klar ist!« Mit strengem Blick fixierte er die nun schon deutlich eingeschüchterte Bedienung. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Glas lieblichen Weißwein getrunken, und schon gar keinen Gutedel. Das kann ich also in hundert Jahren nicht bestellt haben. So – nehmen Sie also das Gesöff wieder mit«, damit griff er sich die beiden Gläser und stellte sie energisch zurück aufs Tablett, »und dann bringen Sie mir das, was ich auch bestellt habe: nämlich zwei Gläser Weißherbst, trocken natürlich. Und zwar Überlinger, Überlinger Spitalweingut! Und falls Sie das nicht haben, dann einen Birnauer oder einen Hagnauer oder meinetwegen einen Meersburger! Aber bitte: Weißherbst, trocken und kühl – Okay? Okay!« Mit einer energischen Handbewegung schob er die verdatterte Bedienung samt ihrer zwei vollen Weißweingläser zurück in Richtung Lokal und lehnte sich mit einem resignierten Seufzer zurück. »Ich sag’s ja: die Bedienungen am See! Es gibt Tage, da kommt wirklich alles zusammen!«
Horst wunderte sich aufs Neue über die Aggressivität, die Thomas heute an den Tag legte. Beruhigend legte er seine Hand auf die Linke seines Gegenübers. »Na komm, ist doch kein Beinbruch! Kann doch mal passieren! Und wenn du es richtig betrachtest: Du hast doch nur das leere Glas gehoben und drauf gedeutet – da kann man doch schon mal im Eifer des Gefechts was verwechseln, oder?«
»Fall du mir ruhig auch noch in den Rücken! Einer mehr oder weniger, das spielt ja allmählich auch keine Rolle mehr!« Bitter zog Thomas die Mundwinkel herunter und starrte auf den Boden.
»Aber jetzt halt mal langsam die Luft an! Keiner ist gegen dich! Ich zumindest nicht! Jetzt spuck aber endlich mal aus, wo denn eigentlich der Schuh drückt!« Horst stand auf und zupfte seinen Kollegen am Hemdsärmel. »Wir gehen aber besser rein, denn ich glaube, es dauert nimmer lang, und dann wütet es hier draußen wirklich!«
Mittlerweile hatte sich das anfänglich so laue Sommerabendlüftchen in einen unangenehm blasenden Wind verwandelt, der auf dem See draußen für die ersten Schaumkronen auf den Wellen sorgte. Es war dämmrig geworden und der gerade eben noch so romantisch-friedlich schimmernde See hatte eine unschöne schwarzgraue Farbe angenommen. Das Alpenpanorama war wie mit einem Schlag verschwunden und dunkle Gewitterwolken verdeckten die Berge. Die orangenen Lichter an der Uferlinie blinkten mittlerweile hektischer – genau 90 Mal in der Minute: Sturmwarnung!