Читать книгу Tatort Bodensee - Eva-Maria Bast - Страница 17
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Оглавление»Tut mir leid! Wirklich!« Der Arzt schien tatsächlich geknickt und deprimiert, als er Horst am Tag danach die niederschmetternde Wahrheit zu offenbaren hatte. Immerhin hatte es der Professor höchstpersönlich für nötig erachtet, Horst im Druckkammerzentrum für verunglückte Taucher des Kreiskrankenhauses Überlingen die bittere Erkenntnis mitzuteilen: Exitus!
»Da war nichts mehr zu machen – überhaupt nichts mehr! Ihr Kollege war schon tot, als er an die Oberfläche geschwemmt worden ist!«
Horst fasste sich mit beiden Händen an den Kopf: Er konnte einfach nicht glauben, was er da gerade eben gehört hatte! Exitus! Aus! Schluss! Vorbei! Thomas war tot! Gestorben bei einem Tauchgang, auf dem er, Horst, ihn begleitet hatte! Unmöglich! Ein Unding! Das konnte nicht, das durfte einfach nicht wahr sein!
»Und der Herr Dr. Bär hat auch schon angerufen! Auch ihm habe ich natürlich nichts Besseres mitteilen können.« Rastlos wanderten die Augen des Chefarztes zwischen Horst, dem Fenster und der mittlerweile sperrangelweit offen stehenden Tür der Druckkammer hin und her. Dort hatte er sofort nach seiner Ankunft mit dem Notarztwagen vorsichtshalber die letzten 24 Stunden verbringen müssen, dort hatte man seinen Körper wieder auf die Druckverhältnisse in der Tiefe konditioniert und den Druck dann ganz allmählich vermindert. Er hatte gewaltiges Glück gehabt – das hatten ihm die behandelnden Ärzte mehr als nur einmal kopfschüttelnd versichert. Aus dieser Tiefe nach einer Grundzeit von knapp zehn Minuten so blitzschnell an die Oberfläche durchzuschießen: Das hätte leicht mit einer schweren bleibenden inneren Verletzung, Querschnittslähmung oder gar mit dem Exitus enden können!
Exitus! Das Wort schoss blitzartig wie eine Harpune durch sein Gehirn, um wenig später in einem grellen Blitz in seinem Kopf zu explodieren. Ihm wurde schwindlig. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich mit den Händen an der Lehne des vor ihm stehenden Stuhles festklammern. Die Bilder würden ihm zeitlebens nicht mehr aus dem Kopf gehen. Während man ihm Infusionen angelegt und ihn für die Zeit in der Druckkammer vorbereitet hatte, konnte Horst neben sich die Liege erkennen, auf der ein nach wie vor lebloser Körper, gespickt mit Infusionen, Pflastern und Reanimationsgeräten, von hektisch sich bewegenden Ärzten und Schwestern umringt war: Thomas! Keiner hatte ihm in den letzten Stunden die Frage beantwortet, was denn mit seinem Freund geschehen war, ob er noch lebte, weshalb man nicht erst einmal ihn in der Druckkammer behandelt hatte, ob es denn tatsächlich so schlimm um ihn stünde, wie es den furchtbaren Anschein hatte.
Und jetzt dies – wie ein Blitz aus heiterem Himmel die endgültige Diagnose: Es war aus, vorbei. Thomas war gestorben, sie hatten ihm nicht mehr helfen können! Thomas war tot!
Schauernd wandte er sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um sich auf die Worte des Professors zu konzentrieren. Was hatte der da gerade von irgendeinem ihm unbekannten Anrufer gesprochen? »Wie, der Herr Bär? Welcher Herr Bär?« Irritiert stierte er den Professor an.
»Na, der Landrat!« Genauso indigniert glotzte der ganz offensichtlich schwer gestresste Mediziner nun zurück. Sicher, auch für einen wie ihn, der ja jeden Tag schon rein berufsmäßig irgendwie im Clinch mit dem Tod zu liegen hatte, war so eine Geschichte alles andere als leicht zu verdauen. Wozu war man schließlich – zu Recht – stolz auf die Druckkammer im Überlinger Krankenhaus? Um wie viele Lichtjahre würde es nun die Statistik wieder zurückwerfen, wenn man einen Exitus während des laufenden Betriebs zu verzeichnen hatte. Während eines Betriebs, der doch schon so viele Leben gerettet hatte – wie auch immer und zu welchem Preis auch immer (was sowohl die Frage nach der künftigen Lebensqualität des so geretteten, eventuell im Rollstuhl sitzenden Notfallpatienten genauso aufwarf wie die hartnäckige, ständig wiederkehrende Frage der Krankenkassen nach Kosten und Effizienz einer solchen Einrichtung). Klar, dass die verantwortlichen und auf ihre Druckkammer wie erwähnt stolzen Ärzte alles andere als erbaut darüber waren, dass nach langer Zeit mal wieder einer ihrer Patienten »über den Jordan gegangen war«!
»Welcher Landrat?« Soweit Horst sich in der Kommunalpolitik des Landkreises Friedrichshafen auskannte, und zu diesem gehörte schließlich auch die Stadt Überlingen, hörte der Landrat des Bodenseekreises auf einen ganz anderen Namen.
Mit einer unwirschen Bewegung des rechten Armes schien der Chefarzt Horsts Frage regelrecht vom Tisch zu wischen. »Na, der Dr. Bär eben – der Landrat von Konstanz! Wer denn auch sonst?!« Missmutig fixierte er sein Gegenüber durch die dicke Hornbrille hindurch.
»Aber der ist doch dafür gar nicht zuständig, woher weiß denn der schon …«
»Was heißt hier: nicht zuständig? Schließlich ist der Unfall – rein theoretisch – in der Schweiz passiert und ein Beamter aus dem Landkreis Konstanz war das Opfer! Wir sind doch hier nicht in einer Bananenrepublik, sondern in einem modernen telekommunikativen Rechtsstaat, hören Sie mal! Da weiß man so was eben ganz einfach! Da hat man das schlichtweg zu wissen!« Zornesfalten zerfurchten nun die Stirn des Mediziners. »Und glauben Sie bloß nicht, dass diese Geschichte so mir-nichts-dir-nichts im Sande verlaufen wird! Das ist eine internationale Affäre, die noch nicht einmal innerhalb der Europäischen Gemeinschaft geregelt werden kann. Denn der Unfall ist schließlich auf Schweizer Boden passiert, und das macht die Sache besonders delikat!«
Horst konnte – trotz seines momentanen Gemütszustandes – einfach nicht anders: »Na ja, Schweizer Boden würde ich nicht direkt sagen, eher schon Schweizer Wasser …«
Der Professor fixierte ihn mit einem bösen Blick: »Also ich an Ihrer Stelle würde mir mehr Gedanken über eine ordentliche Erklärung der ganzen Chose machen, als mein bisschen Gehirnschmalz auf solch eine saudumme Replik zu verwenden! Jetzt sagen Sie doch endlich mal: Was ist da unten denn eigentlich passiert?«
»Wenn ich das nur wüsste!« Horst war dem Wahnsinn nahe; es war ein regelrechter Albtraum, dem er sich seit Stunden wehrlos ausgesetzt fühlte. Und wenn er ehrlich war, wusste er nicht mehr aus noch ein. »Ich kann Ihnen nur so viel sagen, dass wir zusammen ordnungsgemäß abgetaucht sind, alles war vorher durchgecheckt, alle Systeme waren in Ordnung. Wir haben nichts übertrieben, haben uns am Grund völlig kontrolliert und normal verhalten, Thomas war sowieso ein absolut umsichtiger und erfahrener Taucher …«
Der Professor schnaubte wütend: »Erfahrener Taucher! Wenn ich das schon höre … Wie viele ›erfahrene Taucher‹ vom Teufelstisch habe ich schon hinterher auseinandernehmen müssen? Und jedes Mal dasselbe: Selbstüberschätzung, Panik, Exitus …!«
Jetzt stieg auch in Horst allmählich die Galle hoch! Nein, derartige Legenden würde er seinem toten Freund nicht anhängen lassen! »Reden Sie keinen Blödsinn, ja! Sie waren schließlich nicht dabei! Also noch mal: Da war nichts und da gab es auch nicht den Hauch eines Fehlverhaltens! Mir ist die ganze Geschichte mehr als schleierhaft!«
Horst wurde schwindlig, wenn er auch nur ansatzweise an die zurückliegenden fünf Horrorstunden dachte: Als er panikartig zurück zum Ankerseil geschwommen war, hatte er schemenartig zuckende Bewegungen im Wasser wahrgenommen. Das musste Thomas sein! Doch durch das aufgrund der hektischen Flossenschläge heftig durcheinandergewirbelte Sediment war eine klare Sicht selbst auf gerade mal drei Meter Entfernung unmöglich geworden. Thomas! Was war mit ihm geschehen?! Wieso bewegte er sich derart merkwürdig und wieso baumelte da unter ihm … Nein! Was er da sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren! Weshalb um alles in der Welt hatte Thomas denn sein Mundstück herausgenommen und es offenbar auch nicht einmal in der Hand behalten?
Horst hatte keine Chance, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, denn im selben Moment schoss Thomas, wie von einer Rakete getrieben, in Richtung Oberfläche! Das durfte doch alles einfach nicht wahr sein! Horst fühlte sein Herz unter dem dicken Neoprenanzug heftig pochen. War das etwa die erste Stufe des Tiefenrausches? Verfolgten ihn üble Halluzinationen? War mit Thomas tatsächlich irgendetwas Schlimmes geschehen oder befand er sich selbst mittlerweile in Lebensgefahr, weil seine Sinne ihm Dinge vorspiegelten, die weitab von der Realität waren, ja sein mussten?! Hatte in Wirklichkeit also ihn der Tiefenrausch in seine tödliche Umklammerung genommen?
Unter Nichtbeachtung sämtlicher Dekotabellen und Sicherheitsmargen folgte Horst seinem Tauchpartner so schnell wie irgend möglich nach oben. An der Wasseroberfläche angekommen glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können. Tatsächlich: Hier trieb Thomas, mit dem Bauch nach oben, das Mundstück ausgespuckt (ganz offensichtlich war ihm unter Wasser schlecht geworden und er hatte sich übergeben müssen). Ein dünnes rotes Rinnsal floss aus seinem Mund, die Augen waren in panischem Entsetzen auf einen fiktiven Punkt am Himmel gerichtet, der Atem ging unregelmäßig, keuchend und stoßweise.
»Thomas, um Gottes willen, Thomas! Was ist denn um alles in der Welt passiert da unten?« Nur mühsam stieß Horst die Worte hervor, überwältigt vom dramatischen Geschehen der letzten fünf Minuten und selbst kurz vor einem Ohnmachtsanfall stehend!
Doch aus Thomas’ Mund kam keine Antwort mehr. Hektisch zerrte Horst am Jacket des Verunglückten – er musste ihn irgendwie ins Boot bekommen, aber wie um alles in der Welt? Übelkeit stieg in ihm auf, eine eiserne Kralle schien gnadenlos sein Gehirn zusammenzuquetschen! Er war viel zu schnell aufgestiegen, das war klar, aber was tun jetzt? Bloß nicht ohnmächtig werden, alle Kräfte zusammennehmen, sich konzentrieren, dagegen ankämpfen, sonst hatten sie beide keine Chance mehr. Wo war das Boot eigentlich? Er schaute sich um – na, Gott sei Dank! Er löste seinen Griff von Thomas und schwamm mit wenigen Flossenschlägen hinüber. Aber wie hineinkommen? Das Boot neigte sich bedenklich, als er sich mit beiden Händen an der Seite festhielt. Jetzt hätte er Thomas gebraucht, wenn der sich an der gegenüberliegenden Seite festhalten könnte und so für das nötige Gegengewicht gesorgt hätte! Aber von Thomas war keine Hilfe zu erwarten – im Gegenteil. Ein rascher Blick zurück ließ Horst fast verzweifeln: Das rote Rinnsal aus dem Mund von Thomas hatte sich verstärkt, die Atmung war weder sicht- noch hörbar, es musste nun ganz rasch etwas passieren!
Krampfhaft schälte sich Horst aus seinem Jacket. Nur so konnte es gehen! Nur wenn er das Gewicht von Flasche und Blei abgestreift hatte, war er eventuell in der Lage, ins Boot zu klettern. Unter Aufbietung all seiner verbliebenen Kräfte und permanent gegen die ständig zunehmende Übelkeit ankämpfend zog er sich – unterstützt von heftigen Paddelbewegungen mit den Flossen – in das sich bedrohlich zur Seite neigende Boot. Vor Anstrengung keuchend blieb er einige Sekunden bäuchlings so auf dem Boden liegen. Schwarze Dunkelheit breitete sich in seinem Kopf aus. Nein, das durfte er nicht zulassen, er musste bei Bewusstsein bleiben, er musste jetzt schauen, wie er Thomas in das Boot hieven konnte. Irgendwie musste er es schaffen und dann versuchen, ans Ufer zu gelangen und Hilfe zu suchen. Hoffentlich kam er mit dem Motor zurecht! Aber jetzt galt es erst mal, Thomas aus dem Wasser zu bekommen!
Vom Boot aus gelang es ihm, wieder das Jacket von Thomas zu fassen. Doch an ein Anheben des Verunglückten war nicht zu denken. Horst spürte, wie seine Kräfte mehr und mehr schwanden – lange würde er nicht mehr durchhalten und Hilfe war weit und breit nicht in Sicht! Wenn doch bloß ein Boot in der Nähe wäre, das er auf ihre Notlage aufmerksam machen könnte! Im selben Moment drang ein merkwürdig gedämpftes Geräusch wie von weiter Ferne an sein Ohr. Irritiert drehte er sich in die Richtung, aus der er das Geräusch zu hören gemeint hatte. Irgendwie kam es ihm bekannt vor, aber seine erschöpften Sinne schienen ihm allmählich die Gefolgschaft zu versagen. Da! Wieder dieses Geräusch, von links unten, meinte er, könnte es gekommen sein! Halluzinationen – ganz offensichtlich! Horst senkte den Blick auf die Stelle, wo er das Klingeln vermutet hatte. Das Klingeln! Die Sporttasche! Und wieder hörte er es: Richtig, das kam aus seiner Sporttasche, das war sein Handy! Doch, er hatte es vorher eingepackt und offenbar vergessen auszuschalten. Gott sei Dank!
Mit zitternden, vor Kälte steifen Fingern öffnete er den Reißverschluss der Tasche und durchwühlte hektisch deren Inhalt. Da war es! Endlich! Wieder ein Klingeln, jetzt klar und deutlich zu hören. Mit einem energischen Ruck riss er das Telefon aus der Tasche und drückte den grünen Knopf. »Hilfe!« Es war mehr ein heiseres, fast unverständliches Krächzen, das er mühsam zwischen den Zähnen hervorstieß, als ein Hilferuf. War das überhaupt seine Stimme gewesen, die er da gerade gehört hatte?
»Hallo? Hallo – ist da jemand?!« Der Teilnehmer am anderen Ende schien nichts verstanden zu haben.
Horst versuchte, die mehr und mehr von ihm Besitz ergreifende Panik hinunterzuschlucken. Konzentration war jetzt alles. Er schloss die Augen, versuchte einen ruhigen Atemzug und murmelte leise, so leise, dass er es selbst kaum hören konnte: »Hilfe! Helfen Sie mir bitte!«
»Hallo! Hallo? Wer ist denn da am Telefon?«
Das war zu leise gewesen! Klar! Horst wurde schwindlig, aber es half alles nichts: Er musste sich jetzt zusammennehmen! Das war ihre letzte Chance! Also – ein neuerlicher Versuch – und diesesmal konnte er relativ deutlich eine Stimme hören, eine ihm fremde Stimme, gerade so, als ob jemand neben ihm stünde und in sein Mikrofon sprechen würde: »Hier ist Meyer, Horst Meyer! Hilfe! Helfen Sie mir bitte, wir sind in Seenot …«
Jetzt überschlug sich die Stimme des Gesprächsteilnehmers: »Horst! Was soll denn das! Mach keine Witze mit mir Horst! Komm, lass den Quatsch!«
Wie durch immer dichter werdende Nebelschwaden registrierte Horst den Tonfall und die ihm irgendwie bekannte Aussprache des anderen. Wo hatte er schon einmal … früher … schon lange her … Protnik! Das war Protnik! Protnik war am Telefon! Der ihm so vertraute Name elektrisierte ihn förmlich und verschaffte ihm ein letztes Mal die nötige Energie, um seinen Hilferuf abzusetzen. Jetzt nur nicht durchdrehen! Bleib ruhig und versuche, deutlich zu artikulieren: »Hallo, Michael«, raunte er heiser in den Hörer. »Michael, das ist kein Quatsch. Ich bin in Seenot! Thomas auch! Michael, wir brauchen Hilfe, dringend! … Sind getaucht …« Das Sprechen fiel ihm schwerer und schwerer. »Getaucht … Bodensee … Michael … Jura … von Schweiz aus … Michael … merk dir … Bottighofen … Tauchen … Dekounfall … Micha … schnell …«
Der Hörer fiel ihm aus der Hand und Horst sackte zusammen. Ein undurchdringlicher weißer Nebel breitete sich in seinem Kopf aus und Sekundenbruchteile später schoss er durch die unheimliche tiefe schwarze Dunkelheit des unendlichen Universums, ein Staubkorn im Weltall … Horst war in einer gnädigen tiefen Ohnmacht versunken …
»Horst, hallo, Horst, wo genau, sagst du, war das? Horst!!! Melde dich!! Horst!!!« Die Panik hatte nun auch Protnik am anderen Ende der Leitung ergriffen. Was um alles in der Welt war da passiert? Hoffentlich hatte er den fast unverständlich geflüsterten Ortsnamen richtig verstanden! Bottenhofen? Bottichkofen? »Horst! Sag doch einmal was! Horst!!!!!«