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Bürgerliche Wohnkultur

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Einen der größten Triumphe über den Adel im 19. Jahrhundert feierte das Bürgertum letztendlich darin, dass es nun selbst die gesellschaftlichen Normen prägte, und durch seinen Wohnstil, seine Kleidung und seine Umgangsformen zum Maß der Dinge wurde. Betrachtet man den Lebensstil der zu Wohlstand gekommenen Aufsteiger des bürgerlichen Standes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dann zeichnen sich zwei unterschiedliche Entwürfe ab: Während sich die Unternehmer der ersten Generation gewöhnlich in bereits recht respektablen Villen direkt neben der Produktionsstätte an der städtischen Peripherie niederließen, um die ständige Kontrolle über ihr Unternehmen und ihre Arbeitskräfte zu haben, tendierte der Teil des Bürgertums, der seinen Reichtum mit Handel oder Geldgeschäften erworben hatte, dazu, der ungesunden Stadtluft zu entfliehen und das zuvor saisonal genutzte Landgut zum ständigen Hauptwohnsitz zu erklären. Nur der fortdauernde Ausbau des Straßennetzes und die Weiterentwicklung der Fortbewegungsmöglichkeiten erlaubte

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diese frühe Form des Berufspendlertums. Die Unternehmer der zweiten Generation verspürten bereits wenig Neigung, umgeben vom Lärm und oft auch Gestank der eigenen Fabrik der doch eher puritanischen Lebensphilosophie ihrer Vorfahren nachzueifern, sondern fanden schon eher Gefallen an eleganten Stadtvillen in städtischen Außenbezirken oder auch repräsentativen Herrenhäusern nach aristokratischem Vorbild. Der erworbene Luxus und die damit verbundene Saturiertheit machte das ehemals so fortschrittliche und wagemutige Bürgertum, das seine ganze Energie in die Überwindung der erblichen Adelsherrschaft und der damit verbundenen Besitzstandswahrung investiert hatte, so konservativ wie sein früheres Feindbild. Mehr noch: Man wollte nun so sein, wie der Adel gewesen war und sich – oft in Gestalt bürgerlicher Schlossadaptionen – den Traum von einem Leben verwirklichen, das man früher als zutiefst ungerecht betrachtet hatte. Unter diesem Aspekt kann man die palastartigen Grandhotels des 19. Jahrhunderts, die nicht zufällig Bezeichnungen wie „Residenz“ oder „Imperial“ erhielten, als ‚Gemeinschaftsprojekte‘ des Bürgertums betrachten, durch die so mancher, der sich kein weitläufiges Schloss leisten konnte, an einem aristokratischen Ambiente partizipieren konnte.

Die frühe Form der stadtnahen Villa war zunächst so ungewöhnlich, dass sie wie im Fall der 1857 errichteten neoklassizistischen Doppelvilla des Unternehmers und Bankiers Adolph Hansemann, die damals in der Berliner Tiergartenstraße noch ohne Nachbarbebauung stand, zur bestaunten Sehenswürdigkeit wurde. Das rasante Bevölkerungswachstum und die damit verbundenen hygienischen Missstände trieben immer mehr wohlhabende Städter in die noch ländlichen Randbezirke. Um dem überhandnehmenden ‚Wildwuchs‘ des Villenbaus Einhalt zu gebieten, wurde 1875 das Preußische „Fluchtliniengesetz“ erlassen, das städteplanerisch eingriff und auch für diese Gebäude eine Orientierung zur Straße hin vorschrieb. Die Villen dieser bürgerlichen Oberschicht deklinierten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das gesamte bekannte und erlaubte Stilrepertoire durch, das von burgenähnlichen Entwürfen mit Zinnen bekrönten Erkern über Residenzen anglophiler Hanseaten, die den Tudorstil, auch „castle style“ genannt, über den Kanal geholt hatten, bis hin zu Villen im Renaissancestil reichte, welcher wiederum

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aufgrund seiner Konnotationen zum unabhängigen Bürgertum der frühen Neuzeit besonders beliebt war.

Im Inneren der Gründerzeitvilla boten sich völlig verschiedene Stilwelten dar, immer aufwendiger gestaltete, für heutige Begriffe mit nutzlosen Wohnaccessoires und schweren Stoffen völlig überfrachtete Gesellschaftsräume brachten geflügelte Worte wie dasjenige von der „noblesse op plüsch“ hervor, das für die bessere Gesellschaft Kölns überliefert ist (Mettele 1996, Zitat S. 167). Nachdem man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts damit begonnen hatte, die privaten und gesellschaftlichen Räume in eine männliche und eine weibliche Sphäre aufzuspalten, war dieser Prozess nun vollendet: Im dunklen ‚altdeutschen‘ Herrenzimmer mit seinen Wandvertäfelungen, ornamentierten Holzdecken und schweren gedrechselten Möbeln erholte sich der Patriarch von der Bürde, die er als Unternehmer und Familienvorstand zu tragen hatte. Ein solcher Raum war zugleich Rückzugsort und Studierzimmer, aber auch eine Art Clubzimmer, in dem sich bei Gesellschaften der Gastgeber und die männlichen Gäste nach dem Essen zu Spirituosen und Zigarren einfanden, um sich über Politik und Geschäftliches auszutauschen. Der Damensalon und das Boudoir wiederum zeigten die weibliche Seite des Wohnens, für die man das Rokoko, den luxuriösen Einrichtungsstil des späten 18. Jahrhunderts vorgesehen hatte: Unberührt von den Unbilden des harten Arbeitslebens und abgeschottet von der Realität der Außenwelt, konnte die Dame des Hauses dort dem Müßiggang frönen oder in ihrer Funktion als Hausherrin die notwendigen Arbeiten delegieren. Rat und Unterstützung in Einrichtungsfragen fanden interessierte Laien in den immer zahlreicher erscheinenden Einrichtungsbüchern. Nachdem Charles Eastlake 1868 mit seinen „Hints on Household Taste“ den Anfang gemacht hatte, drängten wahre und selbsternannte Stilexperten mit einer regelrechten Flut von Einrichtungsbüchern auf den Markt. Sehr beliebt war unter anderem der Ratgeber „Die Kunst im Hause“ aus der Feder des Kunsthistorikers Jacob von Falke von 1871, der konsultiert wurde, wenn man die verschiedenen Zimmer des Hauses mit den zu ihren jeweiligen Funktionen passenden historischen Stilen ausstatten wollte.

Mit der deutschen Renaissance als dominierendem Einrichtungsstil postulierte das Bürgertum sowohl in ästhetischer als auch in sozialer

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Hinsicht den klaren Willen zur Abgrenzung gegenüber dem Adel wie auch der Arbeiterschaft. Die friedliche und gemütvolle Atmosphäre, in der man ein wohlgeordnetes Familienleben pflegte, hatte den verschwenderischen und zügellosen Lebensstil der Aristokratie überwunden und verbindliche neue gesellschaftliche Maßstäbe gesetzt. Um sich von der Etikette und dem strengen Zeremoniell des adeligen Miteinanders zu differenzieren und zu distanzieren, wurde vom Bürgertum ein bewusst lockerer, informeller Umgang im privaten Rahmen gepflegt, nicht jedoch, ohne auf nun anders definierte Konventionen und Rollenverteilungen zu verzichten. Dem Stildiktat der Renaissance unterwarf man sich aber auch nicht in letzter Konsequenz: Da der größte Teil des Adels dem Rokoko als letztem royalem Interieurstil treu geblieben war, und die aristokratische Lebenswelt nach wie vor nachahmenswert erschien, war dies vor allem für das Großbürgertum Grund genug, große repräsentative Gesellschaftsräume oder Ballsäle im Stil des 18. Jahrhunderts auszustatten.

Auch bei städtischen Mehrfamilienhäusern wollte man auf historisierenden Fassadenschmuck nicht verzichten, was sich in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu regelrechten „Ornamentparaden“ auswuchs (Brix / Steinhauser Geschichte im Dienst 1978, S. 222). Zumindest den gut situierten Bewohnern kam es entgegen, dass man an der Reichhaltigkeit der Ausstattung auf ihre wirtschaftliche Situation schließen konnte: Je üppiger und strukturierter die Ornament-Reliefs waren, je stärker die Fassade durch Erker oder Balkone gegliedert war, desto begüterter musste die dort lebende Familie sein. Weniger privilegierte Familien konnten sich in dieser Zeit zumindest mit Wohnutensilien ausstatten, die über das Notwendige und Nützliche hinauswiesen. Erstmals konnte man nun rein dekorative Gegenstände, auch Teppiche oder Tapeten erwerben – billige Kopien von Luxusgegenständen, die man mit dem nachahmenswerten Leben von Adel und Großbürgertum verband, ließen den Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg wenigstens im kleinsten Rahmen wahr werden. Deswegen mussten solche Gegenstände natürlich eine historische Anmutung vorweisen, was dem Betrachter suggerieren sollte, dass sie sich schon lange Zeit im Familienbesitz befänden. Die Überfrachtung der Privatsphäre durch eine vorgegaukelte Historizität ist neben dem Wunsch, bestehende gesellschaftliche Hierarchien zu

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relativieren, auch als Abwehrreaktion zu interpretieren. Diese richtete sich gegen die zunehmende Industrialisierung der Lebenswelt und den teilweise als bedrohlich empfundenen Modernisierungsprozess, der sich mit einer ungewohnten und deshalb Furcht einflößenden Geschwindigkeit vollzogen hatte.

Die Art und Weise, wie sich die Familie durch Gastfreundschaft und Geselligkeit der Außenwelt präsentierte, wurde als das zentrale Moment im sozialen Gefüge betrachtet. Die Familie als Kleinstverbund war bereits das höchste, was an individueller Intimsphäre zu erreichen war – darüber hinaus standen kaum persönliche Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung. Wenn Gäste kamen, wurde die gute Stube geöffnet, die ansonsten ungeheizt und unbetreten wie eine Theaterkulisse an aufführungsfreien Tagen vor jeglicher Abnutzung geschont wurde. Man kasteite sich selbst, indem man aus Repräsentationsgründen auf den meist besten, gut beleuchteten, zur Straße hin ausgerichteten Wohnraum verzichtete, um im muffigen Hinterzimmer oder in der Küche den gewöhnlichen Alltag zu leben. Es war eine verkehrte Welt oder besser ein Rollentausch, der sich auf diese Weise offenbarte: Während der ermüdete Adel weniger Zwänge und dafür bürgerliche Gemütlichkeit und Privatheit wünschte, adaptierte das niedere Bürgertum adlige Etikette mit einer selbstquälerischen Härte, die einem strengen Hofzeremoniell nicht unähnlich war.

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