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Städtebau: Der Bürger löst die ordnende fürstliche Hand ab

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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befanden sich die meist noch in mittelalterlichen Mauern gefangenen Städte angesichts von Industrialisierung und Zuwanderung in einem fundamentalen Wandlungsprozess. Nur die Schleifung von Stadtmauern und Befestigungsanlagen konnte den Raum schaffen, den die Städte notwendigerweise brauchten, um sich ausdehnen zu können. Europaweit waren auch diesbezüglich die unterschiedlichsten Ausgangsbedingungen vorzufinden: Während zahlreiche Städte auf dem Kontinent von gewaltigen, meist im 17. Jahrhundert in Massivbauweise errichteten Befestigungsringen umklammert wurden, konnten englische Städte oft problemlos expandieren. Die Hypothek dieser ‚Grenzenlosigkeit‘ zeigte sich allerdings in einer, schon von zeitgenössischen Beobachtern angeprangerten, unkontrollierten Ausuferung und Perforation des Stadtkörpers – mit der bitteren Konsequenz, dass die Zahl der Elendsquartiere sprunghaft anstieg. Je geplanter und damit

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vorhersagbarer diese Ausdehnung vonstatten ging, desto wahrscheinlicher war es demnach, dass die kommunalen Verwaltungsorgane die Kontrolle über die Morphologie ihrer eigenen Stadt behielten. Erst dann konnte man, im Gegensatz zu dem rein quantitativ zu gebrauchenden Begriff der Verstädterung tatsächlich von einem qualitativen Prozess der Urbanisierung sprechen. Es waren jedoch nicht nur hemmende Mauern, sondern ebenso strukturelle Unterschiede, die über die Expansionsmöglichkeiten einer Stadt entschieden: Neben altehrwürdigen Handelsstädten, die ihre Ausdehnung schon Jahrhunderte zuvor erreicht hatten, Residenzstädten oder Universitätsstädten, gab es die neueren Zentren der Frühindustrialisierung oder auch – bis auf einen kleinen historischen Kern – mehr oder weniger aus dem Boden gestampfte Ansiedlungen in dem sich konstituierenden Ruhrgebiet, wo dem Bergbau ab den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts vereinzelt eine geradezu städtegenerierende Rolle zukam.

Neben der Industrialisierung war das damit verbundene rasante Bevölkerungswachstum der Faktor, der das Gesicht der Stadt vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts grundsätzlich veränderte. Während zum Beispiel im Jahr 1870 noch zwei Drittel aller Bewohner des Deutschen Reichs im ländlichen Raum lebten, so hatte sich dieses Verhältnis vierzig Jahre später zugunsten der Stadt verkehrt. Der genuine Stadtbewohner sah sich einer Flut von Zuwanderern gegenüber, die neben den Belastungen für die Stadtkasse auch wachsende soziale Spannungen mit sich brachte und die Gräben zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ weiter vertiefte. Die Aufwertung des Einwohner- und damit die Relativierung des Bürgerrechts sollte zu einem gerechteren Miteinander führen, das heißt, das Wahl- und damit das kommunale Mitspracherecht war nicht mehr abhängig von Grundbesitz oder Gewerbe, sondern Einkommen und Steuerleistung entschieden über den Status des einzelnen Stadtbewohners. Weil die dafür vorgenommenen Einstufungen relationalen Gesetzmäßigkeiten gehorchten, provozierte das zu diesem Zweck eingeführte Dreiklassenwahlrecht dann allerdings auch höchst kuriose Erscheinungen wie in der Stadt Essen, in der sich der Industrielle Krupp ganz allein in der ersten Wahlgruppe wiederfand, während über 90% der Bevölkerung der dritten Gruppe zugeteilt waren. Im Lauf des Jahrhunderts musste der städtische Verwaltungsapparat kontinuierlich aufgestockt werden, und es

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bedurfte einer wachsenden, immer mehr spezialisierten Beamtenschar, die auftretenden infrastrukturellen Problemen nicht hilflos gegenüberstand, sondern in der Lage war, potenzielle Mängel in der Stadtentwicklung rechtzeitig zu antizipieren und durch systematische Planungen steuernd einwirken zu können. Aus diesem Grund wurden Versorgungsunternehmen, die Gas, Wasser und Elektrizität bereitstellten – also Grundbedürfnisse des täglichen Lebens verlässlich abdecken mussten – etwa ab dem Jahr 1890 aus der privaten in die städtische Hand überführt, während gleichzeitig der Spielraum der Kommunen, auf Privateigentum zugreifen und damit zum Wohl der Allgemeinheit Enteignungen vornehmen zu können, erweitert wurde.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden jedoch Stadtplanungskonzepte der bürgerlichen Administration von den Bürgern selbst nicht zwangsläufig ohne Weiteres akzeptiert. Viel zu präsent war die Verbindung der fürstlich ordnenden Hand mit der ästhetischen und repräsentativen Gestalt einer Stadt und viel zu gering entwickelt war noch der Wille, den eigenen Lebensraum strukturierend und verantwortlich mitzugestalten. Zu belegen ist dies am Beispiel von Elberfeld im Tal der Wupper, einer wohlhabenden, dem preußischen Staat zugehörigen Tuchweberstadt, für die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Adolph von Vagedes, seines Zeichens Düsseldorfer Regierungsdirektor, ein Generalbebauungsplan erstellt werden sollte. Vagedes hatte die Vorstellung von einem Stadtzentrum in der Form eines Rondells, von dem konzentrisch Straßenachsen ausgehen sollten. Um die frühindustrielle Ausrichtung Elberfelds zu unterstreichen, brach der Architekt mit einem städtischen Charakteristikum und plante das Rathaus in einer Achse mit der Börse – nicht wie üblich mit der Hauptkirche. Den bodenständigen Stadtvätern von Elberfeld war ein derart repräsentatives und auch intellektuelles Konzept suspekt, und so lehnten sie Vagedes’ Plan im Jahr 1836 als nicht finanzierbar ab. Unwohl war ihnen aber auch bei dem Gedanken, durch solche Maßnahmen eine Fabrikstadt auf das ihr nicht gebührende Niveau einer Art Residenzstadt zu erheben (Klotz 2000). In den folgenden zwanzig Jahren wurden in Elberfeld dann zahlreiche Verwaltungs- und Sakralbauten in einer Mischung aus Klassizismus, Rundbogenstil und auch Gotik errichtet, die, scheinbar wahllos in der

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hügeligen Stadtlandschaft verteilt, eine gewisse Ratlosigkeit im Arrangement nicht leugnen konnten.

Um die Jahrhundertmitte begannen sich dann die Repräsentations- und Stilansprüche des Bürgertums zu konkretisieren, was zu Berührungspunkten mit den planerischen Kompetenzen des Staates – meist in Gestalt der Monarchie – führen musste. Der Führungsanspruch der Monarchie wurde definitiv nicht infrage gestellt, aber in gewisser Weise war nun eine statische Situation entstanden, die eine paritätisch aufgeteilte Einflusssphäre hinsichtlich von Parlamentsbauten, Justizpalästen, Museen und Theatern möglich und damit eine rücksichtslose und autokratische Vorgehensweise unmöglich gemacht hatte.

Dass eine Verlagerung der Kompetenzen – selbst bei monarchischem Entgegenkommen – von bürgerlicher Seite nicht wie selbstverständlich gutgeheißen werden musste und konservative Strukturen des Bewahrens werter schienen als Neuerungen, zeigt das folgende Beispiel. Als König Maximilian II. von Bayern im Jahr 1850 über die Königliche Akademie der Bildenden Künste einen Wettbewerb für das später sogenannte Maximilianeum, eine Institution zur Ausbildung von Staatsbeamten, ausschrieb, suchte er mit diesem Bauvorhaben gezielt die Nähe zum Bürgertum, wollte es einbinden in einen national verstandenen Gestaltungsprozess, der helfen sollte, eine neuartige Architektur hervorzubringen. Im „Streben nach Freiheit“, wie es in der Programmschrift formuliert wurde, war der Bau für eine bürgerliche bayerische Elite gedacht, die ohne Ansehen von Rang und Stand allein aus der Begabung und dem geistigen Potenzial der zukünftigen Staatsdiener geformt werden sollte (Drüeke 1978, Zitat S. 107f.). Der Wettbewerb scheiterte trotz der Vergabe eines ersten Preises, das Projekt wurde schließlich inklusive einer Erweiterung auf das Areal der Maximilianstraße in einem informellen Verfahren an den Architekten Friedrich Bürklein vergeben. Das Interessanteste an diesem Experiment war jedoch die Kritik Friedrich Wilhelm von Schellings, vormalig Philosophielehrer des Kronprinzen Maximilian, der an der Programmschrift kein gutes Haar ließ. Mit dem Skeptizismus des Bürgertums in Gestalt des – geadelten – Pfarrerssohns und Philosophen, der die Reife seines eigenen Standes anzweifelte, stufte Schelling die Gegenwart als so charakterlos ein, dass eine städtebaulich eingesetzte

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Architektur, die eben dieser Gegenwart entsprechen würde, nur „ein Bild der vollkommenen geistigen und moralischen Zerfahrenheit“ bieten könne. Den Aufruf des Königs zu freiheitlichem Streben lehnte er paradoxerweise als demokratisch ab – was damals einem Schimpfwort gleichkam –, weil dies seiner Ansicht nach nur Destruktion hervorrufen würde (Drüeke 1978, Zitat S. 109f.).

Eine andere, ganz neue Dimension erreichte der Generalbebauungsplan für Paris, der in den Jahren 1853 – 69 durch Georges-Eugène Baron Haussmann im Auftrag Kaiser Napoleons III. realisiert wurde, und mit seinen öffnenden und ordnenden Straßendurchbrüchen in erster Linie noch einem disziplinierenden Motiv geschuldet war. Schließlich hatte noch jeder Aufstand in der französischen Hauptstadt in der unübersichtlichen, verwinkelten Altstadt mit ihren mittelalterlichen Gassen seinen Ausgang genommen, was ein militärisches Durchgreifen erschwert hatte. Darüber hinaus aber war die Stadt so stark angewachsen, dass die Schaffung einer funktionierenden Infrastruktur für den reibungslosen Ablauf des täglichen privaten und ökonomischen Lebens unumgänglich geworden war. Haussmann kehrte als Stadtpräfekt mithilfe eines Stabes von Ingenieuren das Innerste von Paris nach außen, opferte rücksichtslos alte Bausubstanz, schonte aber berühmte Monumente, die den neuen Prachtboulevards als optische Orientierungspunkte dienten. Mit der Anlegung einer auf weiteres Wachstum konzipierten Wasserversorgung und Kanalisation sowie einer die Sicherheit der Bewohner verbessernden Straßenbeleuchtung wurde Haussmann stellvertretend der monarchischen Fürsorgepflicht Napoleons III. für dessen Untertanen gerecht. Und auch wenn zum Wohl der Allgemeinheit Enteignungen unumgänglich waren, so musste der präparierte Baugrund dem Besitzer – mit Gewinn – zurückgegeben werden. Haussmanns Beispiel machte Schule und so wurden in den folgenden Jahren mit mehr oder weniger Sensibilität europaweit zahlreiche Stadterweiterungen und -umstrukturierungen durchgeführt – unter anderem in Brüssel, Rom, Barcelona oder Stockholm –, während Städte wie Leipzig, Lübeck oder Kopenhagen die Unversehrtheit ihrer alten, mauerumwehrten Stadtkerne bewahren konnten.

Der Stadterweiterung Wiens stand lange Zeit das strikte Veto des Militärs entgegen. Auch wenn nach dem Abzug der Napoleonischen

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Truppen Teile der Befestigungsanlage bereits zerstört waren, entschied man sich zuerst einmal für Reparaturmaßnahmen, anstatt durch eine Schleifung den Platz für dringend benötigtes Bauland zu schaffen. Stadt und Vorstädte blieben also nach wie vor durch das im 17. Jahrhundert eingerichtete, etwa fünfhundert Meter breite Glacis streng voneinander separiert. Als am 18. Februar 1853 ein Attentat auf Franz Joseph I. scheiterte, initiierte das Kaiserhaus als Dank für diesen glücklichen Ausgang den Bau der von allen Mitglieder des Vielvölkerstaates finanzierten Votivkirche, die die politische Einheit des durch den Anschlag erschütterten Habsburgerreiches beschwören sollte. Wenn man bedenkt, dass die Fertigstellung des Kölner Doms als Symbol der nationalen deutschen Einheit in vollem Gange war, konnte es schwerlich ein Zufall sein, dass für die Wettbewerbs-Entwürfe der gotische Stil vorgeschrieben wurde. Nach der Grundsteinlegung für den Sakralbau, der bereits außerhalb der alten Stadtgrenzen situiert war, gab der Kaiser schließlich im Jahr 1857 die ehemalige Stadtbefestigung zur Bebauung frei. Die Wettbewerbsstatuten forderten für den Gesamtplan ein Konzept, in dem sich nun monarchische mit bürgerlichen Interessen vereinten: Um im beengten Stadtbild den gebotenen Abstand zu wahren, verlangte der Kaiser, dass der Platz vor der Alten Hofburg, der Stadtresidenz der Habsburger, freigehalten werden müsse, geplant war außerdem der Bau der Neuen Hofburg, die im Rahmen eines Kaiserforums mit dem zu errichtenden Kunsthistorischen und dem Naturhistorischen Museum verbunden werden sollte. Auf der Basis verschiedener prämierter Projekte wurde schließlich das Gerüst des Plans erstellt: ein Boulevard in Form eines unregelmäßigen Polygons, gesäumt von öffentlichen Bauten wie der Universität, dem Parlament oder dem Theater, sollte mit den Hauptverkehrsadern aus der Altstadt vernetzt werden. Palais für Mitglieder des Kaiserhauses sollten das finanzkräftige Bürgertum in den Dunstkreis der Macht locken und dazu motivieren, dort ebenfalls in repräsentative Wohnbauten zu investieren. Diese Entwicklung wiederum macht deutlich, dass der solvente Bürger wegen seiner Unverzichtbarkeit für die Volkswirtschaft zum Umworbenen geworden war. Zu Beginn der 1870er-Jahre war die Prachtstraße fertiggestellt und präsentierte als Wiener Ringstraße eine Gesamtschau bürgerlicher Institutionen im Gewand ausgereifter und elaborierter historischer

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Baustile: das neugotische Rathaus rezipierte die als große Zeit des selbstbestimmten Stadtbürgertums empfundene Gotik, das Parlament ließ mit seinen neoattischen Formen die paradigmatische Welt der griechischen Demokratie wiederauferstehen und die Oper erstrahlte im Glanz der vornehmen, international beliebten Neurenaissance. Ausgerechnet das Paradeprojekt der Monarchie, das von Gottfried Semper entworfene Kaiserforum, blieb letztendlich unvollendet, und Pläne, die durch den Boulevard zwangsläufig durchschnittene Forumsanlage durch Brücken beziehungsweise Bögen über die Ringstraße zu vereinen, scheiterten an der Banalität des alltäglichen – bürgerlichen – Verkehrs.

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