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Zwischen Motz-Bar und Sprechsaal

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Die japanische Pension Matsushita in Berlin lag auf der Motzstraße zwischen Viktoria-Luise- und Nollendorf-Platz. Es war ein buntes internationales Viertel mit Theatern, Cafés, Läden und Travestie-Lokalen, die von Homosexuellen beiderlei Geschlechts besucht wurden. Unten im Haus befand sich eine Bar, die »Motz-Bar«, gleich nebenan das »Café Imperial«, in dem man manchmal einen Herrn namens Rudolf SteinerSteiner, Rudolf, den Begründer der »Anthroposophie«, sehen konnte. Mit seiner Frau, einer Schauspielerin, wohnte er seit Jahren auf der Motzstraße, wo es ihm offenbar gut gefiel. Gelegentlich spazierte auch die Dichterin Else Lasker-SchülerLasker-Schüler, Else, »Prinz von Theben« genannt, in ihren exotisch bunten Gewändern vorbei, denn das Hotel Koschel im Haus Nummer 78 war ein beliebter Künstlertreffpunkt, in dem es billige Zimmer auf Kredit gab.

Auf Dauer brauchten Dora und MaxPollak, Max natürlich eine richtige Wohnung, in der sie ihr Klavier, ihre Bücher und ihren Hausrat unterbringen konnten. Zur Hochzeit waren sie großzügig beschenkt worden: mit Bildern, Sitzmöbeln, Schränken, Glas, Porzellan, Teppichen, alles von erlesener Qualität. Dora war an einfache Wohnverhältnisse gewöhnt. Aber MaxPollak, Max hatte es gerne etwas luxuriöser. Seine Verwandten pflegten in noblen Villen zu leben, ob in Brünn oder in Bielitz. Es musste also etwas Adäquates beschafft werden, in der Emser Straße 22 in Wilmersdorf, ein vornehmes Domizil mit »dekorativen Stuckverzierungen, charaktervollem Parkett, weißen Sprossentüren« und einem »verglasten Erker«, das »perfekte Zuhause für Ästheten und Repräsentanten, die sich in herrschaftlichen Räumen wohl fühlen«.[166] Anders als auf der Motzstraße, wo alle sozialen Schichten nebeneinander lebten, gehörten die Mieter hier ausschließlich den gehobenen Kreisen an: ein Verlagsbuchhändler, ein Gesangsprofessor, ein Fabrikbesitzer, ein Architekt. Dass die beiden sich diese Wohnung leisten konnten, obwohl niemand von ihnen auch nur einen Pfennig verdiente, lag daran, dass der Vater von Max, Theodor PollakPollak, Theodor am 28. Dezember 1912 »nach langem schweren Leiden sanft entschlafen« war,[167] sodass ein Teil von MaxPollak, Max’ Erbe an der Bielitzer Schrauben-und-Nieten-Fabrik fällig wurde.

Dora und MaxPollak, Max immatrikulierten sich im Wintersemester 1912 erneut für Chemie, wahrscheinlich ohne allzu oft in der Universität zu erscheinen, denn Berlin war einfach zu aufregend. Über zwei Millionen Einwohner, prächtige Kinos auf dem Kurfürstendamm, das neue Kaufhaus Tietz in der Leipziger Straße, die Ausstellung der Sezession mit Werken von LiebermannLiebermann, Max, BeckmannBeckmann, Max, PechsteinPechstein, Max und CorinthCorinth, Lovis, Uraufführung von SchönbergSchönberg, Arnold-Kompositionen, Eröffnung eines neuen Opernhauses in Charlottenburg, fast 50 U-Bahnhöfe, provozierende Stücke von Sternheim am deutschen Theater. Wer sollte sich da noch für Chemie interessieren?

Zu vereinsamen drohten sie auf der Universität allerdings nicht, denn sie fanden viele Kommilitoninnen und Kommilitonen, die aus Galizien, Kärnten, Niederösterreich oder Böhmen kamen. Sie fanden sogar einen alten Freund wieder, Herbert BlumenthalBlumenthal, Herbert. Er war oft in Wien gewesen, weil er dort Verwandte oder Bekannte hatte, die ihrerseits mit den Kellners verkehrten. Später wird er Dora als eine »Wiener Freundin« bezeichnen, die »den gescheitesten und reichsten Mann ihres Kreises geheiratet« habe, was nur zeigt, wie wenig er von ihr wusste. Von ihm stammt der schöne Ausspruch, sie sei damals »eine ehrgeizige Gans« gewesen, »die in den allerneuesten geistigen Strömungen schwimmen wollte«.[168] Doch PollakPollak, Max, ein »Neuropath, unfähig, einen Beruf zu ergreifen«, habe sie sehr enttäuscht. Er habe ein Buch nach dem anderen verschlungen, endlos geredet und sich zu einer »ermüdenden Enzyklopädie für Kunst und Wissenschaft« entwickelt. Diese Beleidigungen hat BlumenthalBlumenthal, Herbert, der sich später Belmore nannte, 1975, elf Jahre nach Doras Tod, niedergeschrieben, wahrscheinlich aus Frustration und verschmähter Liebe.

Damals – 1912 – verstand er sich offenbar noch sehr gut mit ihr. Er war es wohl, der Dora und MaxPollak, Max in den »Sprechsaal« einführte, der im Sommer 1913 in Berlin gegründet wurde. Interessenten sollten sich bei einem gewissen Franz SachsSachs, Franz, Fasanenstr. 74, melden, einem Schulkameraden von Walter Benjamin.[169] Für Dora und MaxPollak, Max muss das sehr aufregend gewesen sein. Denn der »Sprechsaal« war eigentlich eine Wiener Erfindung. Ihr Initiator war ein Kommilitone, eben jener Siegfried BernfeldBernfeld, Siegfried, den sie beide im philosophischen Seminar der Universität kennengelernt hatten, ein hellwacher, rhetorisch hochbegabter junger Mann, der gerade seine Doktorarbeit über den »Begriff der Jugend« schrieb.

Im Wiener »Sprechsaal« wurde leidenschaftlich über Kunst, Literatur, Sexualmoral, Frauen- und Friedensbewegung, vor allem aber über Erziehung diskutiert, ein Thema, das BernfeldBernfeld, Siegfried besonders am Herzen lag. Das Ganze war so spannend und provokativ, dass alsbald nicht nur, wie ursprünglich beabsichtigt, »Wiener Mittelschüler« zu den Versammlungen kamen, sondern auch junge Künstler und Intellektuelle wie der Komponist Ernst KrenekKrenek, Ernst und die Mathematikerin Hilda GeiringerGeiringer, Hilda, eine Absolventin der Eugenie-Schwarzwald-Schule.

Nun gab es eine solche Institution also auch in Berlin. Eine glückliche Fügung für Dora und MaxPollak, Max, wenn der Berliner Sprechsaal auch viel unpolitischer war als der Wiener und weniger auf FreudFreud, Sigmund und MarxMarx, Karl als auf FichteFichte, Johann Gottlieb, NietzscheNietzsche, Friedrich und GeorgeGeorge, Stefan Bezug nahm, vor allem aber auf die »Wandervogel«-Tradition, die eine Reihe völkisch-antisemitischer Elemente enthielt, auch wenn viele Juden unter den Mitgliedern waren. Wortführer war ein Mann, der um diese Zeit schon mittleren Alters war: Gustav WynekenWyneken, Gustav, Lehrer, promovierter Philosoph, Sohn eines protestantischen Pfarrers, der Schulreformer der Vorkriegsära und für einige Zeit geistiger Ziehvater Walter Benjamins, den er in Deutsch und Geschichte unterrichtet hatte. Er war Herausgeber der Zeitschrift Der Anfang, des Organs der Jugendkultur- und Sprechsaalbewegung, das allerdings von zwei wesentlich jüngeren Männern redigiert wurde, Siegfried BernfeldBernfeld, Siegfried in Wien und Georges BarbizonBarbizon, Georges in Berlin. Die Beiträge stammten von jungen Leuten, die sich nirgendwo adäquat vertreten fühlten, weder im Elternhaus noch in Schule, Presse oder Universität.

»Der Anfang ist die einzige Zeitschrift, in der die Jugend völlig unbevormundet zu Wort kommt« hieß es im Juli-Heft 1914. »Der Anfang gehört der Jugend, die sich nach eigener Bestimmung […] in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben zu gestalten sucht.«[170]

Auch Walter Benjamin zählte von Beginn an zu den Autoren. Schon im ersten Heft machte er sich unter dem Pseudonym »Ardor« über einen Deutschlehrer lustig, der zu seinen Oberprimanern gesagt habe:

Weiter als bis KleistKleist, Heinrich von gehe ich mit Ihnen nicht. Modernes wird nicht gelesen! […] IbsenIbsen, Henrik – wenn ich schon det Schimpansengesicht sehe![171]

Obwohl WynekenWyneken, Gustav seine pädagogischen Bemühungen auf »Knaben«, die er über alles liebte, konzentrierte, fanden sich in den Sprechsälen viele junge Frauen ein. An der Zeitschrift Der Anfang wirkten Studentinnen und sogar Schülerinnen mit, die zum Teil herzerfrischend selbstbewusste Beiträge schrieben. Im Januarheft 1914 heißt es zum Beispiel:

Wie können Jungens es wagen, von uns Kameradschaft zu fordern, wenn sie in ihrer egoistischen Passivität und Bequemlichkeit nicht mal auf die Idee kommen, Professoren zu boykottieren, die die Kameradinnen von ihren Collegs ausschließen? […] Die Ehefrau rangiert nach dem heutigen Gesetz neben dem besoldeten Hausgesinde, das ebenso wie sie ungestraft von dem »Herrn« geprügelt werden kann, soweit nicht Körperverletzung im strafrechtlichen Sinn vorliegt. (Das Hausgesinde hat allerdings gegenüber der Ehefrau den Vorteil der Freizügigkeit: die monatliche Kündigung!) […] Fünfhundert Jahre vollständiger politischer, juristischer und sozialer Gleichberechtigung – das ist die unerlässliche Vorbedingung für jedes Debattieren über geistige oder sittliche Verschiedenheit der Geschlechter.[172]

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