Читать книгу Pax - Eva Roman - Страница 3

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VOR DEN BUSFENSTERN ragten nur noch die Pfahlspitzen der Zäune aus dem tiefen Schnee, vereinzelt wie dunkle Kommata auf einem weißen Blatt Papier. Selbst die goldene Kugel auf der Spitze des zwiebelförmigen Kirchturms von Lauterthal trug eine weiße Haube, als es der Großmutter mit einem Mal sehr viel schlechter ging. Sie schlief jetzt meistens, atmete röchelnd ein und aus, während vor ihrem Wohnzimmerfenster Vögel die Futterstelle anflogen, die die über ihr wohnenden Nachbarn auf ihrem Balkon eingerichtet hatten. Die Fahrt über versuchte Pax das mulmige Gefühl von sich fernzuhalten, das ihn jedes Mal befiel, seitdem sie die Großmutter einmal reglos auf dem Boden vor ihrem Bett gefunden hatten. Lieber malte er sich das Schauspiel der Vögel aus, sah die schwarzen Amseln auf den verschneiten Ästen, die feuchten Köpfe der Blaumeisen zwischen den letzten roten Beeren und den großen Eichelhäher, der wie ein farbiger Rabe über den Schnee schritt und sofort seinen Warnschrei ausstieß, sobald sie sich drinnen bewegten oder eine der Dorfkatzen sich anschlich, im Glauben, vor dem weißen Hintergrund noch immer bestens getarnt zu sein.

Einmal war ein Sperber angeflogen, hatte einen der Spatzen mit sich davongerissen, das ist halt die Natur, Tante Beatrix stellte die Packung mit den Keksen ein Stück von sich weg, Schluss damit, sagte sie, oder willst noch einen, du wächst ja noch. Pax hielt den Blick nach draußen, auf den aufgeregt zurückgebliebenen Rest der Schar, bevor er den Kopf schüttelte und sich an den Rand von Großmutters Sofa setzte. Schläft, sagte er.

Meistens übernachteten sie jetzt in Lauterthal, auf Feldbetten in der Küche, von der bloßen Gegenwart des jeweils anderen derart unangenehm berührt, dass ihnen das Einschlafen trotz ihrer täglich zunehmenden Müdigkeit immer mehr zur Kunst wurde, und wenn es ihnen endlich gelungen war, so wurde einer von beiden schon bald von einem Schnarchen oder von dem Knarzen geweckt, das die Metallgestelle bei jeder noch so kleinen Bewegung von sich gaben. Heute aber war es keines dieser üblichen Störgeräusche, von dem sie wach wurden, dass sie jetzt heimkehren würde, zu ihrem liebsten Kind, schrie die Großmutter aus dem Wohnzimmer durch das Dunkel, und warum ihr der Herrgott ausgerechnet dieses genommen hatte, augenblicklich sollte Tante Beatrix den Pfarrer holen, für die letzte Ölung, die insgesamt drei Mal in sechs Wochen stattfand. Ab dem vierten Mal ließ Tante Beatrix die Großmutter schreien, mit dem Messer zerteilte sie rosafarbene Ohrstöpsel. Für dich, sie hielt Pax zwei Teile hin, sodass sie in jener Nacht, als die Großmutter mit geöffnetem Mund erstarrt war, nichts als die Geräusche ihrer eigenen Körper gehört hatten.

Bis die Erde es wieder zuließ, dass der Friedhofsgärtner in die Tiefe grub, mussten sie warten. Pax hätte gern geweint, als Tante Beatrix die Schaufel etwas ungeschickt drehte und er die Erde auf den Holzsarg treffen hörte. Stattdessen fiel ihm Großmutters Gesicht ein, dem die Krankheit sämtliche Farben entzogen hatte. Großmutter, auf dem Sofa, ein Gebilde aus Glasknochen, die allein unter dem Gewicht der Bettdecke zu brechen drohten, und trotzdem noch mächtig genug, Tante Beatrix’ Stimme in die eines eingeschüchterten, kleinen Mädchens zu verwandeln und Pax eine Ohrfeige zu verpassen dafür, dass er nachgefragt hatte, wieso der gute, allmächtige Gott, zu dem sie unablässig betete, sie so im Stich gelassen hatte.

Anfangs waren sie noch mit dem Rollstuhl ein Stück die Dorfstraße hinuntergefahren, in die Bäckerei, um eine mit Salz und Kümmel bestreute Seele zu holen, an der die Großmutter den Heimweg über kaute, später aber wollte sie das Haus gar nicht mehr verlassen, weshalb Tante Beatrix sich auf ihre endlose Suche nach der passenden Unterstützung gemacht hatte. Männer durften die Großmutter nicht anfassen, Frauen bezichtigte sie des Diebstahls. Deshalb mussten sie letztlich ständig selber nach Lauterthal. Immerhin haben wir so unseren Sport, sagte Tante Beatrix bei gutem Wetter, während sie das Garagentor öffnete und darauf wartete, dass Pax sein Fahrrad mit den Vollgummireifen herausrollte. Wenn er Glück hatte, durfte er zuhause bei Oma Peschka bleiben, die er längst zu seiner eigentlichen Oma bestimmt hatte. Wenn nicht, fuhr er vor Tante Beatrix her, immer die Landstraße entlang, gegen den Wind und die Druckwellen der vorbeifahrenden Lastwagen.

Fand sich wieder einmal niemand, der einspringen konnte, selbst Oma Peschka nicht, so war Tante Beatrix gezwungen, die Großmutter ausnahmsweise selber zu wickeln, und Pax musste das Zimmer verlassen. Er wartete dann in dem dunklen Flur vor dem Schlüsselloch oder unter dem Vordach am Fenster, von wo aus er die beiden beobachtete. Mal lag die Großmutter einfach nur da, den Kopf abgewandt wie ein beschämtes runzeliges Kind, mal lachte sie Tante Beatrix an, du hast mich gerettet, sagte sie mit heller Stimme, und dass es kurz vor knapp war, schau doch, sie deutete in den Himmel, aus dem sie in letzter Zeit wieder Christbäume regnen sah. Jeden Moment konnte sich der Ausdruck ihres Gesichts in sein Gegenteil verkehren, mit Absicht wollt ihr mich sterben lassen, sagte sie dann, weil ihr Geld braucht, ihr Geier, bevor sie wie immer das Wort an die Jahresuhr richtete, durch deren Glasglocke die Sonne ein flimmerndes Muster an die Wand warf. In der Uhr musste sich wohl der Großvater befinden, wie der Leib Christi in der diamantbesetzten Monstranz der Lauterthaler Kirche, oder auch nur wie ein Flaschengeist, einmal kehrt er doch noch heim, sagte die Großmutter jetzt, und wenn sie dann drei Wünsche frei haben sollte, so war der erste, dass er ihnen die Ohren langzog, im Keller, damit sie endlich zugaben, wo das verdammte Geld hin war.

Pax hatte das Spiel schnell verstanden. Sie suchten. Tante Beatrix suchte im Schrank, und er suchte hinter dem Jesus mit Dornenkrone und vergoldetem Lendenschurz oder unter dem Teppich, und nach etwa zwei Minuten entdeckten sie das Geld dann jedes Mal unter Großmutters Kopfkissen. Heute aber war es dort nicht, es befand sich stattdessen, eingewickelt in kotverschmierte Waschlappen, im Mülleimer, bist du jetzt völlig – Tante Beatrix packte die Großmutter an ihren Handgelenken, auf denen sich umgehend Blutergüsse abzeichneten, ihre Fingerabdrücke auf Großmutters Pergamenthaut.

Pax lief hinaus in den Garten zwischen die Forsythien. So lange er sich erinnern konnte, hatte die Großmutter Anfang Dezember Barbarazweige aus den Büschen geschnitten, die an den Weihnachtstagen hellgelb in der Stube blühten und dabei ihren frühlingshaften Duft verströmten. Er schloss die Augen und stellte sich die leuchtenden Zweige vor, eine ganze Weile blieb er so stehen, bis ihm irgendwann der Geruch von gedünsteten Zwiebeln in die Nase drang. Ihm wurde schlecht, wenn Tante Beatrix Großmutter fütterte, Essen anreichte, wie Großmutters ehemalige Pflegekraft Schwester Renate, eine der letzten Nonnen des örtlichen Klosters, es genannt hatte, sie hatte auch nicht Lätzchen gesagt, sondern Serviervorlage, und aus dem Wickeln war der Wechsel der Inkontinenzmaterialien geworden. Jedenfalls bevor die Großmutter sie des Diebstahls bezichtigt hatte. Sie hatten sich entschuldigt und die Klosterfrau noch mehrfach zum Bleiben überredet und erst viel später festgestellt, dass Großmutters Bündel mit den Geldscheinen sich während Schwester Renates Ehrenamt tatsächlich mehr als halbiert hatte.

Kann kein Mensch essen, behauptete die Großmutter oft, und dann spuckte sie aus, die Suppen und den Brei und die zerquetschten Bananen, unbegabt warst du immer, woraufhin sie von dem Hähnchencurry mit Ananas schwärmte, das ihre jüngere Tochter eingeführt hatte. Das war ein Mal, ein einziges Mal, dass die für uns gekocht hat, flüsterte Tante Beatrix und weiter, dass sie endlich still davon sein sollte, sie sah zu Pax, der in der Küche half, die Ränder vom Toastbrot abzutrennen und es in mundgerechte Vierecke zu schneiden, damit die Großmutter gut kauen konnte. Mit an das Sofa, auf dem sie gefüttert wurde, wollte er nicht, schon gar nicht, nachdem er einmal beobachtet hatte, wie ihr Gebiss in die pürierte Bratwurst gefallen war. Nach dem Essen wollte die Großmutter immer nachhause laufen, ob sie jetzt endlich heimgehen könne? fragte sie mit Wut in der Stimme, und Tante Beatrix antwortete jedes Mal, du warst es doch, die den Hof gegen die Wohnung getauscht hat. Gott sei Dank, stell dir vor, du wärst jetzt allein in dem riesigen Haus, und wer diese Arbeit machen sollte. Tante Beatrix setzte den Kamm an und riss der Großmutter ganze Strähnen aus, bis sie aufschrie, es kam auch vor, dass sie sie verletzte, indem sie ihr die Nägel wie zufällig bis unters Fleisch kürzte, erzähl was, rief sie Pax zu, er aber wollte lieber nichts von dem berichten, was er draußen erlebt hatte, damit die Großmutter nicht neidisch wurde. Später, während Tante Beatrix Nägel und Windeln entsorgte, verlangte die Großmutter eilig, dass Pax die Zeitung brachte, um mit ihr zusammen die Todesanzeigen zu buchstabieren. Bald wirst du hier meinen Namen lesen können, sagte sie dann.

Vorsichtig griff Pax in die Schale mit den Blütenblättern, deren Duft sich mit dem der feuchten Erde und den Weihrauchschwaden über der Thujahecke vermischte. Kalt wie Wachs fühlten sich die dünnen Blätter an, feucht und tot. Schweres Konfetti, das ihn an etwas erinnerte. An die Frau mit der langen Sprache.

Lange Sprache? Tante Beatrix zuckte mit den Schultern, dass sie ehrlich keine Ahnung hatte, was er meinte, sagte sie, bevor sie in das Vaterunser einstimmte. Wie sie seine Hand dabei drückte, wenn auch nur, weil der Pfarrer sie dazu aufgefordert hatte. Pax fand es schön, er beobachtete Tante Beatrix, beruhigt vom Gemurmel der ewig gleichen Worte, und er hatte sie schon die Tage vorher belauert, morgens aus der Deckung seiner Cornflakespackung heraus – auch Tante Beatrix schien nicht weinen zu müssen, er sah sich um, tatsächlich weinte gar niemand der Anwesenden, was vielleicht daran lag, dass Tränen das Letzte für die Großmutter gewesen waren, und dass sie für das Geheule an ihrem Grab ganz sicher kein Verständnis aufgebracht hätte.

Einzig Tante Beatrix’ Augenlider waren eine Zeitlang geröteter als sonst, vielleicht weinte sie also doch heimlich, nachts oder noch vor dem Frühstück, dachte Pax, während sie zuhause im Garten darauf warteten, dass Oma Peschka den Frühling ausrief. Man kommt ja schon irgendwann an seine Grenzen, nach all dem Unglück, Tante Beatrix hielt einen Eimer über den Brunnen, andererseits, gab sie zu, war man aber doch auch ein bisschen erleichtert. Oma Peschka nickte, dass sie das Ganze ja selber durchhatte, sie lächelte mitleidig. Pax betätigte die Pumpe, einen eingetrockneten Fleck im Visier, Vanillesauce, auf Oma Peschkas Hauskleid. Gut, dass der Winter die Leitungen verschont hat, Oma Peschka zwinkerte ihm zu, während sie etwas von dem kalten Wasser in seine Richtung schnippte, ob er Lust hatte, mit ihr die Kaninchen zu füttern? Damit sich deine Tante endlich mal ein bisschen ausruhen kann. Aufmunternd streckte sie ihm ihre Hand entgegen.

In dem riesigen Kaninchenstall, den der alte Peschka vielleicht nur deshalb an das Ende des Gartens gemauert hatte, weil ihm damals noch so viele Ziegel übrig geblieben waren, hing noch immer seine rostige Sense an einem Haken. Darüber hinaus hatte Peschka ein weiß gekalktes Mehrfamilienhaus mit braunen Fensterrahmen hinterlassen, dessen Fassade ein gusseiserner Vogel zierte. Nach Kriegsende und der Flucht aus Oberschlesien, wo vier kräftige Viehhändler ihn davon überzeugen konnten, ihre Schwester, die ein Kind erwartete, zu heiraten, hatte Peschka das Haus selbst gebaut, eine Leistung, die Pax beeindruckte, vielleicht gerade weil er Opa Peschka nie kennengelernt hatte. Er stellte sich vor, wie Peschka mit ein paar Männern Stein auf Stein schichtete, um dieses in den Augen eines Kindes riesige Haus zu mauern. Die Umstände von Peschkas Tod blieben für Pax undurchsichtig. Er hat zu tief ins Glas geschaut, sagte Tante Beatrix einmal, den Blick betreten abgewandt, während die Nachbarin nickte und leise das Wort Kor-sa-kow murmelte, bevor sie sich den Kindern gegenüber zu einer deutlicheren Geste hinreißen ließ: Sie hielt sich den Daumen der erhobenen rechten Hand an den Mund, die drei mittleren Finger um eine imaginäre Flasche, den kleinen abgespreizt, gluck-gluck sagte sie zwinkernd, bevor sie die Augen verdrehte und wie eine schwer Besoffene auf die Kinder zutorkelte. Wenn Leni, Oma Peschkas Enkelin, zu Besuch war, spielten Pax und sie oft in dem alten Kaninchenstall, gluck-gluck: Man musste sich zwingen, unter Opa Peschkas Sense so viele Schlucke Wasser zu trinken, wie man alt war, das ging noch, denn es waren damals nur sechs oder sieben, es gab Steigerungen, sechsundvierzig Schlucke für Tante Beatrix oder unschaffbare einundsechzig Schlucke Todesgefahr, Oma Peschka. War der Bauch zu voll, konnte man aufgeben, indem man laut und mit möglichst russischer Betonung das Codewort Kor-sa-kow schrie, dann folgten Varianten: einen Apfel an der Schnittseite der Sense in kleine Stücke schlitzen, eines der Stückchen in Sand paniert essen, in fünf Sekunden einmal um das Haus rennen, fünf Klimmzüge an der Schaukelstange machen, unter der Sense ein letztes Gebet sprechen und weitere Spiele, deren lustvoller Mittelpunkt immer die rostige Sense war, bis sie von der Schubkarre abgelöst wurde, die sich angeblich über Nacht mit Regenwasser aus Tschernobyl gefüllt hatte und deren unheimliche Anziehungskraft nur durch Tante Beatrix’ Erscheinen auf dem Balkon oder Oma Peschkas Auftritt mit Wäschekorb, Leine und Klammern im Garten gebrochen werden konnte. Manchmal gesellte sich Hendryk zu ihnen, nicht viel älter als sie, er lebte mit seiner Mutter in dem einzigen Wohnblock Blauenklingens schräg gegenüber, am Ende der Forststraße. Mit dem grünen Lkw, der, auf einer eigens gemieteten Abstellfläche geparkt, die Anwesenheit seines Vaters an den Wochenenden anzeigte, schienen Hendryks Ausbrüche zusammenzuhängen, einmal versuchte er den Wohnblock anzuzünden, indem er stundenlang vergeblich ein Feuerzeug an den Außenputz hielt. Pax und Leni ließen ihn nie mitspielen, wenn der Lkw auf dem Parkplatz stand, weil Hendryk dann unberechenbar war, jedenfalls nicht bereit, sich an die strengen Regeln ihres Spiels zu halten. Wir sollen doch nicht mehr Kor-sa-kow schreien, wies ihn Leni zurecht, weil das Wort unangenehm für Oma ist. Hendryk murmelte eine Entschuldigung, im Grunde wusste keiner von ihnen, was das Wort überhaupt bedeuten sollte, aber jeder kannte die Geschichte dazu, dass der alte Peschka nach einer Feier in eine Baugrube gefallen war, und hinterher war er nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen. Lenis Oma hatte ihn vierundzwanzig Stunden am Tag betreuen müssen, keine Sekunde hatte sie mehr für sich gehabt, und trotzdem war es Opa Peschka gelungen, immer wieder auszubrechen, um sich bei den Nachbarn in den Garten zu stellen und bei jedem Wetter stundenlang in den Apfelbaum zu starren.

Mein Vater sagt, deine Oma hat den Alten mit Absicht zu Weihnachten draußen erfrieren lassen, Hendryk sah Leni herausfordernd an. Sei doch still, Idiot, Pax schubste ihn, sodass er hintenüber zwischen die Strohballen fiel. A-B-C, Lenis Opa liegt tot im Schnee, wiederholte Hendryk kichernd, klopfte den Staub von seinem Pullover ab und steckte Pax eine Handvoll Stroh in den Kragen. Dann versuchte er die Kaninchen zu befreien, bis Pax und Leni ihn endlich gemeinsam überwältigen konnten.

Pax

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