Читать книгу Pax - Eva Roman - Страница 5
ОглавлениеTROTZ ALLEDEM – ich glaube an mein Vaterland, das aus der tiefsten Not noch stets den Weg nach oben fand, da kniete der steinerne Soldat, gestiftet vom Kriegerverein Blauenklingen, den Stahlhelm auf den Knien, grün vom Moos. Pax hatte Tante Beatrix an diesem Augusttag auf den Friedhof begleitet, bleib mal stehen, sie drückte ihm ihre flache Hand an die Stirn, du glühst ja, sagte sie, und deutete auf die Schildmütze in seiner Hand, warum er die nicht aufsetzen wollte? Dass er sie doch eben erst in der Frühmesse hatte abnehmen sollen, und warum überhaupt die Männer in der Kirche die Kopfbedeckungen auszogen und die Frauen nicht? Tante Beatrix zuckte mit den Schultern, was du für Fragen stellst, und das schon um die Uhrzeit, sie fächelte sich etwas Luft zu, bevor sie noch einmal die Temperatur seiner Stirn überprüfte, die Schuhe bleiben trotzdem an, Max, sie sah sich um, aber niemand, nur die Soldatenfigur konnte beobachten, dass ihr Neffe barfuß auf dem im Schatten noch feuchten Kies stand. Tote tragen auch keine Schuhe, sagte Pax, doch, sagte Tante Beatrix, man legt sie mit Schuhen in den Sarg, und dass er das doch kürzlich erst bei der Großmutter gesehen hatte im Leichenschauhaus. Du rennst doch jedes Mal mit Leni hin. Pax nickte, stimmt, sagte er, um nicht zugeben zu müssen, dass er die Augen immer fest zugepresst hielt, sobald sie sich dem Schaufenster näherten, hinter dem die Leichen aufgebahrt waren. Angsthase, sagte er zu Leni, wenn er sie aufgeregt kichern hörte, bevor sie davonliefen.
Ein paar Kieselsteine waren an seinen Sohlen kleben geblieben und piksten ihn jetzt, während Tante Beatrix und er die Kapelle ansteuerten, im Frühjahr hatten sie für die Toten Narzissen und Tulpen in Oma Peschkas Garten gepflückt, jetzt, im Sommer, banden die Frauen aus dem Ort Kräuterbuschen, die zu Maria Himmelfahrt geweiht wurden und hinterher in der Kapelle gegen eine Spende zum Mitnehmen auslagen. In die Mitte der Sträuße gehörte eine Wetterkerze, gegen Gewitter, um sie herum Getreide und Kräuter, dann farbige Blumen, ganz außen einige Haselnussblätter. Weißt du warum?, fragte Tante Beatrix. Weil die Mutter Gottes bei einem Gewitter mit dem Jesuskind unter einem Haselnussstrauch Schutz fand, sagte Pax. Ach du weißt ja doch schon alles, Tante Beatrix tastete in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie, du hast deine Kappe ja noch immer nicht auf, wiederholte sie. Gleich, sagte Pax, weil er gerade dabei war, die lilafarbenen Blumen auf ihrem Kleid zu zählen, er begann mit den Blüten auf ihrem Gürtel, zählte weiter die Rippen entlang, bis zu ihrer linken Brust. Die runden Male auf ihrem nackten Oberarm fielen ihm auf, sie waren blasser als die sie umgebende Haut, diese hässlichen Impfnarben, sagte Tante Beatrix, als sie seinen Blick bemerkt hatte, sei bloß froh, dass man das heute nicht mehr so macht. Hat sicher wehgetan, sagte Pax, Tante Beatrix nickte, und jetzt Schluss und auf mit der Mütze, los, mir zuliebe. Aber sie gefällt mir nicht mehr so gut, sagte Pax und vergaß dabei das Ergebnis seiner Zählung, sie sieht nach Kleinkind aus. Ob er lieber einen Sonnenstich riskieren wollte? Wieder fasste sie an seine Stirn, heute ist Sonntag, da hat die Apotheke zu und dann kann dir keiner mehr helfen. Tante Beatrix wartete, bis Pax endlich gehorchte, bevor sie in ihr Portemonnaie sah, ach Mist, nur ein Fünfer, das ist mir doch zu viel, wo die Frauen die Sträuße sowieso bloß in ihren Gärten pflücken, wir bezahlen nächstes Mal, komm jetzt. Zur Sicherheit drehte Tante Beatrix sich noch einmal um, bevor sie nach einem besonders schönen Exemplar griff, bald nehmen wir sowieso Herbstblumen aus dem Garten, Astern oder Chrysanthemen oder die orangen Lampionblumen.
Pax legte den halben Strauß für Opa an den Gedenkstein mit der Inschrift Den lebenden Toten, das sagt man so, wie in dem Gedicht neulich im Radio, wie ging das nochmal, in der Nacht und dann ist es auch wieder gleichzeitig Tag und du weißt schon, fragte Tante Beatrix – dunkel wars, der Mond schien helle, sagte Pax, ja, genau, Tante Beatrix nickte. Die Wetterkerze blieb bei den Gefallenen, die Haselnuss kam mit der anderen Hälfte des Straußes zu Oma, damit hatten sie ihr Bestes getan gegen die Gewitter. Am Grab öffnete Pax gleich das Weihwasserbecken, das wie eine übergroße Zuckerdose mit einem Deckel vor Verunreinigungen geschützt war, vor den Vögeln, die es bei der Hitze als Bad missbrauchen würden. Eine abgeschnittene Flaschenbürste diente dazu, das Weihwasser zu sprengen, im Winter fror sie ins Eis, und wenn es wärmer wurde, konnte man mit ihr einen gefrorenen Würfel aus dem Becken ziehen. Jetzt sprengte Pax großzügig die graue Marmorplatte, die schon in der Sonne lag, er sah den Tropfen zu, die wie von Zauberhand über den verwitterten Namen der Urgroßeltern und über Großmutters glänzenden Goldbuchstaben verdunsteten. Wer kein Grab hat, der ist nicht sicher tot, sagte Pax, und weniger als eine Feststellung waren seine Worte eine Frage, die Tante Beatrix mit nichts weiter als einem tiefen Atemzug quittierte. Stell dich doch lieber in den Schatten, sagte sie jetzt, du bist ja schon ganz rot im Gesicht. Immer hielten sie am Grab einen Moment inne, nur einige Sekunden, eben genau so lange, bis Tante Beatrix es nicht mehr aushielt und mit Bestimmtheit sagte, da wo Großmutter jetzt ist, da hat sie es gut, noch bevor die Wirkung der Stille eintreten konnte und bevor sie ins Nachdenken gerieten, fuhr sie fort, jetzt wird gegossen, oder, so ein Glück, dass wir nicht gießen müssen, ob wir heute noch gießen müssen, oder wir gießen noch, das kann heute nicht schaden. Da wo deine Eltern und dein Bruder jetzt sind, da haben sie es gut, sagte Tante Beatrix. Kurz überlegte Pax, weiterzufragen, wie sie das denn wissen konnte, bevorzugte dann aber die Vorstellung, dass er sich um die Eltern und den Bruder keine Sorgen zu machen brauchte, dass sie nicht kalt geworden waren wie Großmutter, dass man sie nicht hässlich geschminkt und wie aufgequollene Puppen präpariert hatte, sondern dass sie eben verschwunden waren, so wie Tante Beatrix es ihm damals erklärt hatte: In Afrika wollten sie Weihnachten feiern, weil es da nicht immer so scheußlich grau ist wie hier im Winter, und weil er damals noch so klein war, hatten sie nur seinen älteren Bruder mitgenommen, es ist ja auch nichts für ein Kleinkind, so eine Reise, und es war auch nicht so viel Platz in dem ausgemusterten Postbus. Die genauen Umstände ihres Verschwindens hatte Tante Beatrix vergessen, das war jedenfalls alles lange, bevor du denken konntest, und dass sie nicht wiederkommen würden, leider, sie kniff ihn etwas ungeschickt in die Schulter, bevor sie eine Kiefernnadel von der Marmorplatte pickte, manche Dinge konnte man eben nicht ändern, aber immerhin, man konnte zum Trost ein Eis kaufen, bei dieser Hitze.
Ob denn die Blumen auf dem Grab seiner anderen Großeltern kein Wasser brauchten?, fragte Pax auf dem Weg zu dem gemauerten Becken, in das sie die Kanne tauchten. Tante Beatrix schüttelte den Kopf, das ist irgendwo ganz weit weg, da gießt jemand anderes, sagte sie so bestimmt, dass er, statt sie weiter mit seinen Fragen zu belästigen und dabei vielleicht noch den Eindruck zu erwecken, ihre Anwesenheit allein genügte ihm nicht, lieber zustimmend nickte. Er hätte sie gerne auf dem Weg zurück an der Hand gehalten, er fand sie schön in ihrem Sommerkleid, er neigte seinen Kopf etwas, stellte sich vor, dass es tröstlich sein könnte, ihn an ihre Armbeuge zu schmiegen, sie aber machte keine Anstalten, und er wollte nicht aufdringlich sein, immerhin opferte sie sich genug für ihn auf, sie hatte sich gegen ein eigenes Leben entscheiden müssen, nur seinetwegen, weil sie ihrer Schwester vor der Reise nun mal versprochen hatte, immer gut für ihn zu sorgen, sie erzählte ihm das oft, und auch die Nachbarn oder Tante Beatrix’ Kollegen betonten es häufig, als wäre Pax ihr nicht auch so, von ganz alleine dankbar für jeden einzelnen Moment ihrer Lebenszeit, die sie ihm schenkte, und sie tat ihm leid, denn ihr Leben ohne ihn wäre vermutlich so irrsinnig viel schöner gewesen, nur sagte sie nicht etwa, ohne dich würde ich selbst eine Weltreise unternehmen, oder, ohne dich wäre ich Pilotin geworden, ohne dich hätte ich die Revolution angezettelt, oder, ohne dich würde ich längst zum Mond geflogen sein, sie sagte nur, ohne dich hätte ich mehr Geld im Portemonnaie, das war ihre einzige Idee von dem Leben ohne ihn, in dem sie vielleicht auch im Kaufmarkt gestanden hätte, so wie jetzt. Meist arbeitete sie vormittags an der Fleischtheke, bis auf Donnerstag, da war sie ganztags im Markt, und Pax besuchte sie manchmal, in der Hoffnung auf eine Scheibe Gelbwurst oder ein paar abgelaufene Süßigkeiten. Ach weißt du, fiel es Tante Beatrix am Eisentor mit den vergoldeten Zinnen ein, das vom Friedhof zurück auf die Straße führte, ich bezahle den Buschen lieber doch, warte hier, und er sah sie eiligen Schrittes zurück zum Opferstock in der Kapelle hasten.
Auf dem Heimweg wurde Pax schwindelig, sein Gesicht unter der Schildmütze brannte, leg dich mal auf dein Bett, sagte Tante Beatrix zuhause, bevor sie als Erstes zu ihrem Medizinschränkchen im Badezimmer lief und mit dem Fieberthermometer zurückkam. Sie schüttelte den Glaskolben und kontrollierte die Anzeige, hier, steck dir das mal unter die Achsel – wenn ich wiederkomme, lesen wir ab.
Siebenunddreißig, sagte Tante Beatrix, und ein halbes Grad dazu – ob er den Oberarm auch richtig angelegt hatte? Nochmal zur Kontrolle, sie schüttelte wieder. Diesmal presste Pax die Arme an den Körper und versuchte dabei, die Styroporplatten an der Decke zu zählen und danach die rautenförmigen Ornamente darin und endlich noch die Blättergirlanden innerhalb der einzelnen Rauten.
Endlich kam Tante Beatrix wieder zurück, sie trat ans Fenster und hielt das Thermometer ins Licht, leicht erhöht, und jetzt mach mal die Augen zu, hast du Kopfschmerzen? Ein bisschen, behauptete Pax, tatsächlich war ihm heiß, und der kühle Waschlappen, den sie ihm auf die Stirn legte, tat gut. Tante Beatrix zog ihm Hose und Socken aus, das muss ja alles längst in die Wäsche, sagte sie, und sorgsam umwickelte sie Pax’ Unterschenkel mit feuchten Handtüchern, und jetzt versuch ein bisschen zu schlafen, ich komme dann wieder und wechsle die Lappen. Ausgerechnet sonntags muss der krank werden, wo kein Mensch erreichbar ist, hörte er sie im Flur laut vor sich hinsprechen, draußen rauschte der Wind durch die Blätter, das nasskalte Gefühl an seinen Beinen erinnerte ihn an die Zeit, als er noch hinten bei Tante Beatrix auf dem Fahrrad mitgefahren war und seine Füße manchmal zwischen die Speichen des Hinterrades und den Fahrradrahmen geraten waren. Am schlimmsten war es auf dem Weg zum Freibad gewesen, dann hatte er den ganzen Rückweg geweint, nicht, wie Tante Beatrix angenommen hatte, wegen der schmerzenden Füße, sondern wegen des verpassten Sommernachmittags. Die kalten Wickel waren dann kein Trost. Wenn es aber kühler war, hatte er so manchen Unfall nur vorgetäuscht. Die Füße in die Speichen gehalten und die Augen fest geschlossen, bis sie dann gequetscht wurden und Tante Beatrix sich um ihn kümmern musste.
Mir ist schlecht, rief er jetzt laut, aber Tante Beatrix, die noch nicht aus der Tür war, kam zu spät mit ihrem Eimer. Dass er nächstes Mal früher was sagen sollte, da macht man was mit. Nachdem sie alles aufgewischt hatte, kam sie mit Cola, Salzstangen und Genesungswünschen von Oma Peschka zurück, aber nur schlückchenweise trinken, sagte sie, und als sie Pax’ reumütigen Blick bemerkte, schon gut jetzt, dass er eben in Zukunft einen Sonnenhut aufsetzen sollte, ich hab es ja gleich gesagt, aber du wolltest ja nicht hören.