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PROTEUS (Gott der Gezeiten) - Der Gestaltenwandler

Sein Gesicht sah mich an aus dem Spiegelglas, das Fremde in mir, das Unbekannte. Ich erkannte mich nicht, hatte mich vergessen, war gefangen im Käfig meiner Gene. Die Stimme des Blutes, sie war gebrochen, dennoch rief sie mich laut, in meinen Träumen. Ich hörte ihn, meinen alten Namen, der ausgelöscht war und doch in mir schlief. Die Angst war es, die mich ihn vergessen ließ, die Angst, vor der meine Mutter floh, vor Proteus‘ tausend Gesichtern des Zorns. Die Flut seiner Macht, sie war gefährlich, er lenkte sie nicht, sie schwemmte ihn fort. Der Dämon in ihm war zügellos, ohne Gewissen und ohne Verstand. Nach dem Sturm aber war er ein Magier, ein Zauberer der Gefühle.

Er zog die Menschen in seine Welt, in Proteus‘ Kreislauf der Gezeiten. Im Märchenreich seiner tiefen Wasser war er ein großer, ein strahlender Herrscher. Dennoch war er allein unter vielen, die ihn umringten in seinem Zuhause. Seine Burg kannte keine verschlossenen Tore, sie war stets offen, eine Heimat für alle, aber er fand keinen Frieden in sich, in seinem Leben, in seinem Haus.

Die Tochter, die er verloren hatte, weil er zerstörte, was er liebte, sie fand ihn wieder und war doch eine Fremde. Sie begegnete ihm wie der Geist eines Lebens, das er vor langer Zeit begrub. „Ich wollte vergessen, dass es dich gibt“, das sagte er, doch das konnte er nicht. Mich, die er verspielte, verkaufte, um den Preis des bezahlten Unterhaltsgeldes, das er verlangte, aus Stolz, aus Zorn. Als könnte er mein Sein auslöschen, indem er mich hergab, wie Besitz - an den anderen Mann, der mein Vater sein wollte. Dieses Kind, das er raubte, diese Tochter der Sturmflut, dieses Zeugnis der Welt, die im Schmerz versank. Ich bin die Freude und der Verlust, ich bin Himmel und Hölle seines Herzens. Mit mir kehrte die Liebe heim, die er einst aus seiner Welt verbannte. Doch auch die Saat des Zorns trage ich mit mir, seine tiefe Schuld in den Schatten Zeit. Sein Kind bin ich und bin es doch nicht mehr, ich bin Wunde und Narbe seiner Seele. Das Monster in ihm kann ich nicht mehr finden, er hat es gebannt, gezügelt, vergraben. Vor mir steht ein gebrochener Mann, der dennoch stolz ist wie ein König, kraftvoll und trotzdem so verloren, so suchend, sein ganzes Leben lang, so wie ich, mein Blut, meine Gene. Ich sehe ihn weinen am Grab der Frau, die er so unendlich geliebt hat, die er dennoch forttrieb von sich, weil es schwer ist, an seiner Seite zu bleiben. Doch er ist es, der niemals da ist, nicht greifbar und trotzdem so mächtig. Er lässt alles um sich verblassen, nimmt jeden Raum, jeden Menschen ein, ein Nomade ist er, nirgendwo zuhause.

Dennoch gibt er jenen alles, die er einlädt in sein Reich. Sein Leben war stets ein rauschendes Fest, die Menschen strömten in sein Heim, weil es immer etwas Besonderes war. Wenn er tanzt, erwacht der Zigeuner in ihm, seine Augen leuchten, er lacht, er ist frei. Ich sehe so viel von mir in ihm, als wäre ich vorher nicht ganz gewesen, als hätte jemand ein Teil meines Herzens zurück in meine Brust gelegt. Es war der dritte Schicksalsengel, der es am Tag nach meiner Geburt ganz behutsam an sich nahm, um es zu beschützen, damit es nicht brach, bis ich meine Wurzeln fand. Ich weiß, dass dieser Teil meines Herzens ebenso strahlend wie finster ist. Sein unbeherrschbares, stolzes Wesen, es lauert in mir, es will atmen, will leben. Ich weiß, dass ich es lenken muss, denn es ist mächtig, es ist gefährlich.

Die stürmische Flut ist stiller geworden, sie ruht an den Ufern des Neubeginns. Ich, die einzige Tochter des Proteus, trage den Funken der Liebe in ihm hinein in das Feuer, das er einst ertränkte, um zu vergessen, um ein anderer zu sein. Ohne ihn wäre ich nicht hier, auch wenn wir niemals Familie waren. Die Schatten unserer Vergangenheit, sie sollen hell erleuchtet werden. Ich gebe den Schmerz und den Zorn in die Flammen - um ihn zu verwandeln, um frei zu sein.

Zigeunerkind

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