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Übergang der Institutionen und Architekturtypologien vom Adel auf das Bürgertum
ОглавлениеWährend die Teilhabe an der Macht schon früh vom Bürgertum eingefordert wurde, war die Teilhabe an der Bildung anfänglich ein Entgegenkommen von adeliger Seite: Geht man auf die Suche nach den Ursprüngen öffentlicher Museen, dann wird man stets bei Sammlungen und Kabinetten des Adels sowie bei fürstlichen Galerien und Wunderkammern fündig werden. Als diese umfangreichen und in ihrer Vielfältigkeit oft sehr heterogenen Kollektionen Ende des 18. Jahrhunderts aus Schloss- oder Residenzkomplexen herausgelöst und in eigenständigen öffentlichen Gebäuden untergebracht wurden, war dies noch keine gesellschaftlich erzwungene Entwicklung, sondern ein zunächst freiwilliges Zugeständnis eines aufgeklärten Teils des Adels, der sich einem humanistischen Bildungsauftrag verpflichtet sah. Am offensichtlichsten wird das pädagogische Moment am Beispiel derjenigen Museen, die in der Bevölkerung ein dezidiert historisches Bewusstsein für das eigene Herkommen begründen sollten. Im Museum Fridericianum in Kassel, das bereits 1779 unter Landgraf Friedrich II. von Hessen vollendet wurde, bezog sich ein Raum zum Beispiel explizit auf Exponate aus der hessischen Geschichte des Mittelalters. Kleinstaaten fiel ein solches Vorgehen ungleich leichter als ganzen Nationen, weshalb es europaweit auch große zeitliche Verschiebungen bezüglich der Einrichtung solcher Museen gab: Während es angesichts einer parlamentarischen Monarchie in England keine Probleme bereitete, bereits im Jahr 1752 die Eröffnung des British Museum zu beschließen, musste Frankreich erst die größten Wirren der Revolution überwinden, bevor 1793 ein Teil des Louvres als öffentliches Kunstmuseum zugänglich gemacht werden konnte. Nach den Befreiungskriegen hatten sich auch in Preußen die Vorzeichen gewandelt: Als 1815 in Berlin die aus Paris restituierten Kunstschätze öffentlich
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gezeigt wurden, registrierte der Archäologe Aloys Hirt wohlwollend das lebhafte öffentliche Interesse, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass Sammlungen wie diese allen Personen jedweden Standes zugänglich gemacht werden müssten.
Der Einzug des Bürgertums in das Auditorium des Theaters, das bis ins 18. Jahrhundert ausschließlich Teil des höfischen Lebens gewesen war, wurde offiziell als Wohltat dargestellt – bis unübersehbar wurde, dass es dem Adel mit diesem vermeintlich generösen Akt meist nur darum ging, die finanzielle Belastung durch eine kostenintensive Institution auf das Bürgertum abzuwälzen. Nicht selten führte diese fürstliche Geste spätestens dann zu Konflikten mit einem wachsamen Bürgertum, wenn das Theater nur vorgeblich einen bürgerlichen Anstrich erhalten, das heißt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Residenz situiert bleiben und nach wie vor eher Hof- denn Nationaltheater sein sollte. In Hannover konnte sich um die Jahrhundertmitte dann doch das Bürgertum durchsetzen und – unterstützt durch ein dementsprechendes Stadtplanungskonzept des Architekten Georg Ludwig Friedrich Laves – das Theater gegen den Wunsch von König Ernst August dem Einflussbereich des Leineschlosses entziehen und den Neubau damit für das bürgerliche Stadtzentrum reklamieren.
Aufschlussreich ist auch, wie viele neu gegründete Universitäten in ehemaligen oder unbewohnten Schlössern und Palais des Adels untergebracht wurden: Die erste Berliner Universität, die später nach Wilhelm von Humboldt benannt wurde, fand 1810 ihre äußerst luxuriöse Heimstatt im Palais des Prinzen Heinrich von Preußen, einer weitläufigen, in der Mitte des 18. Jahrhunderts erbauten Dreiflügelanlage, die seit 1802 leer stand. Nachdem die Rheinlande an Preußen gefallen waren, zog die neu gegründete Friedrich-Wilhelms-Universität 1818 als sechste preußische Universität in die beiden leer stehenden erzbischöflichen Schlösser der Stadt Bonn. Der Standort in den erst seit kurzem zu Preußen gehörenden Rheinprovinzen war bewusst gewählt: Einerseits sollten dem akademischen Leben dort neue Impulse verliehen werden, andererseits setzte eine protestantische Institution in säkularisierten Residenzen hoher katholischer Würdenträger ein deutliches Signal der konfessionellen Überlegenheit. Dass die Technische Hochschule Hannover 1879 in das
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gerade fertiggestellte Königsschloss einzog, war so zu keinem Zeitpunkt geplant gewesen. Aber da Hannover dreizehn Jahre zuvor an Preußen gefallen war, hatten die Welfen ihre neue Residenz niemals in Besitz nehmen können, und mussten nun dulden, wie Bildung und Wissenschaft in Gestalt von meist bürgerlichen Professoren und Studenten anstelle der Monarchie dort Einzug hielten. Das Beispiel der ‚eroberten‘ Residenzen sollte Schule machen, denn als es nach der Reichsgründung erneut zu zahlreichen Neugründungen oder Erweiterungen von Universitäten kam, setzten sich aufgrund des gestiegenen Raumbedarfs des Öfteren E-förmige Grundrisse oder Zweihofanlagen nach dem Vorbild barocker Klöster oder Schlösser durch. Architekturtypologisch besaßen solche Komplexe einen hohen Würdegrad, deren nicht verblasster Glanz auf die noch jungen Universitäten abstrahlte. Es war vor allem auch die Symmetrie der übernommenen historischen Anlagen, die eine variable und übersichtliche Raumaufteilung erlaubte und sich in der Praxis als äußerst tauglich erwies.
Ein außergewöhnliches Phänomen der profanen Nutzarchitektur bereits des 18. und dann auch des 19. Jahrhunderts zeigte sich in der fast gewaltsam anmutenden Verschmelzung zweier Architekturformen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können – dem Schloss und dem, was im weitesten Sinne als Fabrik oder Produktionsstätte bezeichnet werden konnte. Zwei völlig konträre Welten trafen zum Beispiel dort aufeinander, wo sich der Typus des neuzeitlichen Adelssitzes und die zeitgenössische Industrie begegneten – im sogenannten ‚Fabrikschloss‘. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten sich bürgerliche Unternehmer, die ausschließlich kraft ihrer eigenen Fähigkeiten ihren Beitrag zur Frühindustrialisierung leisteten, das Recht herausgenommen, die dem Adel beziehungsweise dem Klerus vorbehaltene herrschaftliche Architektur auch für sich zu beanspruchen und damit ihre Leistungen im wahrsten Sinne des Wortes zu ‚adeln‘. Gleichzeitig ist in dieser Inbesitznahme auch eine gewisse Genugtuung vorstellbar, nämlich höchstrangigen Bauformen durch eine extreme Zweckentfremdung ihre machtvolle Aura zu nehmen und damit nachträglich deren ehemalige Bewohner zu demütigen. Auf diese Weise entstand das Fabrikschloss – sei es durch Umfunktionierung bereits bestehender Gebäude oder aber durch Errichtung neuer,
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schlossartiger Komplexe, die aufgrund ihrer Weitläufigkeit und der großzügig geschnittenen hohen Räume für bestimmte Produktionsabläufe geeignet waren. Seine unübertroffene Vollendung fand diese neuartige Industriearchitektur in der Schüleschen Kattunfabrik, die 1770/71 in der freien Reichsstadt Augsburg von dem gleichnamigen Unternehmer als spätbarocke Dreiflügelanlage mit einem tiefen Ehrenhof erbaut worden war. Als Kaiser Joseph II. Johann Heinrich Schüle nur ein Jahr später in den erblichen Adelsstand erhob, wurden mit diesem Akt die Relationen wiederhergestellt und die Aufwertung der reinen Zweckarchitektur nachträglich durch die Nobilitierung ihres Erbauers legitimiert. Ganz anders stellt sich eine solche Neuinterpretation von Architektur am Beispiel des ehemaligen Benediktinerklosters Mettlach dar, wo nicht etwa ein Nutzbau geadelt, sondern ein herrschaftliches Gebäude auf ein niedrigeres Bedeutungsniveau zurückgestuft wurde. Das im 18. Jahrhundert erbaute Kloster war von napoleonischen Truppen geplündert und in der Folge im Jahr 1794 säkularisiert worden. Fünfzehn Jahre später nahm Jean-François Boch die Gelegenheit wahr, erwarb das weitläufige Anwesen, brachte dort seine bald sehr profitabel arbeitende Keramikfabrik unter und machte dadurch aus dem ehemaligen Kloster eine Art ‚Schloss mit Schloten‘. Interessant ist, dass die – später ebenfalls geadelte Familie Boch – herrschaftliche Attitüden übernahm und für ihre Memoria Anleihen bei royaler französischer Sakralarchitektur des Mittelalters suchte. Im ehemaligen Klostergarten von Mettlach befindet sich nämlich auch die Gruft der Fabrikantenfamilie, über der sich die neugotische Kapelle St. Joseph erhebt, die 1864 als Nachbildung der Sainte-Chapelle in Paris (13. Jh.) in einem Nachbarort als Krankenhauskapelle errichtet worden war. Eugen von Boch konnte die aufgelassene Kapelle erwerben, ließ sie ab- und wiederaufbauen und schuf sich und seiner Familie auf diese Weise eine Grablege, die höchsten Ansprüchen genügen konnte und im Kontext mit dem barocken Fabrikgebäude der Familie von Boch den Anstrich ehrwürdiger Anciennität verlieh.
Im Gegensatz zu den keramischen Gebrauchsgegenständen, die in einem ehemaligen Kloster hergestellt wurden, handelte es sich bei dem Produkt, das mit dem sogenannten Palais Longchamp in Marseille seit den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts in einem eigens dafür errichteten
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‚Tempel‘ verehrt wurde, um eines von elementarer Art. Es waren das Wasser und zugleich auch die Ingenieurskunst, denen man zwei Jahrzehnte nach Fertigstellung der Trinkwasserzuleitung für die Stadt Marseille ein Denkmal in der Gestalt des Palais Longchamp errichtete. Der Architekt Henri Espérandieu schuf in den Jahren 1862 – 69 nach Plänen von Frédéric Auguste Bartholdi eine Dreiflügelanlage in der Art eines frühbarocken Belvederes, dessen Kolonnaden-Architektur im Halbrund eine terrassierte Brunnenanlage mit Wasserkaskaden einfasst, das sogenannte „Chateau d’eau“.
Abb. 2: Marseille, Palais Longchamps, 1862 – 1869 (> Abbildungsnachweis)
Das Zentrum des Komplexes bildet ein Triumphbogen, unter dem die Personifikation des Flusses Durance, von dem das Wasser abgleitet wurde, dargestellt ist. Namensgebend für den Wasserpalast, der als Ausdruck des Stolzes angesichts einer technischen, die städtische Lebensqualität entscheidend verbessernden Leistung gesehen werden muss, war das Plateau Longchamp über Marseille, von dem aus das kostbare Trinkwasser in der Stadt verteilt wurde.
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Von sehr archaischer Natur waren dagegen die in den Bergbauregionen des Ruhrgebiets heimischen, sogenannten „Malakowtürme“, die größtenteils zwischen 1850 und 1880 erbaut wurden und eine technische Verbesserung bei der Steinkohleförderung darstellten. Die vormals hölzernen Fördergerüste wurden nun von diesen massiven Türmen aus Backstein- oder Bruchsteinmauerwerk abgelöst, die Höhen von bis zu fünfunddreißig Metern erreichten. Diese Türme, deren Mauern aus statischen Gründen bis zu zwei Metern stark waren, erinnerten teils an trutzige italienische Castelli und nicht zufällig auch an schlichte, beinahe fensterlose frühmittelalterliche Fluchtburgen. An unwirtlichen Orten erbaut, die oft noch keinerlei Siedlungsstrukturen geschweige denn topografische Orientierungspunkte wie zum Beispiel Kirchtürme aufwiesen, spiegelten diese Nutzbauten auf kongeniale Weise die Verknüpfung von Lebenswirklichkeiten verschiedener historischer Welten wider – zusammengeführt durch einen solitären Standort und die tägliche Mühsal der Existenz: hier gegen die feindliche Außenwelt, dort gegen die Gefahren des Bergbaus.