Читать книгу Pax - Eva Roman - Страница 8

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DÖBERLEINS VON GEGENÜBER wussten, dass Tante Beatrix jede Art von nachbarschaftlichem Kontakt, der über die Leihgabe von Leseheften, Kaffeefiltern oder Eiern hinausging, als potenzielle Bedrohung empfand. Trotzdem ließen sie sich in letzter Zeit nicht davon abhalten, sich um Pax zu bemühen, bis Tante Beatrix, nachdem er ihr erzählt hatte, dass Frau Döberlein ihre zwischen zwei helle Semmelhälften eingepressten Schaumküsse aus dem Kaufmarkt ungesund fand, feststellte, dass diese Leute, wie alle Lehrer, alles besser wüssten, ich gehe zu Herrn und Frau Siebengescheit, sagte Pax von nun an, um Tante Beatrix zu beruhigen, damit sie sich durch seine Besuche bei den Nachbarn nicht zurückgesetzt fühlte. Öfter schon war ihm aufgefallen, dass sie, wenn er zurückkam, allein im Halbdunkel auf dem Sofa saß, pass nur auf, sagte sie dann, vielleicht behalten sie dich gleich da. Darauf war Pax selbst noch nicht gekommen, aber nichts war einleuchtender, tatsächlich konnte Tante Beatrix ihn mit der bloßen Aussicht, man könne sie beide trennen, sofort gewinnen. Von nun an bog er in eine Seitenstraße, huschte hinter eine Mülltonne oder versteckte sich anderweitig, wann immer er Döberleins nur von Weitem sah. Er stellte sich vor, dass sie nach der Schule in einem Kleinbus unterwegs waren, wie der Hundefänger in einem seiner Kinderbücher, mit einem großen Kescher auf Beutezug, und als er einmal nur in letzter Sekunde noch hinter eine Hecke verschwinden konnte, war ihm, als hätten sie ihn bemerkt. Sie blieben stehen, sahen in seine Richtung, und bald darauf hielt Tante Beatrix, zusammen mit einigen Briefen, eine an Pax adressierte Karte in den Händen, Post von Herrn und Frau Siebengescheit, rief sie, und Pax setzte sich zu ihr auf das Sofa. Er gab sich Mühe, besonders holprig vorzulesen, obwohl er neulich im Kaufmarkt schon heimlich versucht hatte, einen Artikel mit dem Titel Seuche Aids zu verstehen. Vor Angst hatte er Gänsehaut bekommen, noch mehr, als er zuhause versucht hatte, die Krankheit im Lexikon nachzuschlagen, unter A und unter H, in Tante Beatrix’ Reihe aus den siebziger Jahren aber war noch nichts verzeichnet.

Viel-leicht has-t Du ja mal wie-der Lust vorbei-zu-kom-men. Mikesch ver-m-

Vermisst, sagte Tante Beatrix spöttisch, das arme Tier wird dermaßen vermenschlicht, was denn genau vermisst bedeuten würde, fragte Pax. Vermisst ist, wenn man etwas verloren hat, man gibt dann eine Vermisstenanzeige auf. Wenn zum Beispiel Herr und Frau Siebengescheit dich mithilfe der Katze in ihre Wohnung locken und dort in den Schrank sperren, dann muss ich dich erst überall suchen und später zur Polizei gehen und das melden. Dann muss ich überall Zettel aufhängen mit deinem Foto darauf, ob dich jemand gesehen hat, der Hämmerle aus dem Kaufmarkt muss dann eine andere Frau einstellen, weil ich keine Zeit mehr habe, ich verliere dann die Arbeit und die Wohnung, und du findest mich nicht mehr.

Würdest du dann weinen müssen? fragte Pax.

Das kannst du dir doch denken.

Pax war danach nie wieder bei Döberleins, aber oft unten bei Oma Peschka. Es roch dort immer nach Sauerkraut, und es gab ein Schachspiel mit goldenen und silbernen Figuren, über die er kleine Salzbrezeln warf – er durfte aber nicht das Brett verfehlen, und alle Geschosse mussten zwingend aufgegessen werden. Oma Peschka konnte es nicht ertragen, wenn Essen auf den Boden fiel. Pax musterte Opa Peschkas Porträtfoto auf der Anrichte, die Peschka hatte es wie immer gründlich abgestaubt, frische Blumen danebengestellt und eine Kerze in einem Glasbehältnis, in das ein Kreuz geschliffen war. Von draußen konnte man es manchmal im Halbdunkel verzerrt an der Wohnzimmerwand schimmern sehen, schau, die Peschka hält wieder ihre Andacht, sagte Tante Beatrix dann. Im Advent stellte Oma Peschka ihre erzgebirgischen Holzfiguren neben das Bild und ein Räuchermännchen, das Tannen- oder Weihrauchduft ausatmete. Pax hielt gerne das Streichholz an die Räucherkerzen, Opa Peschka konnte wirklich nicht tot im Schnee gelegen haben, dachte er dabei, so liebevoll wie Oma Peschka jetzt noch sein Foto umsorgte.

Backen zählte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Zu Fasching machte sie jedes Jahr Krapfen und befüllte sie wahlweise mit Senf oder Marmelade, hatte eines der Kinder Senf erwischt, so aß die Peschka den restlichen Krapfen, und es war erlaubt, sich einen neuen zu nehmen. Diesmal biss Pax verwundert auf den Haupttreffer, ein in Klebeband gewickeltes Zweimarkstück, von dem er Tante Beatrix als Trost für seine Abwesenheit eine Hyazinthe kaufte.

Manchmal lud ihn Oma Peschka zu Heidelbeerpfannkuchen ein, bei ihr hießen sie Eierkuchen mit Blaubeeren, sie sagte auch Erdäpfel statt Kartoffeln, Tunke statt Soße und Leni ist unter der Brause statt Dusche, wenn er einmal wieder an der Tür stand, um zu fragen, ob er mit Leni Verkleiden spielen durfte.

Die Truhe mit den Kostümen war aus Sperrholz, rot und gelb lackiert, darin die abgelegten Kleider von Oma Peschka, Schmuck aus dem Keller, ein paar Faschingskostüme und der Duft nach Mutters Parfum. Anfangs hatte Pax großzügig ein paar Stöße über die Stoffe gesprüht, später ging er sparsamer damit um, benetzte manchmal sein Handgelenk, oder roch nur vorsichtig an dem goldenen Zerstäuber, der wie ein Docht in eine Petroleumlampe in das dunkelrote Glas des aufwendig gestalteten Flakons führte. Normalerweise, wenn Leni und er sich Kleider und Schmuck aus der Truhe gesucht, wenn sie den Deckel wieder verschlossen hatten, verlor sich der Geruch nach einer Zeit, heute aber war es, als stünde Mutter hinter Pax und sähe ihm über die Schulter, er drehte sich um, da war sein Vater und meinte, er hätte heute gute Lust, einmal den Mond anzuheulen, und Mutter, John an der Hand, sprach davon, Organismen zu sehen, schau doch, sagte sie zu Pax, und tatsächlich, im Flakon ihres süßen Parfums waren feinste Partikel zu sehen, die sie selbst, den Vater und John miteinander verbanden. Indem sie diese winzigen Organismen ausatmeten und wieder einsogen, fand ein Austausch zwischen ihnen statt, von dem Pax ausgeschlossen war. Mutter deutete nach draußen, und Pax ging zum Fenster, öffnete die Flügel, kletterte hinauf und stellte sich außen auf das Fensterbrett. Mit der Linken umfasste er den Fensterbalken, bevor er das rechte Bein und den Oberkörper über den Garten schweben ließ. Über ihm der Himmel, weit unter ihm die ersten blühenden Büsche. Erst Oma Peschkas Schrei holte ihn zurück, fast wäre er gefallen, ins Rote und Weiße und Rosafarbene. Da war so eine Sehnsucht, in diesem unglaublichen Duft zu vergehen. Tante Beatrix erzählten sie nichts, spielten weiter Schminken mit den Rohrkolben aus dem Garten, die aussahen wie Wimperntuschbürsten. Du musst doch rasieren spielen, murmelte Tante Beatrix verlegen in Richtung von Lenis Eltern, die aber ineinander verwoben wie die Fäden der kaukasischen Kelims, die sie noch am Vorabend auf der Messe für Bodenbeläge bewundert hatten, nur ein abwesendes Lächeln für sie übrig hatten, um die Augen noch dunkle Schatten, Spuren von Graublau und Erschöpfung. Trotzdem, neue Länder brauchten auch neue Bodenbeläge, um blühende Landschaften zu werden, im Lager musste man also dringend Platz schaffen, und die Umgestaltung der Schaufenster stand an, am besten noch vor Ladenöffnung, ob Leni vielleicht doch noch eine weitere Nacht hier bleiben könnte? Lenis Vater sah nicht seine Tochter, sondern Oma Peschka an, während er sich seinen in gleichem Maße grauer und dünner werdenden Zopf neu band.

Wie siamesische Zwillinge, sagte Tante Beatrix später auf dem Weg zum Hallenbad und leiser, dass man sonst bei Männern mit solchen Frisuren ja nicht so recht wisse. Jeder trug einen Henkel der Badetasche auf den Hügel am Rand von Blauenklingen hinauf, wo die Schwimmhalle hell in der dämmerigen Landschaft stand, an den Scheiben große Aufkleber, schwarze Vögel, wie sie auch über die Fenster der Schule flogen. Im Bad teilten sie sich auf, links die Männer, rechts die Frauen, Pax fröstelte, als er aus der warmen Dusche in die Schwimmhalle kam. Tante Beatrix war schon im Becken, sie schwamm immer gleich, aufrecht, die Haare im Nacken mit einer Klammer hochgesteckt, dieselbe Bahn auf und ab, während Pax vom Beckenrand ins Wasser sprang, so lange, bis jemand ihn ermahnte und er sich in das Kinderbecken zurückzog, wo er etwas schüchtern zu ein paar Gleichaltrigen hinübersah, zwei kannte er vom Sehen. Er tauchte ab, um die Lampe herum, mit den Füßen schlug er Luftblasen, bestaunte sie unter Wasser im Gegenlicht, schaute sich um, sah einen roten Ring vor sich in die Tiefe sinken und brachte ihn nach oben. Am Beckenrand stand der Bademeister, gebräunt unter seinem weißen Hemd und zwinkerte ihm zu, aber zurückbringen, sagte er, und Pax nickte stolz, warf den Ring, tauchte ihm nach, bis er irgendwann Tante Beatrix’ Beine sah, er zog ein wenig am linken, nur zum Spaß. Nicht, sagte sie, als er wieder auftauchte, allein der Gedanke, unter Wasser zu geraten, ließ sie panisch werden. Keine Angst, sagte er, und schlug vor, komm wir spielen Baby. Für einige Sekunden durfte er Tante Beatrix auf dem Arm halten, sie lag im Wasser, leicht, er trug sie ein Stück, fühlte die rauen Fugen zwischen den Kacheln unter seinen Zehenspitzen, sah, wie das Wasser sich um ihre Schultern brach, um ihre Knie, ich bekomme Krampfadern, sagte sie, da schau, das tut weh. Für einen kurzen Moment dachte er daran, sie unterzutauchen, erschrak dabei über sich selbst, drückte sie ungeschickt an sich, aus einem plötzlichen Überschwang an Liebe. Dass sie auf ihre Beine zurückwollte, sagte Tante Beatrix, und er fand, dass sie gut roch, merkte ihren Widerwillen und ließ sie los.

Später saßen sie zusammen vor dem Fernseher und aßen Brote mit Leberwurst, Tante Beatrix gähnte, und Pax war ganz ruhig, Schwimmen macht müde, würde sie gleich sagen, fürsorglich nahm er die Kamelhaardecke und breitete sie über ihr aus, damit sie nicht wieder krank würde.

Pax

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