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Rathäuser und Bürgerstolz
ОглавлениеDie ‚Sprache‘ der Stile in der Profanarchitektur ist das Ergebnis vielschichtiger und äußerst präzisierter Überlegungen. Bauten im öffentlichen Raum sollten für die Allgemeinheit in einer Art „Pädagogik der Umgebung“ als „stumme Lehrer“ fungieren, wie dies in der Vorstellung eines Berliner Realschuldirektors bereits um das Jahr 1850 gewissermaßen zu einem volkserzieherischen Ziel gemacht worden war (Reulecke 1997, Zitat S. 76ff.). Diese belehrende Funktion war notwendig, um die Rezeptionsgrundlagen zu schaffen, auf denen ein umfassendes Verständnis für Aussage und Bedeutung historischer Stile erst erwachsen konnte. Es galt also, öffentlichen Bauten wie Parlamenten, Rathäusern, Banken oder Justizgebäuden durch die Wahl des angemessenen Baustils eine Aura von Würde, Autonomie, Stabilität oder auch Macht zu verleihen. Bauaufgaben wie zum Beispiel Bahnhöfe, die aufgrund ihrer Verbundenheit mit zeitgenössischen technischen Innovationen keine historischen Assoziationen zuließen, waren Sonderfälle, die Kontroversen auslösten und deswegen über mehrere Jahrzehnte hinweg eine besonders differenzierte Behandlung erfuhren. Dagegen fielen Bauten wie Gefängnisse, die durchaus auf einem historischen Fundament standen, als der Gestaltung nicht würdig durch das gesellschaftliche Raster: Üblicherweise wurde nur der Verwaltungstrakt dieser Komplexe bewusst gestaltet, Ausnahmen bildeten diejenigen Gefängnisse, deren Zellentrakt eine Schauseite
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aufwies. In diesen Fällen wurde aufgrund der Vorstellungen, die man von einer adäquaten Unterbringung der Straftäter hatte, eine einfache, derbe Architektur angestrebt, die eine mittelalterliche Anmutung haben konnte, aber ohne jeglichen architektonischen Schmuck auskommen musste.
Die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung, wie sie beginnend in Preußen im Jahr 1808 und dann sukzessive in den übrigen deutschen Staaten vollzogen wurde, verhalf dem Bürgertum zu einem völlig neuen Selbstverständnis. Das Gehäuse für diese über lange Zeit kaum mehr ausgeübte Eigenverantwortlichkeit und Autonomie, also das Rathaus selbst, war aber beileibe keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, seine Bautypologie wurde auch nicht vom Adel übernommen, sondern hatte ihre genuin bürgerliche Herkunft im Rathaus der frühneuzeitlichen Stadt: Weil sie, historisch betrachtet, synonym für bürgerliches Selbstbestimmungsrecht und kommunale Autonomie standen, galten die – vor allem flämischen – Rathäuser des späten Mittelalters und der frühen Renaissance als die adäquatesten stilistischen Vorbilder für das Rathaus des 19. Jahrhunderts. Während aber Verwaltungsgebäude des frühen 19. Jahrhunderts noch alle Ordnungsorgane des Kommunalwesens, wie das Gericht, das Gefängnis, die Polizei und die Feuerwehr unter einem Dach vereinten, sollte das unaufhaltsame Städtewachstum eine räumliche Entzerrung und eine Verteilung auf eigens dafür eingerichtete Bauten notwendig machen. Aus dem eigentlichen, administrativen Kern des Rathauses mit seinen Sitzungssälen und Repräsentationsräumen entwickelte sich schließlich das Rathaus des 19. Jahrhunderts, dessen kontinuierlich ansteigender Raumbedarf aus dem Bevölkerungswachstum und den sich ausweitenden Zentralisierungsverfahren resultierte. Da man mit weiterem Wachstum in jeder Hinsicht kalkulieren musste, wurden die Bauplätze meist so groß konzipiert, dass mögliche Erweiterungsbauten kurzfristig realisiert werden konnten. Selbstverständlich lag es auch im Interesse der Stadtväter, dass gerade ihr Rathausneubau besonders groß und repräsentativ geriet und dadurch die Aufmerksamkeit und das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zog. Wichtig ist, dass bei aller Neubau-Euphorie die funktionstüchtigen alten Rathäuser, sofern sie von bauhistorischer Bedeutung waren, aus Gründen der Pietät erhalten beziehungsweise bei Bedarf durch einen Anbau vergrößert wurden.
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Bei der Wahl des Baustils boten sich den Bauherren des 19. Jahrhunderts zwei Möglichkeiten: Herrschte kein Zwang, sich in einem Stadtzentrum mit historischem Baubestand aufgrund des Ensembleschutzes stilistisch anzupassen, konnte man zwischen Mittelalter und Renaissance frei wählen, die Alternative dazu bestand darin, einen Neubau so gut wie möglich in das charakteristische Architekturbild einer Stadt einzugliedern. Am Anfang, das heißt ab den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts, dominierte jedoch, vor allem in kleinen und mittelgroßen Städten, der neugotische Rathausbau, der nicht dem jeweiligen Regionalstil verpflichtet war, sondern als internationale Schnittmenge der typischen frühen „Zinnengotik“ zu werten ist. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist das Rathaus der Ostsee-Hafenstadt Kolberg (heute Kolobrzeg / Polen), das von keinem Geringeren als Karl Friedrich Schinkel entworfen und in den Jahren 1829 – 32, als Schinkels Gotik-Euphorie längst verblasst war, unter Leitung von Ernst Friedrich Zwirner erbaut wurde.
Abb. 3: Kolobrzeg / Polen, Altes Rathaus, 1829 – 1832 (> Abbildungsnachweis)
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Die ehemalige Hansestadt, die sich im 14. Jahrhundert durch Handel und Fischfang großen Wohlstand und ein eigenes Münzrecht erarbeitet hatte, erhielt damit einen sehr repräsentativen Ersatz für das 1807 zerstörte alte Rathaus. Schinkel entwarf eine schlossartige Zweiflügelanlage mit einem schmalen tiefen Hof, der von einem mächtigen Uhrenturm dominiert wird. Die Fassaden der zweistöckigen Flügelbauten, die ihren obersten Abschluss in einem Zinnenkranz finden, sind unter anderem von Spitzbogenfenstern ohne Maßwerk durchbrochen – ein Hinweis darauf, dass es sich um keinen Sakralbau handelt. Ein wehrhaftes Gepräge erhielt das Rathaus durch vier nur schwach aus der Mauerfläche hervortretende Ecktürme mit schießschartenähnlichen Mauerschlitzen. Mit seiner für Hansestädte typischen Backsteingotik nahm das neue Rathaus auch konkret Bezug zum trutzigen Westwerk des Doms aus dem frühen 14. Jahrhundert.
Diese frühe Neugotik erfreute sich in der Folgezeit noch einiger Beliebtheit, wurde dann aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sukzessive von Stilvorbildern der Spätgotik und der deutschen Renaissance abgelöst. Vor allem die deutsche Renaissance bot sich nach der Reichsgründung als ideales Assoziationsfeld an, weil sie sowohl dem Bürgertum als auch dem Kaisertum gerecht werden konnte – schließlich hatte es die mächtigsten Städte der Frühen Neuzeit ausgezeichnet, in ihrer Reichsunmittelbarkeit direkt dem Kaiser unterstanden zu haben. Patriotische Kaiserverehrung ließ sich auf diese Weise problemlos ins 19. Jahrhundert transferieren, ohne die mühsam errungene bürgerliche Selbstbestimmung verleugnen zu müssen. So ist es kaum verwunderlich, dass gerade in den Rathäusern derjenigen Städte, die zu Preußen gehörten oder aber als Freie Städte dem Deutschen Reich angegliedert waren, häufig ein Kaisersaal zu finden war, wie zum Beispiel in Hamburg. Wie seine Vorgänger in Residenzen und Klöstern des 17. und 18. Jahrhunderts wurde ein Kaisersaal des 19. Jahrhunderts in Erwartung eines kaiserlichen Besuches angelegt, auch wenn es häufig vorkam, dass ein solch illustrer Gast dort niemals begrüßt werden sollte.
Überaus spannend ist die Entstehungsgeschichte des Münchner Neuen Rathauses, das von einem 25-jährigen Studenten aus Graz entworfen wurde und nach einer Bauzeit von über vierzig Jahren als dessen Lebenswerk
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bezeichnet werden kann. Die Einwohnerzahl in der Hauptstadt des bayerischen Königreiches war seit der Jahrhundertmitte kontinuierlich angestiegen und sollte sich bis zum Jahr 1895 auf über 400.000 Einwohner vervierfacht haben. Die Verwaltungsinstitutionen verteilten sich damals auf drei verschiedene historische Gebäude in der Altstadt, weshalb die Kommune 1864 angesichts dieser unzumutbaren Verhältnisse die Gelegenheit wahrnahm, durch einen Umzug zum Marienplatz räumlich Abhilfe zu schaffen. Es bestand dort die Option, ein großes bestehendes Gebäude zu nutzen, man wählte aber schließlich die Alternative eines kompletten Neubaus. Am ausgeschriebenen Wettbewerb beteiligten sich zahlreiche renommierte Architekten – und mit ihnen ein Aspirant dieser Zunft, Georg Hauberrisser, damals noch Student an der Wiener Kunstakademie. Hauberrissers Entwurf konnte sich im Wettbewerb behaupten, und letztendlich waren nur noch er und der Münchner Baurat Arnold Zenetti im Rennen. Zenetti hatte in seiner Position und mit seinen Beziehungen scheinbar alle Vorteile auf seiner Seite, noch dazu war sein Renaissance-Entwurf im Gegensatz zu Hauberrissers flämischer Gotik die kostengünstigere Variante. Als aber der Neuling ohne baupraktische Referenzen die Gremien von sich überzeugen konnte und den Zuschlag erhielt, war die Sensation perfekt: Die Gotik hatte die Renaissance auf ganzer Länge geschlagen. Ob sich die Ratsherren von Hauberrissers Charisma überzeugen ließen oder ob es daran lag, dass Reichsgründung und Kaiserproklamation, die der internationalen Neorenaissance einen veritablen Aufschwung bescheren sollten, noch drei Jahre auf sich würden warten lassen, ist schwer zu sagen. Bis die ersten Dienststellen dann in den Siebzigerjahren einziehen konnten, vergingen einige Jahre, in denen sich Hauberrisser gegen Widersacher und Kritiker behaupten musste, die seine Kompetenz wiederholt infrage stellten. Aber auch der Schock darüber, dass der ambitionierte Bau das veranschlagte Budget um das Zehnfache übertroffen hatte, hielt die Verantwortlichen nicht davon ab, den Architekten wenig später mit einem Erweiterungsbau zu betrauen, der 1892 fertiggestellt wurde. Ein dritter Bauabschnitt mit einem achtzig Meter hohen Rathausturm als Krönung bildete schließlich den Abschluss des Ensembles, dem einundzwanzig Bürgerhäuser hatten weichen müssen und das Hauberrisser zum hämisch gemeinten Ehrentitel eines „Reichsgotikers“ verhalf (Huber 2006, S. 74).
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In Stuttgart hingegen laborierte man bereits seit den Siebzigerjahren an einem Neubau und vor allem an dessen Standort, da das alte, im Kern mittelalterliche Rathaus der aktuellen Stadtverwaltung nicht mehr ausreichend Raum bot. Lange wurde um einen Abriss der historischen Bausubstanz gerungen und schließlich trotz einiger Bedenken durchgesetzt, weil ein Neubau nur am zentralsten und damit hierarchisch obersten Standort vollstellbar war – nur an diesem repräsentativen Platz war eine überzeugende Demonstration bürgerlichen Machtanspruchs möglich. Für den von 1898 bis 1905 von Heinrich Jassoy und Johannes Vollmer errichteten Rathausneubau wurden schließlich spätgotische Formen gewählt, interessanterweise unter spolienartiger Integrierung einzelner Teile des alten Rathauses, wie zum Beispiel der historischen Kapelle. Auch wenn der Schwerpunkt der Ausstattung auf Themen der bürgerlichen Ikonographie lag, wurde der württembergischen Monarchie durch die Aufstellung von Denkmälern für König Wilhelm I. und König Wilhelm II. ausreichend Respekt gezollt.
War das Rathaus des 19. Jahrhunderts fertiggestellt, bot die Ausstattung der Räumlichkeiten durch Mobiliar und wertvolle zeremonielle Gebrauchsgegenstände weitere Möglichkeiten, es dem Bürgertum der Vergangenheit gleichzutun, wie zum Beispiel mit der Anschaffung eines neuen oder in der Aufstockung eines bestehenden Ratssilbers. Ratssilber, das waren und sind vielteilige, kostbare Tafelgeschirre, die seit dem späten Mittelalter zur Ausstattung von Rathäusern wohlhabender Städte gehörten. Durch ihren Einsatz bei festlichen Anlässen hatten sie in erster Linie repräsentativen Charakter, sie gehörten aber auch zu den städtischen Notreserven und mussten deshalb im Lauf der Jahrhunderte nicht selten verkauft oder eingeschmolzen werden. Vor allem der wirtschaftliche Aufschwung der Gründerjahre machte es prosperierenden Städten möglich, oft auch in Verbindung mit einem Neubau des Rathauses, in Ratssilber zu investieren – allein Köln zum Beispiel gab ein 900-teiliges Tafelsilber in Auftrag. Finanziert durch Spenden und Stiftungen betuchter Bürger sollte das Ratssilber des 19. Jahrhunderts ein Beleg für Generosität und Gemeinsinn und damit das Aushängeschild für das Erfolgsmodell der autonomen neuzeitlichen Stadt sein.
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Ein Aufgabenbereich der Kommunalverwaltung prägte das soziale Miteinander des städtischen Bürgertums in besonders hohem Maße und war angesichts der Zuwanderung und des Bevölkerungswachstums von existenzieller Bedeutung: das Fürsorgewesen. Ende des 19. Jahrhunderts hatte das Wohlfahrtswesen in München, der Hauptstadt des bayerischen Königreiches, einen vergleichsweise hohen Standard erreicht, der vor allem dem regen Engagement der verantwortlichen kommunalen Stellen geschuldet war. Der letzte König aus dem Haus Wittelsbach, Ludwig II., war 1886 gestorben, Luitpold, der Onkel des Königs, hatte die Amtsgeschäfte als Prinzregent übernommen. Das so entstandene Vakuum in der Monarchie füllten die Stadtväter, die darin eine Chance sahen, sich als bürgerliche Auftraggeber in einer direkten Nachfolge frühneuzeitlicher fürstlicher Fürsorgepflicht durch Bauten karitativer Ausrichtung zu profilieren. Den Anfang hatte das städtische Kinderasyl gemacht, ein schlossähnlicher, rechteckiger Bau mit einem übergiebelten Mittelrisalit und von Wandpilastern gerahmten Seitenrisaliten, der bereits 1888/89 im Stil des späten 18. Jahrhunderts erbaut worden war. Als in den Jahren 1892 – 94 der Bau des Armenversorgungshauses St. Martin in Giesing durch Karl Hocheder erfolgte und schnell deutlich wurde, dass diese Institution angesichts der unzumutbaren Zustände in den bestehenden Armenhäusern eine wegweisende Bedeutung für die künftige Armenfürsorge haben sollte, war dies ein klares Bekenntnis der Stadt München zu ihrer sozialen Verantwortung. Äußerlich einem wohlhabenden Kloster des 18. Jahrhunderts verblüffend ähnlich, scheint der architekturikonologische Bezug zum Armenhaus teilweise überzeugend, hatten doch Klöster – nicht nur in der Frühen Neuzeit – immer auch karitative Funktionen übernommen.
Ein zeitbezogen weitaus angemessenerer, schlichterer Bau wäre auch kaum den Intentionen der Bauherren entgegengekommen, die ihren Gemeinsinn und ihre tätige ‚Caritas‘ lieber in einem repräsentativen Rahmen inszeniert sehen wollten. Die so entstandene, paradox erscheinende Diskrepanz zwischen der prächtigen Außenhaut und dem doch sehr eingeschränkten Komfort der Bewohner schien die zeitgenössische Kritik nicht weiter zu irritieren: Ganz im Gegenteil wurden die Parallelen von aktueller Armenfürsorge und entbehrungsreicher, klösterlicher Existenz als augenfälliges historisches Bindeglied zur Gegenwart betrachtet.
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Abb. 4: München-Giesing, Armenversorgungshaus St. Martin, 1892 – 1894 (zerstört) (> Abbildungsnachweis)
Das Städtische Waisenhaus in Neuhausen, 1896 – 99 von Hans Grässel wiederum im Barockstil erbaut, galt mit seinem eindeutigen architektonischen Bezug zu Schloss Nymphenburg als Prestigeobjekt der Stadtoberen, das sich nun nicht mehr mit einem fürstlichen Wappen, sondern mit dem Münchner Kindl über dem Portal als bürgerlich-städtische Stiftung auswies.
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