Читать книгу Pax - Eva Roman - Страница 4
ОглавлениеOMA PESCHKA wohnte im Erdgeschoss, darüber Döberleins, ein kinderloses Lehrerehepaar, und gegenüber Tante Beatrix mit Pax, ganz oben wechselten die Mieter häufig. Als Pax in die Grundschule ging, lebte der Bärtige mit seiner Freundin zwischen den Dachschrägen, sein Motorrad stand im Hof, eine schwere Straßenmaschine, bordeaux-metallic lackiert. Seine Freundin war zwar selten zu sehen, Pax aber nahm sie ständig wahr, entweder über sich, ihre Absätze auf dem Parkett oder den Fliesen im Bad, oder vor sich, ihr Haarspray im Treppenhaus, immer öfter auch nachts, wenn sie den Bärtigen lautstark aus der Wohnung warf. Von diesen flüchtigen Begegnungen mit der Nachbarin blieben Pax nur schemenhafte Bilder, ihre Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden, der schräg am Hinterkopf saß, die dunkel schattierten Augenlider, lange Wimpern, ihre dünnen roten Lippen, die zierliche Figur und die wenig zarte Stimme, die ins nächtliche Treppenhaus schrie. Wenn Pax davon aufwachte, stand Tante Beatrix schon – oder immer noch – in der Küche und räumte auf, willst du wissen, wie man Silber putzt? fragte sie, oder ob er eigentlich Ahnung davon hätte, wie man bügelte, wobei die Uhrzeit keinen Einfluss auf ihre immer gleichen Fragen im immer gleichen Tonfall zu nehmen schien, sie fragte, ohne zu bemerken, dass sie es Pax beim letzten Mal schon erklärt hatte und viele Male zuvor – sie stand in genau der gleichen Haltung an genau der gleichen Stelle am Bügelbrett oder am Herd, die Alufolie und den Topf vor sich, in dem sie das Silberbesteck kochen wollte, und diese absolute Gleichförmigkeit war etwas, das Pax an ihr mochte, weil alles vorhersehbar schien.
Er genoss die warme Feuchtigkeit, das Brodeln und Zischen, den Wäschegeruch, wenn der Wasserdampf aus dem Bügeleisen aufstieg, die Befriedigung, wenn sich noch die widerspenstigsten Stoffe unter dem heißen Bügeleisen aufgaben, mach nochmal, sagte Pax, Tante Beatrix löste den Knopf für den Wasserdampf aus, sie bügelte, während Pax eine kleine Kupferkanne bereithielt, um den Tank jedes Mal wieder aufzufüllen. Die beschlagenen Fenster blieben fest geschlossen, auch in den Sommernächten, wenn ihnen der Schweiß beim Bügeln die Gesichter glänzend machte, dazu lief das Radio, das Radio lief immer, wenn Tante Beatrix wach war, konnte aber die wüsten Beschimpfungen der Nachbarn im Treppenhaus nicht übertönen, eine Tatsache, die Tante Beatrix manchmal dazu veranlasste, mitzusingen. Pax fand es unangenehm, ihr zuzuhören, lass das doch, sagte er, und Tante Beatrix sah ihn an, das Gesicht zu etwas verzogen, das als ein Lächeln durchgehen konnte, dem rein gar nichts zu entnehmen war, weder ob sie selbst ihr Singen gut fand, oder ob sie es gut fand, dass es Pax peinlich war, ja, vielleicht genoss sie seinen Zustand. Sie lächelte im Singen, das R rollend, zwiespältig, als sänge sie lustvoll und schämte sich zugleich für diese Lust am Singen, und so war ihr Lächeln wie das Lächeln eines ertappten Kindes, das unter der Hand eine Fliege verbirgt, der es soeben einen Flügel ausgerissen hat.
Die Nachbarn von oben waren für Pax umso faszinierender, je mehr sich die Frau in ihrer Wortwahl gehenließ und je öfter der Bärtige in seiner Lederkluft das Motorrad bestieg und im Anfahren derart beschleunigte, dass sich das Vorderrad vom Boden hob, eine Übung, die Pax mit seinem Fahrrad zu imitieren versuchte, leider nicht so erfolgreich wie Leni, die auf dem Hinterrad einmal quer durch den Hof fahren konnte. Wie viele Möglichkeiten es gab, sich zu frisieren und zu kleiden – die wenigen Male, die Pax und Tante Beatrix den Nachbarn über den Weg liefen, führten es ihnen vor Augen. Das sind Rocker, raunte Tante Beatrix jedes Mal furchtsam, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten, griff ihm zwischen die Schultern und grüßte die Nachbarn artig.
Lass mich auch mal an das Bügeleisen, Tante Beatrix, bettelte Pax an einem dieser Abende. Aber nur ausnahmsweise, sagte sie, und nur Hemden, Hosen und T-Shirts. Alles andere ist Frauensache, verkündete sie und spannte die Finger über ein knitteriges Stück Stoff.
Pax bügelte mit Hingabe, er plättete, während Tante Beatrix Fusseln abzupfte von Decken, von Pullovern, von seinen und von ihren Ärmeln, von Knien und Fersen und dem Teppich darunter. Und noch während Pax die ersten Socken stopfte, hatte er längst schon ein Auge auf die Nähmaschine geworfen und wollte wissen, wie sie funktionierte. Er stellte auf Zick-Zack-Stich, dunkel wars, der Mond schien helle, Schnee lag auf der grünen Flur, als ein Wagen blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr, so dichtete das Radio in einer Sendung über Varianten der Unsinnspoesie, bevor es wieder Musik spielte. Pax nähte melodiöse Kurven und Wellen, während sich der hinausgeworfene Bärtige einmal mehr irgendwo zulaufen ließ, immer öfter fiel er jetzt schon im Erdgeschoss gegen die Tür und schlief davor ein. Pax beobachtete genau, wie man die Nähmaschine bestückte, wie man Stoffe aneinandernähte und auseinandertrennte – er versuchte sich an der Maschine, während Tante Beatrix auf dem Sofa saß und ihr die Augen wieder und wieder zufielen. Manchmal, wenn der Bärtige mit dem Motorrad zurückkam, gab es oben eine lautstarke Versöhnung, Tante Beatrix lag dann auf dem Sofa und presste die Lider zusammen, als schliefe sie, dabei konnte Pax ihr ansehen, dass sie bis in die letzte Muskelfaser angespannt auf jeden Lustschrei lauschte. Wenn es zu laut wurde, nähte er über die Geräuschkulisse. Der Bärtige aber kam immer seltener mit dem Motorrad zurück, er torkelte jetzt meistens, manchmal konnte Pax ihn sehen, wie er zwischen Hauswand und Gartenzaun pendelte, und häufig lag er morgens noch irgendwo um das Haus. Mal hatte er nachts Kartons aus der Mülltonne gezerrt und lagerte darauf im Vorgarten unweit der Tanne, unter der Pax und Leni ihr geheimes Versteck hatten, mal schnarchte er im Schuppen bei den Kaninchen, mal drückte er die Sandburgen platt, die sie erst am Vortag gebaut hatten.
Tante Beatrix hatte das Bügeleisen zum Auskühlen auf eine der Herdplatten gestellt, schon so spät, sagte sie, und ob er bitte das Bügelbrett aufräumen könnte und sich dann gleich die Zähne putzen. Pax nickte, mit dem Zeigefinger zeichnete er zwei Punkte und einen lachenden Mund auf die beschlagene Fensterscheibe, bevor er im Bad verschwand und später in sein Zimmer hinüberging, sich auszog und auf sein Bett legte. Eine leise Melodie aus dem Radio und der Duft nach frischer Wäsche waren das Letzte, das er wahrnahm, bevor ihm die Augen zufielen, da war noch Tante Beatrix’ Murmeln, ob er auch wirklich seine Zähne geputzt hatte, und er schüttelte den Kopf schon halb im Schlaf, träumte von einer Sinfonie aus Wasserdampf, aus feinem weißem und dichtem, nassen Dampf, aus schnellen Schwaden und tropischer Feuchtigkeit, die sich eben in einem finalen Regenguss auflösen wollte, als ein Schrei die Stille zerriss, gefolgt von einem dumpfen Schlag vor der Wohnungstür.
Pax schrak auf, und er hörte, dass Tante Beatrix auch wach war, wie sie ihre Hausschuhe mit den Zehen in die gewünschte Richtung drehte, nahm er wahr und wusste, dass sie jetzt in den Morgenmantel schlüpfte, der am stummen Diener hing, lauschte ihren Schritten ins Badezimmer, bevor er aufsprang, in die Küche schlich und den Schemel holte, mit dessen Hilfe er und Tante Beatrix die oberen Küchenfächer erreichen konnten, in denen sich Backzutaten, Grieß und Gewürze befanden und die sie selten nutzten, seit sie auf Tiefkühlkost umgestiegen waren. Durch den Türspion sah Pax den Bärtigen in einer seltsam verkrümmten Haltung auf dem Absatz liegen, die Großmutter fiel ihm ein, wie sie sie einmal hilflos und steif neben dem Bett gefunden hatten, und Opa Peschka, erfroren unter dem verschneiten Apfelbaum.
Im Badezimmer rauschte das Wasser zwischen den quietschenden Geräuschen der Armatur, lass die Tür bloß zu, sagte Tante Beatrix, den Wäschekorb unter ihrem Arm, und dass er wieder zurück ins Bett sollte.
Aber ich bin hellwach, protestierte Pax. Ob Opa Peschka wirklich tot im Schnee gelegen hatte?
Wer erzählt denn einen solchen Unsinn? fragte Tante Beatrix, der war einfach alt und musste dann ewig ins Krankenhaus, irgendwas am Darm. Sie setzte sich auf das Sofa, ob er eigentlich wusste, wie man Socken richtig zusammenlegte?
Pax hörte ein Wimmern. Wieder sah er durch den Spion, vielleicht hat er sich verletzt, Tante Beatrix suchte zwei passende Socken, wo hat sich der zweite versteckt, murmelte Pax am Guckloch. Na, wo hat sich der zweite versteckt? sagte Tante Beatrix, weiter, kontrollieren, ob gestopft werden muss, danach Ferse auf Ferse und glattstreichen.
Kommst du bitte? Tante Beatrix vermied es nach Möglichkeit, seinen Namen auszusprechen, nur wenn es gar nicht anders ging, sagte sie Pax, Pax gehörte zu Christus, Pax war kein üblicher Vorname, im Treppenhaus ging das Licht aus, die Spitze zur Ferse, Max, den oberen Teil darübergeklappt, Pax setzte sich neben sie auf das Sofa, zwischen ihnen der Wäschekorb, draußen das lauter werdende Jammern, Tante Beatrix stellte das Radio an, aber keine Nachrichten, rief sie dem Moderator zu, wir haben sie satt, eure schlechten Nachrichten vom Weltuntergang, spielt doch einfach mal schöne Musik. Es kam eine Sendung, in der Hörer einem Psychologen Fragen stellen konnten, mein Sohn meldet sich nie bei mir, mein Kind klaut Geld aus meinem Portemonnaie, meine Freundin ist vielleicht schwanger, und was man jetzt machen könnte, damit es niemand merkt – Pax tat, als hörte er nichts, während Tante Beatrix schnell weiterdrehte, sie griff nach ihrem Strickzeug, Marschmusik ertönte –, die Zeiten sind wirklich vorbei, Tante Beatrix fand eine Operette, die sie nach Pax’ Protest gegen ein instrumentales Medley eintauschte. In warmem Gelb leuchtete das Radio aus der Schrankwand in das Zimmer, die Anzeige das Tor zur Welt, Baden-Baden, Brüssel, SFB, Paris, Wien, Rom, meistens aber lief der Südwestfunk oder der Bayerische Rundfunk, manchmal stellte Pax um, versuchte Moskau oder Tel Aviv, dabei konnte er sicher sein, dass Tante Beatrix den Ausgangszustand wiederherstellte, sobald er aus dem Zimmer war. Er wartete, bis sie über ihrem Strickzeug eingeschlafen war. Tante Beatrix strickte, weil ihre Kolleginnen strickten, nicht, weil sie das Handarbeiten interessierte, es war fraglich, welche Tätigkeit sie wirklich begeistern konnte, sie sah gerne fern, ließ sich gerne berieseln, wie sie es nannte, und vielleicht war ihr Liebstes ganz schlicht der sorgloseste Zustand von allen: der Schlaf. Schwer atmete sie und wohlig ein und aus, ein paar fehlerhafte Reihen waren aufzutrennen, einige Maschen wiederaufzunehmen, damit die Kolleginnen nichts an ihrer Arbeit würden bemängeln können, Pax brachte ihr angefangenes Strickteil in Ordnung, Lochmuster für den Sommerpulli, er legte Tante Beatrix das Strickzeug zurück auf den Bauch, bevor er sich hinausschlich und den Lichtschalter drehte, der wie eine Küchenuhr im Treppenhaus tickte, während die Feder den Schalter langsam in seine Ausgangsposition zurückzog. Endlich konnte Pax den Bärtigen aus der Nähe betrachten, wie ein Tier schnupperte er an dem Mann, der stank nach etwas Saurem, das an altes Bier erinnerte – aus seiner Nase hing ein langer, mit Blut vermischter Rotzfaden, er trug ein Stirnband, eine kurze Lederjacke, die den Blick auf einen Nierengurt freigab, und eine Motorradhose, von einem Gürtel gehalten, den ein Stierkopf zierte. Neugierig besah Pax sich die ausgebeulte Stelle darunter und ließ den Blick weiter wandern, über die in dunkelrotem Leder abgesetzten und verstärkten Knie, die Waden entlang bis zu den Stiefeln, weiter über die gepolsterten Schultern, die Arme, die Handgelenke, am rechten ein Band mit Nieten, am linken eine digitale Armbanduhr, eine wie Pax sie sich lange schon wünschte. Vielleicht war der Bärtige tot. Pax kniete sich neben ihn und nahm ihm die Uhr ab, darauf bedacht, dass der Nachbar nicht in einer Art Todeskampf nach ihm greifen und ihn festhalten konnte, er beeilte sich, mit seiner Beute schnell wieder hinein und hinter den Türspion zu kommen.
Das Licht hielt sechzig Sekunden, und kurz bevor es erlosch, sah Pax Mutter, Vater und seinen Bruder John im Treppenhaus auftauchen. Nicht so, als wollten sie zu Tante Beatrix herein, sondern völlig unbewegt, der Vater mit großer Sonnenbrille in einem buntbestickten weiten Hemd der Mutter zugewandt, wie Schaufensterpuppen, die man vor Jahren im Abstellraum untergebracht und nun wieder herausgetragen hatte, und die umzukleiden noch keine Zeit gewesen war. Seine Mutter hatte lange, dunkelblonde Haare zu goldbraunen Augen, sein Vater war dunkler, kurzhaarig mit Augen wie Baumharz. Oder sein Vater hatte lange Haare, hell, um stechend grüne Augen, seine Mutter trug mal Zöpfe, hennafarbene oder schwarze, mal lockiges, mal glattes Haar über den graublauen Augen. Sein älterer Bruder aber war das Kind, das mit ihren Zöpfen spielte, wer und wo immer sie waren.
Der Bärtige auf dem Boden regte sich nicht und schien sie auch nicht im Geringsten zu interessieren, jetzt wechselte das Licht hinter dem Türspion, als drehte jemand beliebig an den Belichtungseinstellungen eines Fotoapparates, mal traten die Figuren hell hervor, dann wieder der sie umgebende Hintergrund, das Treppenhaus mit der Tür gegenüber, darauf das Türschild aus gebranntem Salzteig, Döberlein – Mutter und Vater erstarrten, einzig sein Bruder bewegte sich, ein gelbes Metallfahrzeug in Händen, Mehl hatte er über die steinernen Treppenstufen geschüttet, Schnee, durch den sich mehrere Spielautos kämpften und Spuren hinterließen. Es wurde schwarz hinter dem Türspion, das Quietschen der Räder verstummte, er hörte Mutter und Vater darüber diskutieren, ob die Spuren, die John gezogen hatte, gelungen seien, ob sie als Kunst gelten konnten, vorsichtig öffnete Pax die Tür, die Finger seiner linken Hand tasteten über die Oberkante des Streifens aus gelbgrüner Schutzfarbe, führten ihn durch das Dunkel des Treppenhauses an dem Liegenden vorbei. Er drückte die Klingel, dreimal kurz, ein Zeichen ohne Vereinbarung, das vielleicht bedeuten konnte, dass etwas Besonderes vorgefallen war, eins-zwei-drei, er beeilte sich, zurück hinter den Spion zu kommen, sah schließlich die Tür gegenüber aufgehen, Herr Döberlein im Gegenlicht, im Pyjama mit verquollenen Augen, dahinter seine Frau, auf dem Boden den Bärtigen, das Licht ging aus und wieder an und wieder aus und an, und irgendwann waren da Sanitäter zu sehen. Tante Beatrix schnarchte leise, Pax verabscheute es, wenn ihr Schnarchen ihm ihren Rhythmus aufzwang, und er mochte es gern, weil er so in der ganzen Wohnung wusste, dass sie da war. Er spielte Stoppen mit seiner neuen Digitaluhr, drückte die Knöpfe, so schnell er konnte, um möglichst wenig Zeit auf dem Display zu haben, Start-Stop-Ergebnis, Start-Stop-Ergebnis, wieder und wieder, und jedes Mal gab die Uhr dabei drei Pieptöne von sich, Tante Beatrix würde aufwachen wie immer, sie würde sagen, da bin ich wohl einfach auf dem Sofa eingeschlafen, Pax wollte gerne, dass sie es bemerkte, dass sie darauf aufmerksam wurde, dass er die Digitaluhr gestohlen hatte, er hielt die Uhr nah an ihr Ohr, Start-Stop, zwei Pieptöne lang die Vorstellung, wie es sein könnte, sich zu ihr zu legen – er traute sich nicht, Start-Stop-Ergebnis, Start-Stop – Tante Beatrix erschrak –, sie erschrak immer, wenn sie aufwachte, was war so außergewöhnlich daran, jeden Tag auf dem gleichen Sofa aufzuwachen, auf dem ihr Stunden zuvor die Augen zugefallen waren, da bin ich wohl einfach auf dem Sofa eingeschlafen, sagte Tante Beatrix, ignorierte die Digitaluhr, stand auf und verschwand im Badezimmer.